Jubilieren gegen Höhenangst

Ich arbeite in meinem Unterricht und in meinen Chören mit Sängern ganz unterschiedlichen Levels. Wenn ich mit Anfängern arbeite, höre ich häufig den Satz: „Ich kann nicht hoch singen.“ Manchmal auch in der Form: „Meine Stimme ist immer so piepsig oder schrill, wenn ich hohe Töne singe.“ Gerade in den letzten Wochen habe ich mich besonders über diese „Höhenangst“ gefreut, denn es gibt kein besseres Mittel dagegen als Jauchzen, Frohlocken und Jubilieren. Und wann könnte man das besser tun, als zur Weihnachtszeit.

Die vertraute Mitte

Jede Tonhöhe geht für mich – je nach Genre nochmal in ihrer Qualität unterschiedlich – mit bestimmten inneren Haltungen einher. Solange wir in unserer gewohnten Sprechlage singen, fühlen sich die meisten Menschen dabei mehr oder weniger wohl. Hier kennen wir die feinen Nuancen, in denen die Stimme sich modulieren lässt und wir sind es gewohnt uns in dieser Lage auszudrücken. Verschiedene Emotionen und die damit einher gehenden unterschiedlichen Klangfarben unserer Stimme sind uns in dem Rahmen vertraut, in dem wir gewohnt sind, diese im Alltag zu zeigen. Unsere deutsche Sprache ist dabei aber lange nicht so ausladend wie zum Beispiel die italienische. Wir benutzen einen viel kleineren Umfang unserer Stimme, schimpfen, johlen, zetern und kieksen weniger als unsere südeuropäischen Nachbarn.

Was wir nicht kennen, können wir nicht

Auch die Weichheit oder Durchschlagskraft unserer Alltagsstimme hat meiner Meinung nach, viel mit den klanglichen Aspekten unserer Singstimme zu tun. Sind wir gewohnt uns im Alltag stimmlich eher bedeckt zu halten, werden wir das beim Singen vermutlich auch tun. Haben wir viel mit Kindern zu tun, z.B. als LehrerInnen und ErzieherInnen, so treten häufig gerade die hellen, durchdringend-schrillen Frequenzen hervor, die auch in Kinderstimmen vorkommen. Arbeiten wir draußen oder sind glühender Fußballfan, so sind wir es vielleicht gewohnt zu rufen und das Singen mit eher rufendem Klangcharakter ist uns vertraut und gibt uns Sicherheit. Wenn wir es nicht gewohnt sind, einen Säugling in den Schlaf zu singen, werden uns weiche, zerbrechliche Stimmklänge in unserer eigenen Stimme vermutlich fremd und von keinem besonderen Wert vorkommen.

Hoch singen ist gefährlich

Das Singen in höherer Lage ist in diesem Zusammenhang eine spezielle Angelegenheit, denn wir benutzen z.B. als Frau die Töne oberhalb von a‘ (zusätzlich natürlich abhängig von der Höhe unserer Sprechstimme) im Alltag sehr selten. Wenn ich meine höhenängstlichen Schüler darauf aufmerksam mache, sind diese meist erleichtert. Woher sollen sie wissen, wie man der Stimme hohe Töne entlockt, wenn sie es im Alltag nie tun? Als Frau seine Stimme so zu erheben, wird je nach Kontext schnell als Hysterie oder Unreife abgetan. Wir exponieren uns mit hohen Tönen ganz besonders und scheuen uns deswegen häufig, diese Stimm-Regionen aufzusuchen.

Vor allem drei Grundemotionen erwähne ich in diesem Zusammenhang immer wieder, um deutlich zu machen, dass hohe Töne eigentlich etwas ganz Normales sind, das wir aber durch unsere Erziehung und auch unsere kulturelle Prägung größtenteils abgelegt haben.

Es sind Jubel, Schmerz und Lust.

Jubel, Schmerz und Lust

Schaut man sich Kinder an, so zeigen diese drei Bereiche völlig offensichtlich, dass jeder Mensch naturgegeben hohe Töne erzeugen kann. Quietschen aus purer Freude über etwas oder sogar aus simpler Lust am Quietschen selbst können schon die Allerkleinsten. An der Tonhöhe des Geschreis meines zweijährigen Sohnes kann ich relativ sicher heraushören, ob er Schmerzen hat, weil er sich verletzt hat, oder schlicht wütend ist. Erwachsene Menschen schreien – abgesehen von einer Geburt – heutzutage jedoch in den allerwenigsten Fällen aus Schmerz. Das Wehklagen aus innerem Schmerz – z.B. dem Verlust eines Angehörigen – ist in unserer Gesellschaft ebenfalls nicht mehr existent. In anderen Kulturen sieht das anders aus.
Lustschreie in den höchsten Tönen erlaubt sich – aus Rücksicht auf die schlafenden Kinder oder Nachbarn oder aus persönlicher Scham – auch längst nicht jeder. Dabei ist es genau das, was es an Energie braucht um hohe Töne – ganz gleich ob Mozart oder Mariah Carey – zu singen und auszukosten.
Das Jubeln ist als emotionaler Ausdruck gesellschaftlich noch am häufigsten präsent. Zumindest in den Jahren, in denen Fußballwelt- oder Europameisterschaften stattfinden, jubelt der ein oder andere und putzt so unbemerkt durch einige der sonst wenig benutzten Resonanzräume.

Voll und ganz klingen ist ein Genuss

In meinen Seminaren, aber auch im Einzelunterricht und sogar von Zeit zu Zeit im Chor, arbeite ich mit Stimmmassagen nach Renate Schulze-Schindler. Das besondere bei diesen Massagen ist, dass derjenige, der massiert wird, während der Massage tönt. Durch Klopfen, Schütteln, Vibrieren, das Spiel mit der Schwerkraft und dem eigenen Körpergewicht nimmt der Massierende Kontakt mit der Stimme des Massierten auf und lockt diese immer mehr, sich zu befreien und völlig ungefiltert zu tönen. Die tiefsten Tiefen werden dabei genauso ausgelotet wie die höchsten Höhen. Wenn ich es schaffe, meine Stimme ganz an die Hände des Massierenden abzugeben, werde ich voll und ganz durchklungen. Gerade die vollkörperlich- klassischen Klänge in der Höhe wirken dabei wie ein „Pfeifenputzer“, der durch alle Resonanzräume fegt und nach der Rückkehr zur Stille häufig noch ein intensives Nachkribbeln hinterlässt. Die Lebendigkeit und Lust beim Tönen in den höchsten Höhen kann ich auch den Menschen, die wie ich hauptsächlich z.B. Pop, Jazz oder Ähnliches singen nur ans Herz legen. Das „Schallern“, wie ich es gerne nenne, öffnet Klangräume, die anders nur schwer zugänglich sind und die das gesamte Klangbild und den eigenen Sound auch in der unteren und mittleren Lage runder, vielfältiger und klangvoller werden lassen.

Weihnachtlicher Jubelgesang

Die meisten von uns haben ein sehr kindlich-freudiges Verhältnis zu Weihnachten. Die Festlichkeit, der Zauber und die durch und durch empfundene Freude ist bei manchen von uns vielleicht etwas verschollen und durch die Sorgen, Nöte und Katastrophen unserer schnellen Welt deutlich gedämpft, aber meistens dringt doch gerade zu Weihnachten, wenn z.B. die alten Weihnachtslieder gesungen werden, ein Funke davon wieder an die Oberfläche. Deswegen ist die weihnachtliche Festzeit genau die richtige Zeit um der stimmlichen „Höhenangst“ etwas entgegen zu setzen.

Denn was gibt es für eine bessere Zeit sich auch als Erwachsener in kindlicher Unbedarftheit zu freuen als die Weihnachtszeit? Wann könnte man besser aus purem, innerem Leuchten heraus seine Freude in die Welt hinaussingen?

Ich jedenfalls möchte, spätestens, wenn am Ende des Weihnachtsgottesdienstes die Orgel mit vollem Register „Oh Du Fröhliche“ schmettert, in den allerhöchsten Tönen jubilieren.

Ich wünsche allen regelmäßigen und unregelmäßigen STIMMSINN-Gedanken-Lesern wundervolle Festtage.

Jauchzet, frohlocket und singt aus ganzem Herzen,

Anna Stijohann