Stille

Nach der letzten Körperklangstunde kam eine meiner Schülerinnen, die noch eher am Anfang ihrer Stimmreise steht, zu mir und sagte, dass sie selten so intensive Stille erlebt hätte. Die Stille am Ende der Abschlussimprovisation habe sie als „viel tiefer“ erlebt als „normale“ Stille. Das klänge vielleicht seltsam, aber ihr sei richtig bewusst geworden, wie viele unterschiedliche Qualitäten von Stille es gibt.

Keine Geräusche

Wie ist es, wenn es still ist? Die meisten von uns würden Stille vor allem als die Abwesenheit von Geräuschen beschreiben. Kein Lärm, kein Singen, keine Schritte, kein Martinshorn, keine Gespräche. Und dennoch stimme ich meiner Schülerin voll und ganz zu. Stille kann so unterschiedlich sein. Verlegene Stille ist anders als einvernehmliche Stille. Stille nach einem Knall ist anders als Stille zwischen gelegentlichen sanften Geräuschen. Stille in der Stadt an einem Sonntagmorgen ist von anderer Qualität als Stille im Wald auf dem Land.

Stille außen

Ich, die ich mitten in Köln lebe und arbeite, sehne mich häufig nach äußerer Stille. So gerne ich meine Arbeit mit Menschen und Stimmen mache, so bin ich auch immer wieder froh, wenn ich zwischen den Stunden oder in der Mittagspause kurz allein und ohne Geräusche sein kann. Mein Gehirn, mein Nervensystem und mein Körper können verschnaufen und ich lerne, dieses kostbare Auftanken immer mehr wertzuschätzen. Die äußere Stille stoppt den permanenten Input und gibt mir kurze Momente des Innehaltens. So kann Raum entstehen für innere Stille, die die unbedingte Vorraussetzung für frohes, erfülltes und kreatives menschliches Sein ist.

Stille innen

Oft kommt es mir vor, als hätte ich in mir ein immer und immer dudelndes Radio. Gedanken, Eindrücke, Wort- und Gesprächsfetzen, Musik, Geräusche. Das alles tobt in meinem Kopf herum. Das ist manchmal anstrengend, aber oft auch ganz wunderbar. Ideen sprudeln, Gedanken springen, Themen kreisen, neue Verknüpfungen entstehen. Das genieße ich sehr. Und trotzdem sehne ich mich, besonders, wenn auch noch äußerer Lärm dazukommt, nach innerer Stille. Seit noch nicht gar zu langer Zeit gelingt es mir dann, mich ganz bewusst hinzusetzen und der Stille Raum zu geben. Denn eines ist sicher. Die Stille ist immer da.

Stille ist immer da

Hinter allen Geräuschen, ob innerlich oder äußerlich, befindet sich immer Stille. Ich stelle es mir manchmal vor wie eine weiße Leinwand, auf der das bunte Leben tobt, die aber trotzdem hinter allem ist. Und in fast jedem Moment ist es möglich einen klitzekleinen Blick auf das Weiß des Hintergrundes zu erhaschen. Habe ich erstmal einen kleinen Zugang zur Stille gewonnen, so kann sie sich immer mehr ausbreiten und ihre wohltuende Wirkung entfalten. Denn Stille ist nährend, wie ein innerer Reset-Knopf. Aus der bewusst erlebten Stille kann dann wieder etwas entstehen. Neue Gedanken, die vielleicht einen ganz anderen Geschmack haben, als wir es gewohnt sind. Eine neue Sicht auf die Dinge des Lebens und auch neue Klänge und Töne.

Musik kommt aus der Stille

Dass Pausen genauso zur Musik gehören, ist wohl jedem klar. Aber wie ist es mit der Stille am Anfang und am Ende eines Musikstücks? Im Alltag ertappe ich mich regelmäßig, dass ich z.B. in einer Chorprobe in ein Stück hinein“huddel“. Nee, das war nicht gut, gleich nochmal und los. Im nachhinein ärgere ich mich dann, weil ich genau weiß, dass es sinnvoll ist, sich erstmal zu sammeln – ich mich und die Chorsänger sich und wir uns miteinander. In der Stille ist die Konzentration gebündelt und gleichzeitig sind alle Möglichkeiten offen. Eine wunderbare Voraussetzung, damit Musik entstehen kann und auch, damit wirklich nachhaltiges Lernen passieren kann.

Wichtiges geschieht

Sicher ist nichts dagegen einzuwenden, auch mal mit dem Flow zu gehen und z.B. im Groove einige Dinge wieder und wieder zu wiederholen. Aber wenn in einer Chorprobe oder auch im Einzelunterricht oder in meinen Kursen Raum für Stille ist, können nochmal ganz andere Dinge passieren. Ein intensives Erlebnis – sei es im Miteinander, in der Musik, in der Verbindung Körper und Stimme oder auch Ich und meine Stimme – wird durch die nachfolgende Stille deutlich und bekommt so die Aufmerksamkeit, die ein wichtiger Moment eben verdient. Im Einzelunterricht mal etwas unkommentiert und in Stille im Raum stehen zu lassen, wenn auf Schüler- und auf Lehrerseite klar ist, dass wirklich etwas in Bewegung gekommen ist, ist eine der schwersten Übungen und hat gerade deswegen eine enorme Kraft.

Über die Stille gebügelt – leider

Leider gelingt mir das nicht immer. Zunehmend öfter zwar, aber auch das ist aus Lehrersicht, ein Lernprozess. Allzu häufig quatsche ich schon in den letzten Ton einer Übung hinein, kommentiere das Gehörte oder frage nach dem, was der Schüler erlebt hat, bevor er sein Erleben überhaupt in Ruhe abschließen konnte. Schade. Aber da bin ich sicher nicht die Einzige. Stille hat eben auch ganz viel damit zu tun, den Dingen wirklich ihren Raum zu geben. Geduld zu haben und nicht durch die Zeit zu huschen, aus Angst, man könnte vielleicht nicht alles schaffen.

Stille als eigene Qualität erkennen

Stille Momente auszuhalten ist für uns alle eine Herausforderung. Oft sprechen wir aus Verlegenheit, wo es eigentlich gar nichts zu sagen gibt. Häufig haben wir nicht das Vertrauen, die entstehende Unsicherheit zuzulassen und abzuwarten, was daraus entstehen kann. Ich versuche immer mehr, Stille als eigene Qualität zu anzuerkennen. Es geht nicht um das „Fehlen von etwas“, sondern um das, was die Stille an sich mitbringt. Stille als eine Chance zu Offenheit und Neuem. Stille als notwendige Voraussetzung für inneres Sortieren und für den Ablauf von Selbstorganisationsprozessen. Stille als Zugang zu Sammlung und Wahrnehmung im Innen und Außen. Stille als Möglichkeit der Beziehungsvertiefung. Zu sich, zum Schüler, zum Publikum, zur Musik.

Stille im Lied

Meine Studenten an der Universität Koblenz brauchen für ihre Abschlussprüfung jeweils ein unbegleitetes Volkslied. Daran mit ihnen zu arbeiten bereitet mir immer große Freude. Wenn wir ganz allein singen, ohne Begleitung, nur der Sänger, die Zuhörer und der Raum, spielt Stille eine große Rolle und kann das Gesungene völlig verändern. Ich kann mir am Ende jeder Phrase soviel Zeit lassen, wie das Lied es braucht. In diesen Pausen kann ich ganz bewusst in die Stille lauschen. Wann kommt wirklich der Impuls aus meinem Inneren weiterzusingen? Oft sind die Studenten überrascht, wie lang die Pausen sein dürfen, wieviel Genuss in der Stille steckt und wie sehr die Intensität eines Musikstückes von der bewusst erlebten Stille profitiert.

Das Nichts öffnet Türen

Davon abgesehen organisiert sich, wenn ich mir selbst so viel Zeit gebe wie es braucht, auch die Atmung mühelos und organisch. Im Laufe des Stückes kann auf diese Weise wirklich eine Dynamik entstehen. Die Musik und die Stimme können Fahrt aufnehmen oder in Wellen kommen und gehen und zwar ganz aus sich selbst heraus. So entstehen Gänsehautmomente.
Ich lege meinen Studenten außerdem meist ans Herz, das Lied und die Stille an verschiedenen Orten auszuprobieren. Im Badezimmer, in einem Parkhaus, in einer Kirche, in freier Natur. Mit allerhöchster Konzentration und großer Neugier auf das Nichts zwischen den Tönen. Weil Stille überall anders klingt und das Lied und die Stimme sich dann immer wieder von einer anderen Seite zeigen.

Manchmal braucht es ganz wenig, um wirklich ins intensive musikalische Erleben zu kommen. Manchmal sogar gar nichts.

Stille Momente im bunten Herbst wünscht

Anna Stijohann

Tiefer gehen

Neulich fragte mich eine Kollegin, was eigentlich meinen Unterricht und meine Arbeit mit Menschen und Stimmen von anderen unterscheide. Darüber musste ich ein wenig nachdenken. Was ist mir wichtig? Was sollen die Menschen mitnehmen, wenn sie aus meinem Unterricht und meinen Kursen herausgehen?
Natürlich gibt es da viele Aspekte. Aber vor allem Eines hat sich bei meinen Überlegungen herauskristallisiert. Ich möchte, dass die Menschen tiefer gehen und Genuss erleben. Beim Singen, Tönen, Atmen, Bewegen, Musizieren und Mensch sein.

Allerlei Ziele

Klar, als Lehrer wünscht man sich vieles für seine Schüler. Dass die Stimme es leicht hat, dass das Singen immer stimmiger wird, dass Stimme und Körper immer mehr zueinander finden oder dass Klangfarben und musikalische „Manöver“ möglich werden, die vorher noch nicht drin waren. All das sind Dinge, die als Wünsche und Ziele in meiner Arbeit vorkommen. Egal ob jemand Anfänger, fortgeschritten oder Profisänger ist, für mich geht es immer um die persönliche Weiterentwicklung. Ausgehend vom Jetzt suchen wir gemeinsam etwas Neues, etwas Spannendes, Überraschendes. Und so tun wir vor allem eins. Tiefer graben. Immer wieder.

Wie tief willst Du gehen?

Tiefer gehen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Im großen Zusammenhang geht es meiner Meinung nach darum erfüllt zu sein, von dem was man tut. Im Singen, wie im Leben. Wir möchten gesehen werden, uns zeigen, berühren und berührt werden. Wir sind immer auf der Suche. Und es ist schön, einen Lehrer oder musikalischen Begleiter zu haben, der diesen Weg mitgeht. Jeder Mensch, jeder Sänger – ob er es zugibt oder nicht – sehnt sich danach. Jeder? Vielleicht nicht. Mancher Sänger möchte einfach nur ein bisschen „singen“. Oder ein bisschen „schöner singen“. Oder ein bisschen „lauter singen“. Das ist absolut legitim, aber mir macht es am allermeisten Spaß, wenn meine Schüler ihre innere Forschungslust entdecken.

Tiefgang für alle

Dabei ist es völlig unerheblich, auf welchem Level jemand gerade arbeitet. Es gibt Anfänger, die neugierig und offen jedes Stimm- und Körpererlebnis wie ein Weltereignis feiern und es gibt Profis, die zwar sagen, dass sie sich verändern möchten, aber eigentlich viel zu große Angst haben, etwas wirklich Neues zu wagen. Nein – ich sage das nochmal – das kann man sicher niemandem verübeln, aber je tiefer ich grabe, desto tiefer wird auch mein Erleben. Desto mehr Genuss stellt sich ein, desto intensiver gehe ich in Kontakt mit mir selbst, mit meiner Stimme, mit meinen Mitmusikern. Intensität bringt immer einen höheren Wert mit sich. Für den, der es tut und für den, der das Glück hat, zuzuhören oder zuzuschauen.

Süchtig nach Intensität

Ich war schon immer auf der Suche nach der Intensität. Vielleicht liegt es daran, dass mich nie jemand für besonders begabt oder talentiert gehalten hat, aber genau deswegen hatte ich immer ein großes inneres Bedürfnis, wirklich aus mir selbst heraus zu singen und zu klingen. Ich wollte keine Tricks damit es endlich „funktioniert“ (na gut, ich geb’s zu, ab und an schon ;-)), sondern ich wollte das, was ich tue, wirklich durchdringen. Zu meinem Eigenen machen. Mit meiner eigenen Stimme singen, genau hinspüren und nicht nur oberflächlich wissen, was ich tue, sondern durch und durch erleben und genießen. Das war und ist sicher nicht der leichteste und schnellste Weg zum Sängerglück, aber für mich persönlich der einzig mögliche.

Begeisterung steckt an

Auf meiner Reise haben mich stets diejenigen Lehrer und Künstler fasziniert, die ihren ganz eigenen Zugang zu dem, was sie tun, gefunden haben. Egal ob es um emotionale Tiefe ging, intensives Körpererleben, musikalische Detailarbeit oder die Leidenschaften eines Anatomiefreaks – ich wollte nie einfach nur schön singen. Und ich hoffe sehr, dass ich meine Schüler und Studenten und auch die Menschen in den Chören mit denen ich regelmäßig oder unregelmäßig arbeite, ein bisschen mit meiner Begeisterung anstecken kann. Da halte ich es mit dem Singen, wie mit einem guten Essen. Es kann so viel mehr sein, als nur Mittel zum Zweck.

Stimmliche Tiefen erspüren

Wie kann Lernen, das tiefer geht, nun beim Singen und allgemeiner in der Arbeit mit der Stimme konkret aussehen? In jedem Fall bedeutet es, sich selbst und sein Instrument immer besser und genauer kennen zu lernen. Das Schulen der Eigenwahrnehmung (Propriozeption und Interozeption) durch Körperarbeit ist für mich elementar. Es gilt genau hinzuspüren in Muskeln, Knochen und Faszien, Resonanz bewusst zu erleben und Vibrationen wahrzunehmen. Darüber hinaus ist es wichtig immer wieder zu schauen: Was macht das mit mir? Wo und auf welche Weise berührt mich etwas, wo sind Widerstände, wo kommt etwas ins Fließen?

Auf Entdeckungsreise gehen

Auch die Verknüpfung von rationalem Wissen und praktischem Tun schafft Tiefe und Verständnis. Das kann auf körperlich-funktionaler, aber z.B. auch auf musikalischer Ebene sein. Rhythmus körperlich zu erleben (z.B. wie fühlt sich eine Synkope körperlich an?) ist nur ein Beispiel dafür. Stimmliche Tiefen auszuloten kann auch bedeuten, sich mit Klängen auseinander zu setzen, die uns erstmal fremd sind. Tierische Laute, brummen, summen, quietschen und krächzen sprengen allzu enge stimmliche Grenzen und öffnen auch für die „schöne Stimme“ neue Türen.

Verbindung schaffen

Auch für die Interpretation von Stücken, können Schüler hier profitieren. Muss es immer schön sein? Was erzählt mir ein Lied wirklich? Wo gibt es ganz persönliche Berührungspunkte? Wo bin ich berührt, wo scheue ich mich, wo erlaube ich mir echten Genuss? Sich einen Song wirklich zueigen zu machen, ermöglicht nicht nur tiefere Einsichten in die Musik an sich, sondern manchmal auch in die eigenen menschlichen Tiefen und Abgründe. Im Zusammenklang mit anderen, z.B. im Chor oder im Ensemble, ist es sinnvoll Akkorde und Klänge wirklich auszukosten und ästhetisch zu durchdringen. Wo bin ich, wo sind die anderen, in welcher Beziehung stehen unsere Stimmen?

Einzeln und mit anderen

Um das persönliche Verständnis auf möglichst vielen Ebenen zu vertiefen, halte ich eine Kombination aus Einzelarbeit mit einem Lehrer und Gruppenarbeit ideal. Im Einzelunterricht kann der Lehrer ganz auf meine Bedürfnisse eingehen. Mir Mut machen, wenn mir das Neue noch zu fremd ist und mich bestärken, dass ich auf dem richtige Weg bin. In der Gruppe kann ich von Anderen lernen, mich im Schutz der Gruppe aufgehoben fühlen und Klänge und Musik erleben, die allein nicht möglich sind. Hinzu kommt darüber hinaus natürlich noch das eigene Forschen im stillen Kämmerlein oder im Alltag.

Individuelle Wege

Insgesamt möchte ich betonen, dass jeder Suchende die Zusammenhänge, die ihn interessieren und die individuellen Wege zum Ziel selber herausfinden muss. Tiefe kann man sich nicht abschauen, nicht erlernen. Nur entdecken. Neulich kam eine Schülerin, die noch relativ am Anfang steht, in meinen Unterricht und verkündete mir, dass sie fortan nur vierzehntägig statt wöchentlich kommen wolle. Sie bräuchte mehr Zeit um das Gelernte und Erlebte zu integrieren. Ja! Genau! Super! Da jubelt mein Forscherherz 🙂

Tiefe braucht Zeit

Zeit spielt auf dem Weg zu stimmlicher Tiefe und tiefgreifendem Verständnis eine wesentliche Rolle. Ich merke, dass ich in meinen Kursen immer langsamer werde. Immer weniger Inhalte „schaffe“. Manchmal nur die Hälfte dessen, was ich mir zurechtgelegt hatte. Wenn es so kommt, liegt das meist daran, dass die Gruppe wirklich Lust hatte, sich auf die Übungen einzulassen und intensiv zu spüren, zu schmecken und zu erleben. Früher hatte ich dann manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, dass die Menschen dann vielleicht „nicht genug mitnehmen“, aber mittlerweile sehe und erlebe ich es anders. Sich die Zeit und den Raum für die Dinge zu nehmen, die sie wirklich brauchen, ermöglicht ganz andere Einsichten. Auch der Kontakt untereinander bekommen eine andere Qualität. Erkenntnisse und Lernerfolge speichern sich innerlich ganz anders ab. Das Gespräch bei der gemeinsamen Tasse Tee bringt manches Mal Überraschendes und Wertvolles ans Licht. Auch wenn die Zeit dafür „von der Unterrichtszeit abgeht“.

Aha-Erlebnisse

Tiefe entsteht nach meiner Erfahrung im Wesentlichen auf zwei Arten. Zum einen gibt es die Aha-Erlebnisse. Ist der Raum und die Zeit da, können sich (z.B. durch die bipolare Atemarbeit) überraschende Momente ergeben, in denen der Schüler etwas so einprägsames erlebt, dass hinterher nichts mehr sein wird wie früher. So ging es mir z.B. bei meinem ersten Kurs mit Renate Schulze-Schindler. „Ach krass. Das bin ich. So klingt meine Stimme. Das ist das, wonach ich immer gesucht habe…“ Manchmal sind diese Wendepunkte groß und gewichtig, manchmal klein und subtil, dadurch aber nicht unbedingt weniger bedeutsam.

Anfängergeist

Manchmal ist es aber auch der Alltag, das achtsame Üben und das Immer-und-immer-wieder-Tun, das neue Tiefen und Einsichten ermöglicht. Wenn ich Tag für Tag das Gleiche tue (z.B. die gleichen Übungen) und es schaffe, immer wieder neugierig zu bleiben, kristallisiert sich eine immer klarere Form dessen was ich tue, heraus. Mit diesem „Anfängergeist“ kann ich die gleiche Situation immer wieder aus einer neuen Perspektive sehen und erleben. Das bringt Genuss schon beim Tun, aber auch immer wieder eine neue Tiefe in dem, was ich übe.

Es ist meine Entscheidung

Ob ich offen für Neues bin und bleiben kann, ist vor allem eine Einstellungssache. Kann ich auch bei der hundertsten Vorstellung des gleichen Stücks noch die kleinen Veränderungen wahrnehmen? Kann ich immer wieder Überraschendes sehen? Das ist ein bisschen wie eine Brille mit einer speziellen Vergrößerung. Manchmal kann es da helfen, sich selbst jedes Mal wieder eine neue Aufgabe zu stellen. Eine Forschungsfrage, an der ich mich dann entlanghangeln kann und die mir hilft, wach zu bleiben. Eine Perspektive, aus der ich noch nie geschaut habe. Eine Erfahrungsebene, die mir sonst vielleicht gar nicht bewusst ist.

Tiefgang braucht Mut

Insgesamt braucht das Graben in der Tiefe immer eine gute Portion Mut. Niemals weiß ich, was ich dort vorfinde. Gefällt es mir? Macht es mir Angst? Erschüttert es mein bisheriges (sängerisches) Welt- und Selbstbild? Aber ohne den Mut zur Verletzlichkeit bleiben wir immer unter unseren eigentlichen Möglichkeiten. Ja, wir sehnen uns nach Echtheit und danach unseren eigenen Weg zu gehen, egal was die anderen denken oder sagen. Aber damit ist auch immer das Risiko verbunden, dass wir abgelehnt oder belächelt werden. Der Spagat zwischen dem „Eigenen“ und dem „Dazugehören“ ist nicht immer leicht. Es braucht viel Vertrauen und ein starkes inneres Gefühl von Sicherheit um sich zu trauen, die eigenen Grenzen zu erweitern und sein volles Potential auszuschöpfen.

Aber je tiefer wir graben, desto mehr von uns selbst zeigt sich. Je feiner wir unsere Stimme und unseren Körper wahrnehmen, desto mehr von uns kann ins Schwingen kommen. Je mehr wir werden, wer wir eigentlich sind, je mehr wir uns erlauben so zu klingen wie wir eben klingen, desto größer zeigt sich unsere innere Stärke und auch unsere stimmliche Ausdruckskraft.

Genussvolle Spatenstiche Richtung Innenwelt wünscht,

Anna

P.S. Eine Möglichkeit mit der eigenen Stimme in die Tiefe zu gehen, ist die STIMMSINN-Jahresgruppe. Im letzten Jahr durfte ich zum ersten Mal vier Menschen über insgesamt 11 Monate begleiten und ich fand es ganz wunderbar! Einzelunterricht und Gruppenworkshops, viele verschiedene Themen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln – alle Höhen und Tiefen der STIMMSINN-Palette. Ab Januar 2020 startet ein neue Jahresgruppe. Es gibt noch 2 freie Plätze!

Anna wird syng:TRAINER

Im Februar und März diesen Jahres habe ich eine umfangreiche Fortbildung bei Prof. Kenneth Posey (UDK Berlin) absolviert und diese mit dem Zertifikat als syng:TRAINER abgeschlossen. Von meinen Erfahrungen mit der syng:TRAINING Methode während der Weiterbildung und den Erlebnissen mit Schülern in den darauf folgenden Wochen möchte ich in diesem Blog-Artikel berichten.

Warum syng:TRAINING?

Vor etwa zehn Jahren lernte ich Kenneth Posey auf einer Profimasterclass-Woche in Berlin kennen. Da ich noch andere Verpflichtungen in der Uni hatte, stieß ich erst am zweiten Tag des Workshops hinzu und hatte damit die Aufteilung der Solo- und Ensemblestücke für die geplante Abschlussshow verpasst bzw. hatte nur einen kleinen Part zugewiesen bekommen. Als kleine „Entschädigung“ bot Prof. Posey mir an, in seinem Unterricht zu hospitieren und so seine Arbeit mit den Kollegen zu erleben. Der von Ken angestrebte Klang der Stimmen hatte wenig mit dem gängigen „leicht quäkigen“ Musicalsound zu tun, mit dem ich nie so richtig warm geworden war. Die Menschen klangen wie Menschen. Das gefiel mir und so bin ich nach langem hin und her und verschiedenen Begegnungen mit Kenneth schließlich in seinem Programm syng:TRAINING gelandet.

Was ist syng:TRAINING?

Das von Kenneth Posey über Jahre entwickelte syng:TRAINING ist ein funktionales Stimmbildungskonzept. Sehr spezifische Klänge dienen der Aktivierung bestimmter Muskelaktivitäten und Resonanzräume und fördern gleichzeitig eine Genauigkeit bei der Atemführung: jeder Klang hat eine ganz eigene Zusammensetzung von Muskeln, Raum und Atem. Ziel ist die verbesserte Koordination und Kräftigung der Stimmmuskulatur, die nicht ausschließlich, aber doch schwerpunktmäßig auf die stimmlichen Anforderungen im Musical- und Popgesang ausgerichtet ist. Hier geht es – anders als im klassischen Gesang – nicht darum einen perfekt ausbalancierten Klang, der sich durch alle Lagen hindurch einheitlich und verbunden zeigt, zu finden, sondern eine breite, flexible Palette an sehr unterschiedlich gearteten, gesund erzeugten Klängen und Stimmnutzungen zur Verfügung zu haben und sich durch diese auszudrücken (vgl. Singen ist Singen).

syng:TRAINING konkret

Es gibt im syng:TRAINING fünf sogenannten „Basisvokale“. Diese werden nur in sehr eingegrenzten Bereichen des Stimmumfangs geübt. So wird die ideale Ansprache der jeweiligen Muskulatur, des zugehörigen Resonanzraumes und der passenden Atemführung gewährleistet. Nach dem Erlernen und Verfeinern der Basisvokale (Isolation) werden diese gegenübergestellt und in verschiedenen Übungsfolgen abgewechselt. So entsteht eine Alternation zwischen verschiedenen Stimmmuskelnutzungen, Resonanzräumen und Atemführungen. Das Wechseltraining wird dann erweitert, bis zwischen drei oder mehr Basisklängen auf einem immer größer werdenden Stimmumfang (auch registerübergreifend) im Wechsel trainiert wird (Integration). Im Anschluss an dieses allgemeine Training folgt ein nutzungsspezifisches Stimmtraining mit zusätzlichen Übungen, welche die jeweilige Stimmnutzung (z.B. Belting, Mix usw.) aufbauen und unterstützen.

Anna sucht das Basis [i:]

Der Dreh- und Angelpunkt des syng:TRAININGs sind die Basisklänge. Dabei handelt es sich nicht um Vokale, die auf genau diese Weise auch im „richtigen Singen“ verwendet werden, sondern, wie oben beschrieben, um Übungsklänge. Das Erlernen dieser Basisklänge hat mich sehr herausgefordert. Vor allem das Basis [i:] konnte ich zu Beginn der Fortbildung weder selber herstellen noch konnte ich genau hören, wie es klingen soll. Das hat mich ziemlich verwirrt und gestresst. Die Sichtweise des syng:TRAINING ist so anders, als mein eigenes sängerisches Weltbild, dass es mir zunächst sehr schwer gefallen ist, an irgendetwas anzuknüpfen, was mir bekannt war.

Wohin soll die Reise gehen?

Irgendwann hat es dann doch geklappt mit dem Basis

[i:]

und ich hatte das große Glück, dass meine Schüler experimentierfreudig genug waren, um mit mir auf die Reise zu gehen, auch wenn ich selber noch nicht sicher war, wohin es geht (vgl. Singenlernen ist nicht linear). Meine Sichtweise bisher war vor allem ganzkörperlich geprägt, mit einer soliden funktionalen Basis. Da kenne ich mich aus, da kann ich meine Schüler mitnehmen und anleiten. Nun kamen neue Begriffe, Ziele und Aufgaben hinzu, die mir nicht in jeder Hinsicht mit meinen sonstigen Aktivitäten kompatibel erschienen und die mir teilweise noch bis zum heutigen Tag leicht unklar sind.

Fortbildung ist immer ein Wagnis

Als gestandener Gesangspädagoge ist es immer gefährlich etwas Neues zu lernen (vgl. Über den Tellerrand). Denn jedes Mal muss ich auch mein bisheriges Wirken hinterfragen und werde auf Dinge gestoßen, die ich (noch) nicht beherrsche. So ging es mir in diesem Falle auch. Die funktionale Denkweise ist mir nicht fremd, aber z.B. die bewusste Registerunterscheidung habe ich eigentlich immer vermieden, um nicht dort eine Trennung zu schaffen, wo diese vielleicht gar nicht notwendig ist (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?). Im syng:TRAINING ist aber eben diese elementar, denn es geht um das ständige Hin- und Herwechseln zwischen Resonanzräumen, Registern, Atemführungen – vorne, hinten, unten, oben, brustig, kopfig, fließender Atem, zurückgehaltener Atem – um stimmliche und körperliche Flexibilität zu fördern. Die Trennung beim Üben ist also – das leuchtet mir ein und ich habe es ja auch selber deutlich erlebt – wichtig, um die Wahrnehmung für gesunde Stimmnutzungen zu schärfen. (vgl. Und wo singst Du so?)

Dennoch grüble und forsche ich immer noch täglich, wo es unabdingbar und sinnvoll ist, wo es Dinge erleichtert und wo ich vielleicht doch für mich persönlich einen anderen Weg finden muss bzw. kann.

Den eigenen Horizont erweitern

Neben der Verwirrung durch Neues und Unbekanntes, konnte ich mir aber in mancher Hinsicht mehr Überblick verschaffen. Wenn es um ganz bestimmte Klänge geht, ist es sehr hilfreich, deren genaue Muskelaktivitäten, Raumnutzungen und den Atembedarf zu kennen. Grundsätze wie: Je „fetter ein Klang, desto zurückgehaltener muss der Atem sein“ oder „Beltklänge gehören nur in die Lage oberhalb der Sprechlage, ansonsten ist ein Brustmix ökonomischer“ helfen mir beim Unterrichten sehr. So kann ich einigen Schülern auf ganz neue Weise einen Zugang zu bestimmten Klängen verschaffen. Jeder Mensch lernt anders und – das ist mir durch die syng:TRAINING Fortbildung einmal mehr klar geworden – manche Dinge, die mir helfen, helfen jemand anderem nicht und umgekehrt. Da ist es gut einmal in eine andere Haut zu schlüpfen, andere Worte, einen anderen Fokus zu probieren und so seinen Horizont zu erweitern. Manche Klänge und Stimmphänomene, die sich für mich vor allem aus dem Moment heraus und durch intensive Körper- oder Emotionsarbeit ergeben, kann ich nun konkreter beschreiben und einem Schüler somit auf eine weitere Weise „servieren“.

Anknüpfungspunkte

Insgesamt habe ich mich bemüht, immer dort anzuknüpfen, wo ich auf Vertrautes zurückgreifen kann (vgl. In Ähnlichkeiten denken). Nur so sehe ich eine Chance, das syng:TRAINING Programm wirklich zu meinem eigenen zu machen und ich bin davon überzeugt, dass ich es nur dann wirklich gut unterrichten und weitergeben kann. Dabei haben sich einige Punkte als gut geeignet herausgestellt. Die Arbeit mit den Gesangsformanten (GF) (vgl. Das magische Knistern) spielt auch im syng:TRAINING eine zentrale Rolle. Die optimalen Klangeigenschaften eines Basisklangs werden u.a. durch Formanttuning erreicht. Wird das im Klang hörbar, was ich in meinem Unterricht meist schlicht „das Knistern“ nenne (Obertöne im Bereich von rund 3000 HZ), wissen wir, dass die Basisklänge an der richtigen „Stelle sitzen“.

Der Effekt der Selbstorganisation durch die GF wurde zwar nicht direkt angesprochen, aber ich bin mir sicher, dass die Arbeit mit den Basisklängen auch aus diesem Grund so wirkungsvoll ist.

Faszien syngen?

Was mir außerdem am syng:TRAINING gut gefällt, ist die Tatsache, dass der Stimme durch das Training alle Bausteine angeboten werden, die dafür sorgen, dass man sich hinterher beim Singen um nichts mehr sorgen muss. Die Stimme organisiert und koordiniert sich von selbst. Die Klänge und vor allem das abwechselnde Üben der Klänge sind sehr dynamisch und erinnern mich stark an meine Erfahrungen mit verschiedenen Faszienübungen (vgl. Klangkörper). Nicht nur auf stimmlicher Ebene, sondern auch in Bezug auf die Muskulatur des Ansatzrohres und auch des Atems, geht es ums Dehnen, Kneten, Zugreifen, Spannen und Lösen. Da kam mir manches Mal der Gedanke, dass die syng:TRAINING Übungen auch deshalb so gut greifen, weil es sich um Faszientraining für viele verschiedene an der Stimmgebung beteiligte Elemente handelt. Diesen Zusammenhängen werde ich in jedem Fall weiter nach-forschen und nach-spüren.

Der Ton macht die Musik

Eine leichte Gefahr sehe ich darin, dass besonders ehrgeizige Schüler möglicherweise „zu aktiv“ üben. Diesem Fehler bin ich in den ersten Wochen meiner Fortbildung definitiv aufgesessen. Ich wollte die Klänge unbedingt richtig machen und habe manches Mal manipulierend eingegriffen, wo weniger mehr gewesen wäre (vgl. Kontakt). Ein Grund dafür war möglicherweise, dass die Sprache im Kurs für meinen Geschmack teilweise etwas „zu konkret“ war. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?). Solange ich noch kein klares Körpergefühl für manche Dinge hatte und mich vor allem an den verbalen Anweisungen (jede Methode hat ja ihre ganz eigene Sprache, ihre Vokabeln und ihre sprachliche Grundstimmung, in die man sich erstmal einfühlen muss) entlanggehangelt habe, hat das bei mir beim selbstständigen Üben manches Mal zu Überspannungen geführt. In der eins zu eins Arbeit mit Kenneth Posey war das jedoch keineswegs der Fall. In den Momenten, in denen ich unterrichtet wurde, hat sich stets alles leicht und total richtig angefühlt. Durch seine ein- und mitfühlende Anleitung konnte ich dann manche Worte und Anweisungen in Körpergefühl oder andere Wahrnehmungen übersetzen und somit tiefer und nachhaltiger verstehen.

Was fehlt?

Was mir persönlich im syng:TRAINING fehlt, ist der ganzkörperliche Aspekt. Die körperliche Unterstützung des Singens wird zwar durch das spezielle Design der Klänge und der Übungen immer wieder geübt, meine Auffassung von körperlichem Singen geht jedoch weit darüber hinaus. Für mich ist der gesamte Körper vom Scheitel bis zur Fußsohle mit all seinen Muskeln, Knochen, Faszien, Organen, Nerven, Zellen, Zwischenräumen und vor allem auch durch die Beziehung all dieser Teile untereinander, am Vorgang des Singens beteiligt (vgl. Klangkörper). Meine, im Wesentlichen durch die natural voice – Arbeit gewonnenen, Erfahrungen bzgl. des Atems reichen ebenfalls über die konkrete „Atemsteuerung“ hinaus. Atem ist in meiner Welt nicht nur die fürs Singen unerlässliche Antriebskraft, ohne die keine Tongebung möglich wäre, sondern berührt viel tiefer alle unsere menschlichen Ebenen – körperlich, emotional, energetisch, spirituell.(vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit)

Als ganzheitlich-körperlich arbeitende Lehrerin kann und werde ich in jedem Falle Wege suchen und finden das syng:TRAINING Konzept durch diese Aspekte zu ergänzen und so noch umfassender machen.

Für wen eignet sich syng:TRAINING?

Die syng:TRAINING Übungen eignen sich im Grunde für jeden, der Lust hat, sich intensiv mit der Funktionsweise seiner Stimme auseinander zu setzen. Wer Lust an einem klaren Übungsprogramm mit überschaubaren Grundsätzen hat, ist hier genau richtig. Wie bei einem „Balletttraining“ wird der Stimmapparat bis ins Detail auf die anstehenden Aufgaben (Das Tanzen! :-)) vorbereitet. Der klare Ablauf sorgt für Sicherheit und wenn die Basisklänge einmal klar sind, kann in relativ kurzer Zeit sehr effektiv geübt werden.(vgl. Übungen machen den Meister)

Besonders geeignet ist das syng:TRAINING für Menschen, die sich speziell im Bereich Musical und Pop (vor allem Belting, aber auch Mix) stimmlich weiterentwickeln möchten. Der durch das Grundlagentraining entstehende Stimmklang ist jedoch erstmal nicht genregebunden und ich persönlich konnte neben dem Belten vor allem in der Höhe sehr profitieren.

STIMMSINN und syng:TRAINING

Ganz sicher wird meine STIMMSINN-Arbeit durch einige Aspekte des syng:TRAINING bereichert. Besonders die konkrete Arbeit mit den Resonanzräumen im Kopf war für mein eigenes Singen, aber auch in der bisherigen Arbeit mit meinen Schülern und Studenten in den vergangenen zwei Monaten sehr erkenntnisreich. Vor allem das Ausloten der hinteren Räume macht mir viel Freude und erweitert meine eigene Klangpalette und die meiner Schüler enorm. Auch im Chor habe ich durch das erlebende Herumprobieren mit diesen Räumen der ein oder anderen Stimme mehr Spielraum ermöglichen können. Insgesamt kann ich sagen, dass sich meine Hörwahrnehmung in Bezug auf die Stimm- und Resonanznutzung verfeinert hat. Mein Bestreben, Stimmbildung vor allem erlebend und nicht manipulierend anzubieten, wird durch das syng:TRAINING herausgefordert, aber ich bin sehr positiv, dass auch das möglich ist. Das nötige „richtig und falsch“ in Bezug auf die Basisklänge kann ich gut akzeptieren, weil es sich eben auf bestimmte Übungsklänge bezieht. Das Singen bleibt nach wie vor eine höchst individuelle Angelegenheit.

Wie sich alles weiterentwickelt, wird die Zeit zeigen. Ich bin und bleibe neugierig, wie und wohin sich STIMMSINN und syng:TRAINING in der Zukunft weiter entwickeln.

Ich wünsche viel Wissens- und Singdrang – mit oder ohne syng:TRAINING 🙂

Anna Stijohann

Übungen machen den Meister?!

Brauchen wir Gesangsübungen um Singen zu lernen? Manche Lehrer schwören auf ihre Übungen. „Wenn Du die regelmäßig machst, wirst Du Erfolg haben.“ Andere sagen: „Wir brauchen keine Übungen, keine Tonleitern, kein „Training“. Alles ist schon da, es gilt nur die Dinge zu entdecken. Für mich persönlich ist in allem ein Körnchen Wahrheit zu finden. Aber das Wichtigste für mich ist, mit welcher inneren Einstellung wir üben und Übungen machen.

Allerhand Übungen

Es gibt Intervallübungen, Muskelkräftigungsübungen, Isolations- und Integrationsübungen, Dynamikübungen, Vokalausgleichsübungen und noch so viele mehr. Einige finden auf einem Ton statt, andere bedienen sich kleiner Phrasen oder Skalen. Manche nutzen bestimmte Vokale, andere Konsonanten, einige bewegen sich in der Mittellage, andere loten Grenzen aus. Aber was ist eigentlich der Sinn all dieser Übungen? Nicht im konkreten, sondern im übergeordneten Sinne?

Was wir erreichen möchten

Wir möchten uns verbessern, aber was bedeutet das eigentlich? Wir möchten unser Instrument immer besser und sicherer beherrschen lernen, es mühelos benutzen und vor allem – das ist mir persönlich das Wichtigste – immer weniger denken und aktiv steuern müssen beim Singen. Wir möchten uns „auskennen“ mit unserer Stimme. Wie in einer Stadt, die wir wie unsere Westentasche kennen, möchten wir uns dort frei bewegen können, Augen und Ohren frei haben für Begegnungen und feinste Veränderungsnuancen. Dazu kann es hilfreich sein zu wissen, wie wir von Ort A zu Ort B gelangen, in welchem Takt der Bus kommt und wann die Geschäfte geöffnet sind.

Orientierung schaffen durch Erfahrungen

Um im Bild zu bleiben; es gibt verschiedene Möglichkeiten sich mit einem Ort oder einer Tätigkeit vertraut zu machen. Ich kann wieder und wieder den Stadtplan und die alphabetische Liste aller Straßennamen studieren. Ich kann immer wieder üben, mich an den Himmelrichtungen zu orientieren und klar – lesen zu können kann bei der Orientierung nicht schaden. Aber wirklich vertraut machen, kann ich mich nur durch Erlebnisse. Das Gefühl zuhause zu sein, sich wohl und sicher bewegen zu können und eine gute Zeit ohne zu große Orientierungslosigkeit zu haben auch wenn ich an einem Ort bin, den ich noch nicht lange kenne, stellt sich vor allem dann ein, wenn ich Erfahrungen mache. Je mehr und je vielfältiger desto besser.

In wie weit bin ich innerlich beteiligt?

Zurück zu den Übungen. Nahezu jede Art von Übungen hat also meines Erachtens nach seine Berechtigung. Allerdings macht es einen großen Unterschied, mit welcher inneren Wachheit ich diese ausführe. Wo liegt meine Aufmerksamkeit? Führe ich die Übungen aus, weil sie eben „zu meinem täglichen Übeprogramm gehören“ oder weil das Aufwärmen im Chor eben immer genauso abläuft? Dann besteht die Gefahr, dass ich nicht mit voller Aufmerksamkeit anwesend bin. Dass ich automatisch ein Programm abspule und mich so um die Möglichkeit bringe, wirklich etwas zu lernen. Denn nur wenn wir wach sind, können wir neue Erfahrungen machen oder vorhandene vertiefen und somit lernen.

Die Erlaubnis Fehler zu machen

Manchmal ist dieses „Wach-Sein“ einfacher, wenn wir nicht eine bestimmte Übung machen, sondern frei experimentieren. Bei einer Übung haben wir oft das Gefühl, wir müssten es richtig und gut machen und alleine das kann schon hinderlich sein auf unserem Lernweg zu mehr Freiheit. Denn die Erlaubnis Fehler zu machen und selber einen Weg zu finden sind dafür unerlässlich. Treffe ich die Töne? Singe ich die richtigen Vokale? Führe ich die Übung genauso aus, wie mein Lehrer es von mir fordert? Ist der Klang schön? Diese Fragen sind gerade für Anfänger sehr wichtig und gleichzeitig hinderlich, weil ein großer Teil der Aufmerksamkeit genau dadurch gebunden wird.

Freiheit schaffen

Aus diesem Grund bevorzuge ich in vielen Fällen das freie Tönen. Viele Dinge können so ebensogut geübt werden, wie auf festgelegter Tonhöhe. Resonanz, stimmliche Beweglichkeit, verschiedene Vokale und ihre Übergänge sowie die Anbindung der Stimme an den Körper können so oft viel direkter erlebt werden. Und eine Kombination aus freiem Tönen und einer festgelegten Tonfolge kann dann ein Schritt in Richtung Anwendung des Erlebten in der Musik sein.

Ich lasse z.B. meine Schüler häufig ein wenig auf dem Klinger ng (nicht „singend“, sondern als harmloses „Geräusch“) herumtönen. „Krickellakrack auf ng“ nenne ich es meist. Mit diesem Glissando taste ich mich an einen bestimmten Ton heran, der dann wiederum als Startton für eine Übung oder eine Phrase in einem Lied fungieren kann. Was bleibt aus dem ng? Die Resonanz? Der Stimmsitz? Die Leichtigkeit im Hals?

Vom natürlichen Gebrauch der Stimme lernen

Meist können Menschen, wenn sie keine vorgegebene Tonhöhe haben, erstaunlich flexibel mit ihrer Stimme umgehen. Brüche sind in den wenigsten Fällen ein Thema und der Stimmklang lehnt sich an den natürlichen Klang des Sprechens an. Und sobald es ums „echte Singen“ geht, verschwindet diese Selbstverständlichkeit wieder. Schade. Zwischen dem natürlichen, spielerischen Gebrauch der Stimme und dem Singen gilt es dann, wieder Brücken zu bauen. Und diese ergeben sich vor allem durch waches Wahrnehmen und Erleben.

Das Wichtige sind die Fragen

Wie fühlt sich die Stimme an, wenn ich klangvoll spreche? Was kann ich davon mitnehmen ins Singen? Wo resoniert ein bestimmter Vokal, wenn ich mit ihm spielerisch verschiedenen Höhe, Tiefen und Klangnuancen auslote? Wie kann ich das wiederum mitnehmen in die Literatur? Wie fühlt sich der Zugriff der Stimme an, wenn ich z.B. Kratteltöne mache, lache, jubel oder rufe? Wie sucht sich mein Körper seine unterstützende Ausgleichaktivität wenn ich niese, die Lippen flattern lasse, in einen Silikonschlauch blubbere oder mit einer bestimmten oder frei gewählten Bewegung töne?

Vielschichtig wahrnehmen statt bewerten

Welche Fragen ich mir stelle ist entscheidend für das Ergebnis meines Übens. Frage ich mich lediglich: Mache ich das richtig oder falsch? Oder finde ich immer wieder neue spannenden Aspekte meiner Aufmerksamkeit? Immer feiner und differenzierter, vielschichtiger und somit tiefer kann mein Verständnis nur werden, wenn ich neugierig bleibe und ergebnisoffen übe. Was nicht bedeutet, dass ich nicht auch Koordinationsübungen, Kräftigungsübungen oder Übungen zu ganz spezifischen stimmlichen Aktivitäten machen sollte. Das Wichtigste dabei bleibt aber die Frage: Was erlebe ich dabei?

Routine vermeiden

So kann ich auch altbekannte Übungen frisch halten. Jedes Mal mit einer neuen Aufmerksamkeitsaufgabe versehene Einsingübungen ermöglichen, dass ein Schüler oder der Chor nicht in Routine verfällt. Die Erlaubnis zu experimentieren und vor allem Fehler zu machen hilft, den Druck auf ein Minimum zu reduzieren und die Lernlust zu steigern. Hilfreiche Fragen neben gezieltem Lenken der Aufmerksamkeit auf z.B. körperliche Empfindungen können sein: Gab es etwas, das sich neu oder interessant angefühlt hat? Hast Du etwas erlebt, das Dich überrascht hat oder war alles wie immer? Kannst Du mit Deinen eigenen Worten beschreiben, was Du erlebt hast?

Übungen als Richtschnur

Ein wichtiger Aspekt kleiner, überschaubarer Übungen, die sich z.B. ganz auf einen Aspekt der Stimmgebung konzentrieren oder nur mit wenig Tonmaterial auskommen, ist die Chance, Dinge quasi mit der „Lupe“ zu betrachten. Mehr Zeit als in einem Song, höhere Genauigkeit in der Aufmerksamkeit, ein begrenzter Raum um etwas auszuprobieren, ohne dass ich einen bestimmten musikalischen Anspruch haben muss. Im Gegensatz zum freien Tönen kann mich der Lehrer auch mal gezielt in Regionen meiner Stimme locken, die mir sonst fremd sind. Er hilft mir sozusagen, „mit der Taschenlampe in Ecken zu leuchten“, die mir bisher unbekannt oder unbehaglich waren.

Das Übelied

Ein sehr wichtiger Aspekt für mich persönlich, aber auch mit meinen Einzelschülern und in meinen Kursen, ist das Übelied. Jeder sollte eines oder mehrere haben 🙂

Ein leichtes Lied mit einer schönen Melodie, das Freude macht und dass man auch nach dem hundertsten Mal noch gern singt – ein Volkslied vielleicht. Ein Stück, das erstmal keinem bestimmten Gestaltungsideal unterworfen ist und das weder rhythmisch noch vom Umfang her zu komplex wäre um es einfach so a capella vor sich hinzusingen. Dieses Lied sollte mir außerdem nicht zu „heilig“ sein, um damit herumzuexperimentieren. Klänge oder Resonanz testen, körperliche Übungen ausführen, mit Spielzeugen spielen, Artikulation üben (z.B. Die Haferflocke) usw.

Singlust

Das Übelied stellt für mich die Brücke zwischen dem Üben und dem eigentlichen Musizieren dar. Und es kann auch für mich selbst immer wieder ein Spiegel, eine Referenz sein. Wie geht es meiner Stimme heute? Was brauche ich? Wie steht es um meine innere Singlust? Denn die sollte – auch bei den Übungen – immer vorhanden sein, gepflegt oder hervorgekitzelt werden. Denn was ist Singen ohne Freude? Sinnlos meines Erachtens. Wahre Meisterschaft braucht in jedem Fall Begeisterung für das, was ich tue. Ob mit oder ohne Übungen.

In diesem Sinne wünsche ich fröhliches Üben,

Anna Stijohann

Vom Glück des Zusammenklingens

Alleine Singen macht Freude. Mit anderen zusammen singen macht noch mehr Freude. Gemeinsames Singen ist lustvoll, heilsam, berührend und uns Menschen ein inneres Bedürfnis. Nicht nur zur Weihnachtszeit. Wenn Stimmen zusammen klingen, entsteht ein Klangraum, eine Energie, die wir selber nicht herstellen können. Wir sollten es deswegen unbedingt öfter tun.

Gemeinsam die Stimme erheben

Seit eh und je gehört das Singen zu menschlichen Begegnungen und Ritualen dazu. Heute wird in Familien oder bei sonstigen Zusammenkünften von Freunden oder Kollegen nur noch selten gesungen. Doch wir sehnen uns danach, uns über die Stimme mit anderen Wesen zu verbinden. Seit der regelmäßige Kirchgang nicht mehr zum Alltag der allermeisten Menschen gehört, gibt es nur noch wenige Gelegenheiten das gemeinsame Singen (und Sprechen!) mit anderen Menschen und die damit verbundene Kraft zu erleben.

Singen im Rudel

Das Singen im Fußballstadion – mit zehntausenden Menschen – ist eines der kraftvollsten Stimmerlebnisse, zu denen „normale Menschen“, die sonst nicht unbedingt mit Musik oder Chorsingen in Berührung kommen, noch Zugang haben. So lassen sich nahezu magische Momente erleben, die alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer finanziellen und privaten Situation und ihres sonstigen Lebens – mit einem starken Band verbinden. Nicht ohne Grund schießen „Mitsing-Konzerte“ und Rudelsingangebote aus dem Boden. Das gemeinsame Erlebnis, der Klang und die geteilte Leidenschaft, öffnet Türen und macht schlicht glücklich.

Chorsingen

Gemeinsam mit anderen Musik zu erschaffen ist ein wichtiger Teil des Chorsingens. Ich behaupte jedoch, dass der wichtigste Grund warum Menschen zu Chorsängern werden, der Wunsch nach Verbindung ist. Erst neulich war nach einem intensiven Chortag, den ich als Chorleiterin begleitet habe, und bei dem der gemeinsame Klang und das Aufeinanderhören im Vordergrund standen, am Ende klar: Das Wichtigste ist, sich wirklich miteinander zu verbinden. Kontakt mit den anderen Menschen und Stimmen scheint, jenseits der Musik an sich, ein Grundbedürfnis zu sein.

Mehrstimmigkeit

Besonders berührend ist es für mich persönlich immer, wenn Menschen mehrstimmig singen. Wie Töne sich verbinden, sich reiben, eine eigene Dynamik entwickeln, sich gegenseitig verstärken und in der Summe mehr sind als zwei einzelne Töne, beglückt mich. Und damit bin ich sicher nicht allein. Es gibt wenig andere Möglichkeiten, dem Phänomen der menschlichen Begegnung so intensiv nachzuspüren. Sich anlehnen an einander. In Reibung treten, nach Auflösung streben. Das sind Aspekte menschlicher Begegnung, die, wenn sie sich als Klang manifestieren, äußerst lustvoll erlebt werden können. Ich kann einen anderen Ton singen als mein Nachbar oder meine Mitsänger. Ich kann Individuum bleiben und mich trotzdem verbinden.

Freie Töne

Diese Phänomene können wir aber nicht nur im Chor erleben. Insbesondere auch das gemeinsame freie Tönen und Improvisieren sind als Experimentier- und Erlebnisraum perfekt. Ich bin stimmlich im Raum. Ich finde meinen Platz. Ich nehme Beziehung auf zu einem Partner oder dem Rest der Gruppe. Ich erlaube mir die Unsicherheit einer echten Begegnung und lasse mich überraschen, was sich daraus entwickelt. Eine solche Stimmbegegnung kann durchaus sehr intim sein. Kann und will ich mich wirklich zeigen? Möchte ich, dass mein Klang sich im Gesamtklang auflöst oder dass er heraussticht? Wird die Begegnung zu einem befriedigenden Ende kommen?

Stille

Und wie erlebe ich die Stille am Ende einer stimmlichen Begegnung? Ist sie lustvoll, prall, energiegeladen oder bin ich oder sind meine Mitsänger erschöpft oder unzufrieden? Stille ist auch gemeinsamer Klang und kann mindestens ebenso sehr als Kontakterlebnis wahrgenommen werden. Stille, bevor ein Klang entsteht, ebenso wie zwischendrin und am Ende. Stille erzählt viel über die, die sie gemeinsam erschaffen und wahrnehmen.

Singen unterm Tannenbaum

In vielen Familien gehört das Singen unterm Tannenbaum immer noch zum Weihnachtsfest dazu. Aber leider wird es nicht immer als Freude, sondern manchmal auch als Pflicht erlebt. Wie wäre es, wenn wir dieses Mal an Weihnachten nicht das Abhaken bestimmter Lieder, sondern das Erlebnis des Zusammenklingens in den Vordergrund stellen würden? Wie würde das gemeinsame Singen sich wohl anfühlen, wenn wir es nicht als Pflichtübung ansehen, als Wettstreit, wer am Schönsten oder Schrägsten singt, sondern wenn wir es aus purem Klang- und Begegnungsgenuss tun?

Alternativprogramm

Wir könnten z.B. unterm Weihnachtsbaum zunächst mal summen. Jeder summt für sich und wir lauschen, wie aus den vielen verschiedenen Tönen eine Klangwolke entsteht. Wenn wir mutiger sind, können wir es auch auf uh oder ah versuchen.
Wenn das doch als zu fremd erscheint, könnten wir eines unserer Lieblingslieder zunächst mal gemeinsam summen. Nicht, damit am Ende auch wirklich jeder „die richtigen Töne singt“, sondern um uns und unseren Stimmen zu erlauben, sich langsam zu entfalten und zu verbinden.
Oder wir stellen uns beim gemeinsamen Singen jeweils zu zweit Rücken an Rücken. Spüren die Wärme des Anderen, bringen leicht unsere Wirbelsäulen in Bewegung und nehmen wahr, wie die Stimme des Anderen und unsere eigene Stimme auf unserer Rückseite vibrieren.

Ich wünsche allen Singenden ein frohes Fest und für das neue Jahr viele glückliche Momente des Zusammenklingens.

Anna Stijohann

Kontakt

Ohne Zweifel ist „Kontakt“ das von mir am häufigsten im Unterricht und auch in der Chorprobe verwendete Wort. Fast scheint es mir, als wäre das die Essenz des Singens überhaupt. Auf so vielen Ebenen suchen und finden wir Kontakt, wenn wir singen und uns ganz allgemein mit der Stimme beschäftigen. Fein, kaum greifbar und doch konkret. Kontakt setzt ein gewisses Maß an Sensibilität voraus und im Grunde ist es das, wonach wir uns alle sehnen. Verbindung, Berührung – im Singen, im Musizieren, wie im Leben.

Was ist Kontakt?

Contingere = Berühren. Kontakt findet immer dann statt, wenn mehrere beteiligte lebendige Systeme sich einander annähern. Dabei begegnen sich die Kontaktparteien gleichberechtigt und im gegenseitigen Einverständnis über die Annäherung. Austausch findet statt. Kontakt ist immer wieder neu, jedes Mal anders und gleichzeitig kann ich mich durchaus darin einüben, wie in ein Spiel. Echter Kontakt ist frei von Manipulation.

Betrachten wir die menschliche Ebene so erscheint uns das selbstverständlich. Was aber bedeutet das, wenn wir uns der Stimme zuwenden? Ich betrachte meine Stimme als „eigenes Wesen“. Die beteiligten Systeme (Muskeln, Knorpel, Atem, Emotion u.a.) bilden im Zusammenspiel eine Einheit, mit der ich als Sänger in Kontakt treten möchte und der dann im gemeinsamen Singen seinen Ausdruck findet.

Einsingen

Am Anfang einer Chorprobe, im Gesangsunterricht, wenn wir selber üben oder vor einem Konzert möchten wir unsere Stimme aufwärmen. Immer seltener spreche ich in diesem Zusammenhang vom „Einsingen“. Für mich selber stellt es sich eher wie eine Kontaktaufnahme dar. Während beim „Einsingen“ irgendwann der Punkt erreicht scheint, an dem ich „fertig“, also „eingesungen“ bin, ist eine stimmliche „Kontaktaufnahme“ ergebnisoffen. Auch der Beginn der „Aufwärmeinheit“ gestaltet sich anders. Ich beginne nicht aus einem Mangel heraus, der behoben werden muss, sondern aus Neugier und Lust am Zusammenspiel. „Wie geht es Dir heute? Hast Du Lust auf einen Austausch? Auf ein wenig gemeinsames Schwingen und Klingen? Was brauchst Du heute?“ Das sind die Fragen an meine Stimme oder an die Stimme des Schülers, von denen ich mich leiten lasse.

Manipulation versus Erleben

Allein diese veränderte Wahrnehmung auf Stimm- und Aufwärmübungen macht häufig den Unterschied, ob ich am Rest der Chorprobe, der Gesangstunde oder einem Auftritt manipulativ oder erlebend teilnehme. Versuche ich die Stimme „unter Kontrolle“ zu bekommen, bestimmte Töne auf bestimmte Weise zu „produzieren“, meine Atemtechnik zu „optimieren“ oderschlicht dafür zu sorgen, dass alles „funktioniert“ (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?), ist eine Begegnung auf Augenhöhe mit der Stimme nicht gegeben und wird sehr wahrscheinlich mit Mühe beim Singen beantwortet werden. Gehe ich mit meiner Stimme in Kontakt, kann aus dem Zusammenspiel Neues und Altes entstehen und ich habe die Chance, wirklich zu erleben. (vgl. Es könnte so einfach sein) Ein lebendiges, lustvolles Singgefühl ist die Folge und sicher nicht die schlechteste Grundlage für die anschließende Chorprobe oder das Konzert.

Stimmkontakt

Auf verschiedenen Ebenen kann ich mit meiner Stimme auf Kontaktsuche gehen. Die Stimmbänder an sich sind ein erstes Beispiel dafür. Sie möchten zusammenkommen und gemeinsam schwingen. Damit das mühelos passieren kann, braucht es den Kontakt mit der Atemluft, die durch ihre Strömung dafür sorgt, dass die Stimmlippen zueinander kommen. Diesen Ort des Kontaktes einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, lohnt sich. (vgl. Und wo singst Du so?) Ein Gespür dafür zu bekommen, wie sich echter Stimmkontakt anfühlt – fein, vibrierend und äußerst filigran – kann den Sänger dafür sensibilisieren, wie wenig Kraftaufwand es braucht, einen Ton entstehen zu lassen. Mit den Händen kann ich wiederum durch äußeren Kontakt am Hals das feine Vibrieren erleben und somit eine weitere Ebene des Verstehens zufügen.

Körper-Stimm-Kontakt

Als Ergänzung zum Kontakt der Stimmbänder braucht es außerdem den Kontakt zwischen Körper und Stimme. (vgl. Klangkörper) Gerade an dieser Stelle ist die Gefahr groß, dass der Körper vor allem manipulativ eingesetzt wird. Gängige Konzepte von „Stütze“ vermitteln teilweise den Eindruck, es bräuchte vor allem aktiven Muskelzugriff an ganz bestimmten Stellen des Körpers. Hier ein wenig Druck, hier etwas Zug mit dem Ergebnis, dass die Stimme dann „besser funktioniert“.

Ich bin anderer Meinung. Selbstverständlich unterstützt der Körper die Stimme durch Aktivität und sorgt für Klangfülle, Kraft und Flexibilität. Aber er tut dies vor allem aus sich selbst heraus. Alles was wir tun müssen, ist dafür zu sorgen, dass der ganze Körper beweglich ist und die unterstützenden Systeme reaktionsbereit sind. Dieser Zustand entsteht durch Kontakt und der entsteht wiederum durch Hinwendung und Aufmerksamkeit. Die Kraft unserer gelenkten Wahrnehmung ist diesem Zusammenhang das Werkzeug der Kontaktaufnahme. (vgl. Bewusstsein als Tür)

Der Körper führt, die Stimme folgt

Meine favorisierten Wege, die Stimme und den Körper in Kontakt zu bringen sind das Schütteln, das Spüren von Gewicht, große und kleine Bewegungen sowie der spürende Kontakt mit den Händen. Und egal welchen dieser Wege wir wählen, immer geht es ums Loslassen und das Vertrauen, dass der Körper die Führung über den entstehenden Ton übernehmen kann. (vgl. Kontrollverlust – Ja bitte!) Dabei verstehe ich Führung hier wie bei einem gut eingespielten Tanzpaar.

Der Mann führt die Dame, er lenkt und gibt Orientierung. Sie folgt und nutzt diese Führung für ihre Bewegungen. Dort holt sie sich den Schwung für Drehungen und Schwünge, wird nach einer Hebefigur aufgefangen und findet immer wieder Anlehnungsmöglichkeit. Das Tanzpaar Körper und Stimme kann nur zusammen funktionieren. Jeder für sich bleibt eindimensional und keinsfalls ist der eine Partner der manipulierende Lenker und der andere der passive Spielball. Nimmt das Paar seine Kraft und Dynamik nicht aus dem respektvollen Zusammenspiel, entsteht unnötige Mühe. Gelingt der Kontakt, entsteht ein Einheit, die ausdrucksstärker ist als die Summe seiner Teile.

Kontakt üben

Wie mit einem guten Freund, gelingt der Kontakt mit der Stimme durch regelmäßiges Üben immer leichter. Manches geht mit der Zeit wie von selbst, andere Aspekte des gemeinsamen Erlebens brauchen immer wieder Aufmerksamkeit. An manchen Tagen stellt sich Kontakt spontan ein, manchmal ist es einfach die Tagesform der beteiligten Parteien, die das Zusammenkommen erschwert. Im Gegensatz zur Manipulation ist Kontakt, besonders wenn er noch auf wackligen Beinen steht, auch leicht störbar. Trotzdem nicht aufzugeben, sondern guten Mutes immer und immer wieder den Kontakt zu suchen, ist unsere Aufgabe als Sänger und auch als Lehrer.

Kontakt mit Anderen

Dass es auch im Verhältnis von Schüler und Lehrer sinnvollerweise um Kontakt und nicht um Manipulation gehen muss, erscheint mir selbstverständlich. Auch im Musizieren mit anderen gibt es für mich keine Alternative. Gerade im Chor erscheint mir das immer wieder als Herausforderung. Welche Rolle hat der Chorleiter dann? Wie kann in einer so großen und in den meisten Fällen heterogenen Gruppe wirklich Kontakt stattfinden? In einer Band oder einem kleinen Ensemble ist es sicher einfacher, aber ich bin davon überzeugt, dass es sich so oder so lohnt, immer wieder im gemeinsamen Singen und Musizieren echten Kontakt einzufordern. Menschen wünschen sich Verbindung und scheuen sich gleichzeitig vor Kontakt. Im Kontakt muss und kann ich mich zeigen und in einen echten Austausch gehen. Der Austausch, das „Hin-und-Her“ wird sich in jedem Fall verstärkend auf den Klang, die Musik und das Gefühl des gemeinsamen Schwingens auswirken.

Was erzählt die Musik?

Auch mit der Musik an sich möchte ich in Kontakt gehen. Rhythmen, Klänge, Harmonien – gelingt es mir, mich wirklich einzufühlen, kann ich mich ganz anders musikalisch verorten und ausdrücken, als wenn ich versuche diese zu „beherrschen“ und auf biegen und brechen zu üben, damit es „funktioniert“. (vgl. Rhythmusarbeit) Wie erlebe ich spannungsgeladene Chor-Akkorde und ihre Auflösung? Wie und wo kann ich den durch und durch pulsierenden Groove eines Songs spüren? Phrasenlänge, musikalische Bögen, Artikulation und Dynamik – das alles kann ich nur wirklich begreifen, wenn ich mich der Musik mit intensiver Aufmerksamkeit (z.B. in Improvisation) zuwende und mich ihr auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen annähere.

Emotion

Dicht verwoben ist der musikalische Kontakt mit dem emotionalen Kontakt (vgl. Nackt). Welche Grundstimmung hat ein Musikstück, was ist die zugrundeliegende Emotion? Wo kann ich mich von der Musik berühren lassen, wo gibt es Raum, meine eigenen Gefühle durchklingen zu lassen? Von außen festgelegter emotionaler Ausdruck ist schwer in echte, eigene Beteiligung umzuwandeln. Was ist mein ganz persönlicher Zugang zum Stück? Was gefällt mir besonders gut? Warum habe ich dieses Stück ausgewählt? Was macht das Besondere aus? Das sind die Fragen, die ich mir und meinen Schülern immer wieder stelle. Kontaktaufnahme mit den musikalischen und emotionalen Inhalten eine Stückes kann auf vielerlei Weise stattfinden. Körperlich-spürend, imaginierend, der Sprache nachlauschend, mithilfe von Pinsel und Farben, durch Assoziationsketten und eigene Subtexte.

Dann kann sehr persönliche und berührende Musik entstehen.

Stimmliche Kontakterlebnisse mit intensiven Überraschungen wünscht

Anna Stijohann

Singenlernen ist nicht linear

Manchmal fragen mich Menschen, wie viele Stunden Gesangsunterricht man denn so „nehmen müsse“. Oder ob ein bestimmter Kurs auch was für Fortgeschrittene sei; man „habe ja schon Erfahrung“. Vielleicht liegt es an meiner ganz persönlichen Einstellung zum Singenlernen, aber ich muss dann immer ein wenig ausholen. Als Gesangspädagogin gibt es für mich keinen „Fahrplan“ nachdem ich meinen Unterricht aufbaue und meine Kurse sind fast immer offen für alle Menschen. Vom Anfänger bis zum Profi. Je heterogener die Gruppe, desto schöner. Je verschiedener die Menschen und Stimmen, desto breiter und vielseitiger das Lernpotential.

Bestandsaufnahme

Natürlich habe ich soetwas wie „eine erste Stunde“ parat. Wenn ein Schüler ganz neu zu mir kommt, biete ich meist etwas an, das mir leicht fällt, nicht unbedingt voraussetzt, dass man die Baustellen des Schülers schon gut kennt und am Ende den Schüler mit einem positiven Stimmerlebnis nach Hause gehen lässt. Doch ich werde immer wieder dort beginnen müssen, wo der Schüler gerade ist. Und das kann so unterschiedlich sein, wie Menschen eben unterschiedlich sind. Mancher ist ehrgeizig und dabei vielleicht verkrampft, ein anderer locker und neugierig, ein Dritter ängstlich oder skeptisch. Das Lernergebnis ist nicht vorhersehbar.

Wie lange dauert’s noch?

Jeder Schüler bringt andere Voraussetzungen mit. Wenn man mich fragt, wie lange es denn dauert, bis man „merkt“, dass der Gesangsunterricht „etwas bringt“, antworte ich meist: „Das ist sehr individuell verschieden. Es hängt natürlich davon ab, wie intensiv sich jemand auch außerhalb der Stunde mit seiner Stimme beschäftigt. (vgl. Wieviel muss ich üben?) Dazu kommen die Vorerfahrungen, sowie persönliche Ziele und Begabungen. Auch Ängste und Zweifel spielen eine Rolle. Im Durchschnitt spürt oder hört der Schüler nach fünf Stunden selber einen deutlichen Unterschied. Nach etwa zehn Stunden nehmen das auch die Menschen der Umgebung wahr. Bei dem einen geht es schneller, bei dem anderen langsamer.“

Singen ist komplex

Deswegen passiert im Gesangsunterricht mal viel und mal fast nichts. Manchmal biete ich eine Übung an, die genau ins Schwarze trifft und ein echtes Aha-Erlebnis ermöglicht. Und manchmal passiert eben – nichts. Zumindest scheint es so. Denn keine Stunde ist umsonst. Irgendetwas wird immer im Schüler nachklingen und allein darum geht es. Es ist im Gesangsunterricht wenig sinnvoll, ein Thema nach dem anderen „abzuhaken“. Alles hängt mit allem zusammen und ist zudem höchst persönlich. So viele Faktoren beeinflussen unser Singen, dass wir nicht davon ausgehen können, dass jemand anderer als der Schüler selbst, den nächsten Schritt gehen kann. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)

Lass dich überraschen

Manchmal gehe ich deswegen unzufrieden oder frustriert aus einer Stunde, weil ich das Gefühl habe, nichts von dem, was wir gemacht haben, sei angekommen. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass es immer wieder auch Stunden gibt, in denen ich überrascht werde. Dann entwickelt sich aus einer Situation, einer scheinbar banalen Schülerfrage oder einer gemeinsam entwickelten Übungsidee wahre Sternstunden. (vgl. Intuition) Und aus solchen Momenten entstehen dann wiederum meine „Wochenthemen“. Übungen, Ideen, Fragen, Blickwinkel, die sich durch mehrere Stunden mit ganz unterschiedlichen Schülern ziehen. Und die sich allein dadurch wandeln, dass verschiedene Menschen sich damit beschäftigen. So lerne auch ich durch das Unterrichten immer wieder neu und vertiefe meine Erfahrungen.

Lernen in Kreisen

Genauso ist es auf der Schülerseite. Manchmal greife ich nach einer ganzen Weile, manchmal nach Monaten oder Jahren, eine Übung wieder auf. Und siehe da, der Schüler erlebt diese nun ganz anders als beim ersten Mal. Singen lernen geschieht – wie das Leben selber 😉 – in Kreisen. Bestimmte Themen müssen immer wieder serviert werden, bis sich etwas im Schüler setzt. Die gleiche Übung mit einem anderen Aufmerksamkeitsschwerpunkt oder mit anderen Worten beschrieben, ermöglicht eine ganz andere Erfahrung oder einen neuen Blickwinkel auf ein Problem oder Phänomen. Und im Idealfall kommen die Schüler dann ganz von allein zu einem Ergebnis, das man schon hundertmal angesprochen hat und für das die Zeit einfach noch nicht reif war.

Was ist dann (Lern-)Erfolg?

Erfolgreicher Unterricht findet immer dann statt, wenn der Schüler für sich das Gefühl des Fortschritts erlebt. Etwas wird im Laufe der Zeit leichter, geschmeidiger, intensiver. Ob ein Schüler nach drei Jahren Unterricht dieses oder jenes Stück singen kann und den einen hohen Ton erreicht, ist für mich überhaupt nicht wichtig. Natürlich freue mich, wenn ich bemerke, dass sich Grenzen verschieben und plötzlich Dinge möglich sind, die vorher nicht in Reichweite waren. Aber im Endeffekt geht es mir ganz allein darum, dem Schüler ein Gefühl des persönlichen Voranschreitens zu ermöglichen und das, was wir tun, als wertvoll zu erleben. Es geht darum, dem eigenen Potential immer mehr auf die Spur zukommen. Jeder in seinem Tempo, jeder auf seine Weise.

Die Wirklichkeit ist der beste Lehrer

Wie ein Kind, das Laufen oder Radfahren lernt, geht es auch beim Singen und allgemein in der Arbeit mit der Stimme um das Tun selber. Nur durch das Tun, durch das Entdecken und Probieren kommt etwas in Bewegung. Meine Aufgabe als Lehrerin ist es zu motivieren und neue Impulse zu geben. (vgl. Über den Tellerrand) Und sobald sich Sicherheit oder Routine eingestellt hat, sucht sich der Stimmschüler – genau wie das radfahrende Kind – von ganz allein neue Herausforderungen. Die „musikalische Wirklichkeit“ ist dabei der beste Lehrer. Eine Band, ein Chor oder das Ausprobieren einer ganz neuen Stilrichtung im altbekannten Vokalensemble bieten guten Grund zu Üben und reichlich Anlass Neues auszuprobieren.

Und in der Gruppe?

Meine Kurse sind stets offen für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis. Jeder kann mitmachen und jeder arbeitet auf seiner eigenen Baustelle. Unterschiedliche Vorerfahrungen ermöglichen unterschiedlich tiefe Erlebnisse. Wer viel Erfahrung im Spüren und wachen Erleben hat, wird mehr Details wahrnehmen oder die Relevanz des Erlebten für sich selber besser einschätzen können. Nichtsdestotrotz benutzt manchmal ein Anfänger Worte, die dem Profi nie eingefallen wären und doch den Nagel auf den Kopf treffen. Dem Fortgeschrittenen tut möglicherweise der frische Anfängergeist gut, der schüchterne Chorsänger kann vielleicht auf der Welle eines erfahrenen Solisten mutig mitschwimmen. Meine Aufgabe als Kursleitung kann und muss es sein, eine positive Atmosphäre und einen bewertungsfreien Raum zum Experimentieren zu schaffen.

Am Ende suchen alle das Gleiche

Unabhängig von den Vorerfahrungen sind es immer wieder die gleichen Themen, die auftauchen. Es geht um Freiheit und Sicherheit (vgl. Kontrollverlust – Ja bitte!), um das Erweitern der persönlichen Ausdruckmöglichkeiten, darum, gesehen werden (vgl. Was ist eine schöne Stimme?), um Anerkennung, Freude am Tun und um Lebendigkeit (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit). Je heterogener die Gruppe, desto schwieriger scheint es auf den ersten Blick, alle inhaltlich unter einen Hut zu bekommen. Aber wenn am Ende klar wird, dass es gar nicht ums „höher-schneller-weiter“ geht, sondern um das, was jedem einzelnen Schüler Zufriedenheit schenkt und seine Freude am Tun nährt, begegnet man sich auf Augenhöhe. Und das kann sehr berührend sein.

Weniger Üben und Unterrichten nach Plan und mehr menschliche Begegnungen wünscht,

Anna Stijohann

Klangkörper

Beim Singen sind wir sind das Instrument. Vom Scheitel bis zur Sohle, nichts ist unwichtig, nichts überflüssig. Um sich beim Singen wirklich als klingender Körper, als Klangkörper, wahrnehmen und erleben zu können, spielen die Faszien eine entscheidende Rolle. Faszien. Das lange unbeachtete Bindegewebe, das erst seit ungefähr 15 Jahren intensiver wissenschaftlich erforscht wird und das erstaunliche Überraschungen und Möglichkeiten bereit hält. Auch für die Stimme und das miteinander Musizieren.

Was sind Faszien?

In jedem Fitnessstudio gibt es mittlerweile Faszienyoga und jeder, der einmal mit Rückenschmerzen beim Physiotherapeuten war, besitzt heutzutage eine „Faszienrolle“. Deswegen möchte ich nur ganz kurz beschreiben, was Faszien sind und dabei die Aspekte herausstellen, die mir besonders wichtig und fürs Singen von Bedeutung sind. Als Faszien bezeichnet man in der Regel jede Art von Bindegewebe im Körper. Alles im Körper ist von diesen elastischen Häuten umgeben. Vorstellen kann man es sich wie die Häute einer Orange. Außen gibt es die Schale. Innen teilt sich die Frucht in mehrere Stücke. Jedes Stück enthält kleine Saftschnipselchen, die wieder jeweils von einer Bindegewebshaut umschlossen sind. So ist es auch im Körper. Jedes Organ, jeder Muskel, jede Muskelfaser usw. ist von Faszien umgeben. Sie trennen alles voneinander und verbinden gleichzeitig alles.

Faszien und Stimme

Warum sind die Faszien für uns beim Singen interessant? Das elastische Bindegewebe hat einen entscheidenden Anteil an unserer Aufrichtung und der inneren (Auf-)Spannung. Damit sind die Faszien wichtig für alles, was mit innerer Anlehnung, Atem-Ton-Balance, vor allem aber auch unserer Schwingungsfähigkeit als Klangkörper zu tun hat. Die Beschäftigung mit den Faszien kann diese Schwingungsfähigkeit enorm verbessern oder wiederherstellen, was im Endeffekt bedeutet, dass das Singen müheloser und gleichzeitig genussvoller wird. Außerdem funktioniert unser „Körpersinn“ (also unsere innerliche Repräsentation davon, wie und wo wir uns im Raum und in der Schwerkraft befinden und inwieweit wir die Aktivitäten unseres Körpers bewusst erleben können) über die Faszien. Kurz gesagt, ermöglichen uns die Faszien den innerlichen, spürenden Zugang zu unserem Instrument Stimme.

Klanghülle

Die äußerste Faszienschicht umschließt uns komplett wie eine „Tüte“. Unter der Haut, unter dem Fettgewebe liegt diese „Faszia Profunda“, die zum Singen äußerst interessant ist. Vom Scheitel bis zur Fußsohle hängen wir darüber zusammen. Eine Idee davon können wir bekommen, wenn wir uns diese Ganzkörperhülle wie einen elastischen Taucheranzug vorstellen und uns mit dieser Vorstellung bewegen, dehnen, strecken. Unsere Bewegungen bekommen eine andere Qualität. Unsere Aufmerksamkeit ist anders gebündelt. Mein Chor nennt diese Art der Dehnung scherzhaft „Räkeln deluxe“ 🙂 Und wenn wir die Stimme tönend dazunehmen, kriegen wir eine erste Ahnung, wie nützlich diese Klanghülle im Sinne einer inneren Anlehnung beim Singen sein kann.

Selbstregulation

Innerlich gibt es soviele Faszien und Faszienbahnen, dass man gar nicht weiß, welcher man sich zuerst zuwenden möchte. Aber die gute Nachricht ist, wir können einfach dort beginnen, wo uns unsere Intuition hinzieht. Wenn wir mit der oben beschriebenen Taucheranzugübung beginnen, fängt der Körper meist von selbst an, Bewegung und Aufmerksamkeit einzufordern. Ein leichtes Hin- und Herschwingen, Dehnungs- und Bewegungsbedürfnis oder der Wunsch nach Wippen oder Schütteln sind die Sprache des Körpers. Wir brauchen nur zu lauschen und seine Anregungen aufzunehmen.

Wie können wir mit den Faszien Kontakt aufnehmen?

Faszien können unglaublich viele verschiedene Dinge. Deswegen reagieren sie auch auf ganz unterschiedliche Reize. Für mich gibt es eine handvoll wesentlicher Möglichkeiten, den Körper über die Arbeit mit den Faszien in einen schwingungsfähigen Zustand zu bringen. Zunächst ist es das Dehnen, das neue Räume und Anlehnungsmöglichkeiten bietet. Wie fühlt es sich an, wenn wir uns in die Töne hineindehnen oder eine Dehnung, egal welcher Art, als Anlass für die Stimme nehmen? (vgl. Bewegung als Schalter)

Weiterhin mögen Faszien alles was mit Wippen, Federn und Schwingen zu tun hat. „Turnvater Jahn“ lässt grüßen 🙂 Bei den Übungen dieser Kategorie kann man vor allem das stimmliche Loslassen üben (vgl. Geschüttelt nicht gerührt). Wippen in den Fußgelenken, Trampolinspringen oder Schwingen mit den Armen oder einem Swingstick sorgen für innere Aktivierung, Wachheit und Lockerheit. Fügen wir dem Körper auf diese Weise von außen Schwingung hinzu, hat er auch Lust, aus sich heraus zu schwingen und somit zu klingen.

Darüber hinaus kann ich meine Faszien durch Massage (z.B. Fußmassage mit einem kleinen Ball oder Rückenmassage mit einer Faszienrolle o.ä.) aktivieren. Durch den Druck wird das Wasser aus der Bindegewebsschicht herausgedrückt und beim anschließenden Lösen saugt sich das Gewebe neu mit Flüssigkeit voll und wird somit beweglicher, gleitfähiger und fühlt sich saftiger, lebendiger und elastischer an. Und klingt auch so. Das können wir ausprobieren, wenn wir unserer Stimme freien Lauf lassen und z.B. dem wohlig-schrecklichen Massageschmerz erlauben, sich in Klang umzuwandeln. (vgl. Jubilieren gegen Höhenangst).

Gut funktioniert das auch beim gegenseitigen Massieren (z.B. bei bipolaren Atem- und Stimmmassagen nach Renate Schulze-Schindler). Die eigene Stimme an die Hände des Massierenden zu hängen und einfach mit der Stimme den Bewegungen zu folgen, macht große Freude und öffnet manchmal ungeahnte Klangräume.

Die fürs Singen vielleicht wichtigste Möglichkeit mit den Faszien in Kontakt zu kommen ist das Spüren. Faszien sind wesentlich an unserer Sensomotorik – also dem „wie bewege ich mich“ – beteiligt und sobald wir in einer Bewegung spürend anwesend sind (vgl. Bewusstsein als Tür), sind auch unsere Faszien aktiv(er) beteiligt. Ich verwende vor allem zwei Grundprinzipien.

Zum einen benutze ich immer wieder Mikrobewegungen, also kleine bis kleinste Bewegungen z.B. der Wirbelsäule, des Beckens oder des Kopfes. Wenn ich große Bewegungen ausführe, liegt der Schwerpunkt meist im Schwung oder der allgemeinen Aktivierung. Bei kleinen Bewegungen kann ich mich der spürenden Aufmerksamkeit kaum entziehen.

Diese wird ebenso geweckt, wenn ich mich während des Bewegens (und Singens (!)) auf die Schwerkraft konzentriere (vgl. Singen im freien Fall). Wie schwer ist mein Arm? Wie fühlt sich gehen an, wenn ich mich auf das Gewicht meiner Beine konzentriere? Wie klingt meine Stimme dann? Als Einstieg dazu eignet sich dazu auch gut die Arbeit mit Sandsäckchen oder anderen schweren Gegenständen. Auch Balancespielzeuge, wie das Schwingbrett, wecken den „Körpersinn“.(vgl. Spielzeug zum Singen)

Faszienarbeit im Stimmalltag

In der alltäglichen Gesangsunterrichts- und Übepraxis gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Faszienarbeit einzubeziehen. Einmal kann ich Faszienübungen (z.B. aus dem Fitnessbereich, Yoga, Feldenkrais o.ä.) zum allgemeinen körperlichen Aufwärmen benutzen. Ist der Körper wach, geschmeidig und klangbereit, hat die Stimme es leicht (vgl. Es könnte so einfach sein).

Zum Anderen kann ich die Faszienübungen direkt mit Stimmübungen kombinieren. Das Singen und Tönen mit Dehn- oder Spürübungen oder in Kombination mit einer Massage lässt den Sänger körperliche Zusammenhänge beim Singen und innere Anlehnungsmöglichkeiten sehr direkt spüren. Dieses konkrete, „fleischliche“ Erleben ist häufig einprägsamer und nachhaltiger als das reine Denken oder Imaginieren. Die individuellen Verständnismöglichkeiten werden um die körperliche Ebene sinnvoll ergänzt.

Körperklang

Und schließlich wird Faszien-Stimm-Arbeit für mich persönlich zum Hochgenuss, wenn wir es schaffen, dass Körper und Stimme sich gegenseitig befruchten. Rhythmusarbeit und Improvisation, wenn sie mit Bewegung einhergehen (z.B. Circlesinging, TaKeTiNa o.ä.), können ein möglicher Aufhänger dafür sein. Ich biete z.B. regelmäßig die Körperklangstunde an, in der eine Stunde lang Bewegung und Stimme in wechselseitige Beziehung gehen. Wippen, Hüpfen, Dehnen, Spüren, Tönen, Summen, Klang und Rhythmus gehen ineinander über und sorgen für ein zutiefst lebendiges Gesamtgefühl. (vgl. Seufzen auf Krankenschein). Aktive Phasen wechseln sich mit ruhigeren spürenden ab und sorgen letztlich dafür, dass der Kopf leer, der Körper lebendig, die Stimme frei und das Herz glücklich ist.

Dank der unglaublichen Faszien ist alles mit allem verbunden. Großartige Sache!

Reichlich Stimmgenuss und Körperklangfülle wünscht,

Anna Stijohann

P.S. Wer Lust hat, ganz STIMMSINN-praktisch in die Arbeit mit Faszien und Stimme einzusteigen, dem möchte ich meinen Onlinekurs „Körperklang – Du bist das Instrument!“ ans Herz legen. Der Kurs ist ein Selbstlernkurs und Du kannst – wenn Du willst – heute noch starten.

Und wo singst Du so?

Wenn man Kinder fragt, wie man eigentlich genau singt, ist meist die erste Antwort: „Mit dem Mund!“ Erwachsene wissen darüber hinaus häufig, dass es sowas wie „Stimmbänder“ im Hals gibt. Manchmal fallen auch die Begriffe „Kopf- und Bruststimme“, manche Menschen möchten gar mit ihrer „Bauchstimme“ singen. Mit dem „Herzen“ möchten wir natürlich auch singen und um die Verwirrung perfekt zu machen, spreche ich persönlich immer wieder vom ganzen Körper als „das Instrument“. Tja, da stellt sich die Frage, welche Ideen korrekt oder zumindest zum Singenlernen hilfreich sind. Ganz behutsam möchte ich versuchen ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen und Bilder, Wahrnehmungs- und Arbeitsansätze vor allem für die Arbeit mit Laien vorschlagen.

Stimme passiert im Hals

Legen wir einmal die Hände vorne an den Hals und sprechen ein langgezogenes [mmh], als würde uns etwas besonders gut schmecken. Dann können wir ganz deutlich spüren, wie das Gewebe schwingt. Auch wenn wir ein [a] auf diese Weise ertönen lassen, spüren wir die Vibrationen. Ich schreibe ganz bewusst nicht „singen“, denn es geht nicht um einen Schönklang auf einer festgelegten Tonhöhe, sondern nur um den ganz simplen Vorgang, dass die Stimmbänder – angeschwungen von der Atemluft – anstrengungslos zum Klingen kommen. Wie passiert das genau? Wir können diese kleine Übung mehrfach wiederholen oder z.B. in einem „Atemzug“ erst Luft strömen lassen, dann einen Ton zum Klingen bringen, dann wieder Luft, dann wieder Ton. Was ist der Unterschied? Wie geschieht dieses „Anschwingen“?

Stimmbänder möchten schwingen

Der amerikanische Vocalcoach PER BRISTOW (Sing with freedom) weist bei dieser Übung auf im Grunde nur zwei wesentliche Fehlerquellen hin. Erstens: Der Ton ist zu hauchig, die Stimmbänder schließen also nicht richtig, kommen nicht in Kontakt, der Ton ist nicht klar, zu viel Luft geht verloren. Zweitens: Zu wenig Atem fließt und die Stimmbänder haben in sich eine zu hohe Spannung. Freie Schwingung ist nicht möglich.
Um genau den Mittelweg zu finden und so auf sehr einfache und wirkungsvolle Weise zu erleben, wie leicht singen sein kann, ist es sinnvoll, beide Extreme einmal auszuprobieren. Die meisten Menschen können das sofort nachmachen, wenn man es demonstriert und auch im Chor ist das ein sehr einfaches Mittel um die Sänger für ein zuviel an Spannung oder überlüftete Töne zu sensibilisieren. Unsere Stimmbänder möchten in Kontakt kommen und gemeinsam locker und entspannt schwingen. Im Grunde eine sehr einfache Essenz dessen, wie Stimmgebung funktioniert.

Tonhöhe hat nichts mit Höhe zu tun

Wenn nun die Stimme entspannt auf beliebiger Tonhöhe schwingt, können wir beginnen kreuz und quer durch unseren Stimmambitus zu experimentieren. Schleifen, Loopings, Glissandi und irgendwann kleine Übungsphrasen, Tonleitern usw. Wichtig: Es bleibt beim „Geräusch“. In den allermeisten Fällen geht beim Gefühl von „Singen“ nämlich der gerade eben gefundene, natürlich-entspannte Kontakt zur Stimme verloren und innere Bewertungen (richtig/falsch, zu hoch/zu tief, schön oder schräg) wirken kontraproduktiv. Sehr hilfreich in diesem Zusammenhang ist der Hinweis, dass die Tonhöhe der Stimme überhaupt nichts mit „Höhe“ zu tun hat, sondern, leicht vereinfacht gesagt, mit Länge und Spannung. Wie Gummibänder werden die Stimmbänder in die Länge gezogen und gedehnt. Dadurch ergibt sich eine andere Schwingungsfrequenz und damit eine veränderte Tonhöhe.

Anschauungsmaterial

Eine handvoll Haushaltsgummis – in der Chorprobe an alle verteilt – kann da ziemlich schnell auch für erlebte Klarheit sorgen. (vgl. Spielzeug zum Singen) Erstaunlich, wie anders sich der Körper organisiert, wenn man ein kleines Gummiband in der Hand hält und damit die dehnende Stimmbewegung simultan zum Singen ausführt. Dazu noch ein kurzer Hinweis: Erstaunlich viele Menschen gehen davon aus, dass sich die Stimmbänder hochkant im Hals befinden. Dieses Missverständnis kann schnell ausgeräumt werden, wenn die Gummibänder parallel zum Fußboden gehalten und gespannt werden. Ganze Stücke oder auch einzelne schwierige Stellen können so geübt und viele unnötige Hilfsspannungen (z.B. Hochrutschen des Kehlkopfs) auf diese Weise vermieden werden.

Es gibt nur eine Stimme

Abgesehen davon, dass man dem sicher einen ganzen eigenen Artikel widmen könnte, möchte ich an dieser Stelle ganz kurz meine persönliche Einschätzung zum Phänomen „Bruststimme – Kopfstimme“ geben. Zuallererst: Es gibt keine zwei Stimmen! Und schon gar nicht an zwei unterschiedlichen Orten!

Ja, es gibt unzählige Möglichkeiten des Schwingens der Stimmlippen und komplexe Muskelaktivitäten, die letztendlich am Klang der Stimme beteiligt sind. Für die meisten Menschen ist es in der Lernphase aber eher hinderlich für die Entdeckung der in allen Lagen frei schwingenden Stimme, sich an den Begriffen Brust- und Kopfstimme zu orientieren. Dass es da mehr Missverständnisse und offene Fragen (Um was geht es eigentlich? Resonanz oder Stimmerzeugung? Muskelaktivität? Atemfluss oder Atembremse? usw.) als Klarheit gibt, ist häufig genug in der Literatur gesagt worden und auch ich habe schon darüber geschrieben. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)

Meine Überzeugung ist: Wenn eine Stimme gelernt hat frei zu schwingen, kann sie sich in ihrer Textur dem emotionalen bzw. musikalischen Kontext anpassen und die perfekte „Mischung“ entsteht quasi von selbst. (vgl. Singen ist Singen)

Stimme und Artikulation passieren an unterschiedlichen Orten

Wie oben beschrieben, entsteht die für den Klang nötige Schwingung der Stimmbänder im Hals. Die passende Artikulation dazu findet eine Ebene höher statt, nämlich im Mundraum. Zunge, Lippen, Zähne und Mundinnenraumform sorgen für die Verständlichkeit der Sprache. Es passiert häufig, dass sich die Artikulationsorgane in die Stimmgebung einmischen und das führt in der Regel – weil mit zu viel Hilfsspannung verbunden – zu Problemen. Für einen freien Stimmklang ist eine bestimmte Einstellung im Mundraum meiner Meinung nach nicht nötig. Wenn beides gut voneinander differenziert ist, kann der Mundraum natürlich als Resonanzraum dienen und unterschiedliche Lippen-, Zungen- und Kieferstellungen können auf den Klang einwirken, aber das ist für mich erst der zweite Schritt.

Resonanz im Kopf

Kann die Stimme im Hals störungsfrei schwingen, braucht es einen Resonanzkörper um den Klang voll, tragfähig und für jeden Menschen einzigartig zu machen. Zunächst einmal dient der Schädel mit seiner holzkugelähnlichen Bauweise der Klangverstärkung. Ob der Klang nun „vorne oder hinten“ schwingen soll, darüber streiten sich die Gesangspädagogen leidenschaftlich. Ich empfehle vor allem, die vielgestaltigen Resonanzräume im Schädel durch das Singen mit verschlossenen Ohren zu erkunden. (vgl. Ohren auf!) Auf den Vokalen [u] und [i] geht das besonders gut und selbst jeder Anfänger merkt, wie intensiv einzelne Töne im Schädel resonieren. Ich fordere die Schüler oder Chorsänger meist auf, innerlich nach den Tönen auf die Suche zu gehen, die es im Kopf „so richtig scheppern lassen“ und von da aus nach und nach andere Tonhöhen und Vokale zu erkunden. Auch auf verschiedene Klinger [ng], [m],[n] usw. lassen sich mit verschlossenen Ohren unterschiedliche Resonanzräume im Schädel ausloten.

Resonanz – Körper

Aber nicht nur der Schädel dient der Resonanz, sondern der ganze Körper. Dabei spielt vor allem der Eutonus, die gute Spannung, eine Rolle. Wir möchten von Kopf bis Fuß schwingungsfähig sein, damit unser ganz eigener Klang – nämlich der individuelle Klangabdruck unseres gesamten Körpers mit all seinen Knochen, Muskeln, Spannungen und Beschaffenheiten – hörbar wird. Die feinen Vibrationen der Stimme lassen sich überall ertasten. Je näher am Hals, desto leichter, aber ich habe es auch schon erlebt, dass mein Körper beim Singen bestimmter Töne bis in die Fingerspitzen vibriert hat.

Und selbst wenn der Körper nicht fühlbar bis in jede Zelle schwingt, so hat er beim Singen doch eine ganz wichtige weitere Aufgabe.

Stabilität und Flexibilität

Alles im Körper hängt mit allem zusammen. Das wissen wir seit dem Beginn der Faszienforschung endlich nicht nur intuitiv, sondern meßbar und nachprüfbar. Die feine Struktur der Faszien sorgt dafür, dass unser Körper elastisch ist und auch wenn er in heftige Schwingungen kommt – wie z.B. beim Singen kräftiger hoher Töne – noch stabil bleibt. Der Körper mit seinen Muskeln und dem Bindegewebe bietet beim Singen Ausgleichsaktivitäten an, die den Klang, den Atem und unsere Haltung in Balance halten. Zug- und Druckphänomene werden im Idealfall genau aufeinander abgestimmt und stimmliche Stabilität und Kraft bei gleichzeitiger Flexibilität sind die Folge. Das ist das, was ich als Stütze bezeichnen würde. Das sensible und gut koordinierte Zusammenspiel der Diaphragmen (Zwerchfell, Beckenboden, Stimmlippen, Gaumensegel u.a.) ist ein Aspekt dieser Balance. Das „Andocken“ des Klangs an die Schwerkraft kann eine Möglichkeit sein diese zu finden (vgl. Singen im freien Fall und Lebendig sein heißt instabil sein). Manchmal kann es auch sinnvoll sein, sich vorzustellen, der Ton beginne in einem bestimmten Körperteil, z.B. im Becken, am Brustbein oder den Flanken (vgl. Bewegung als Schalter). Der Stimmklang wird dann räumlicher und vielschichtiger und der Ton erhält neue Möglichkeiten der inneren Anlehnung. (vgl. Anlehnen an den Atem)

Aufmerksamkeitsort

Insgesamt lässt sich sagen, dass es vor allem ein Frage der Aufmerksamkeit ist, wo und wie ein gesungener Ton sich manifestiert. Allein durch den Punkt unserer Konzentration können wir alles verändern. Singe ich z.B. eine Weile mit geschlossenen Ohren, wird meine Aufmerksamkeit danach immer noch beim „inneren Hören“ bleiben. Konzentriere ich mich auf die Vibrationen in meinem Hals, so werden sich diese immer weiter verstärken. Die Aufmerksamkeit dient quasi als Katalysator für unsere Erfahrung beim Singen und wir sollten sie keineswegs unterschätzen. Da jeder Sänger und jeder Körper anders ist und ein anderes inneres Bild von sich selbst hat, ist die Steuerung der Aufmerksamkeit ein wichtiges Mittel des Lernens. Ich als Gesangspädagoge kann durch die Wahl meiner Sprache, meiner Bilder oder das bewusste Lenken der Schülerwahrnehmung Dinge ins Bewusstsein bringen, die helfen, das eigene Instrument Stimme mit allen Aspekten immer besser zu verstehen. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)

Herz auf und los!

Insbesondere darf bei all den unterschiedlichen „Singorten“ natürlich nicht vergessen werden, dass es mindestens zwei weitere, weniger greifbare, Aufmerksamkeitsorte gibt, von denen aus es sich herrlich singen lässt. Unser Herz, unsere Emotionen, unsere Leidenschaft für das was gesagt und gesungen werden muss, ist ein – vielleicht der – wichtigste Motor für das Singen. (vgl. Nackt) Die Begeisterung für eine bestimmte Musikgattung, Klangwelt oder einen Groove ist mindestens ebenso wichtig, wie die oben genannten, eher technischen oder körperlichen Anteile des Singens. Und auch der der spirituelle Zugang zur Musik soll erwähnt werden. Je nach persönlicher Überzeugung kann man durchaus aus dem Glauben, einer „göttlichen Inspiration“ oder dem großen „Meer der Möglichkeiten“.

Alle Aspekte von Stimme sind miteinander verwoben und beeinflussen sich wechselseitig. Es singt und klingt der ganze Mensch. Um Verwirrungen zu vermeiden kann es aber sinnvoll sein, bestimmte Aspekte herauszugreifen, die konkreten Vorgänge zu beleuchten und klar zu stellen, auf welcher Ebene gerade geübt werden soll. Das ist insbesondere wichtig, wenn Schüler und Lehrer sich noch nicht gut kennen oder in großen Gruppen z.B. im Chor gearbeitet wird.

Lustvolles Wandeln durch verschiedene Aufmerksamkeits- und Singorte wünscht,

Anna Stijohann

Es könnte so einfach sein

Man stelle sich vor, Singen wäre einfach. Kinderleicht, ein Spaziergang. Kein Druck, keine komplizierte Technik, die es in vielen Stunden zu erlernen gilt, keine stimmliche Ermüdung, der pure Genuss. Die Töne purzeln gut geölt und wie von selbst aus der Kehle und je mehr und je länger ich singe, desto mehr Freude macht es und desto leichter geht es. Meine Stimme verbindet sich leicht und wohlklingend mit anderen Stimmen und ich kann mich ganz einfach am Miteinander erfreuen. Klingt gut, oder?

Eine andere Sichtweise

Ich bin davon überzeugt, dass das möglich ist. Und ich sehe es als unsere wichtigste Aufgabe als Gesangspädagogen, Menschen zu helfen, diese Leichtigkeit zu finden. Warum das nicht alle Menschen und Sänger so sehen, weiß ich nicht. Möglicherweise liegt es daran, dass sie es einfach nicht gewohnt sind und das wirklich mühelose Singen bisher nur selten oder gar nicht erlebt haben. Und in diese Einschätzung schließe ich sowohl Profis als auch Hobbysänger mit ein. Für viele Menschen scheint es ganz normal zu sein, dass nach der Chorprobe der Hals kratzt oder nach einem Liederabend oder einer Opernaufführung stimmliche Ermüdung eintritt. Für viele Sänger ist das Singen mit „harter Arbeit“ verbunden. Sowohl körperlich, als auch direkt stimmlich. Die richtige Klangeinstellung zu finden ist immer wieder Thema und die Frage „Wie Singen denn nun richtig geht“ stets präsent. Der Eine sagt dieses, der Andere sagt jenes. Der Eine sagt, Du musst dies tun, der Andere sagt „um Gottes Willen, das ist Gift für die Stimme“. Orientierungslosigkeit und ein hoher innerer Druck verbunden mit der Idee, nicht (gut) genug zu sein sind der Preis. Was auf der Strecke bleibt, ist der Genuss.

Ist Singen Arbeit?

In der Kolumne einer namhaften Kollegin, die sich vor allem an Laiensänger im Chor wandte, stand vor einiger Zeit, dass das Erlernen der „korrekten Stütze eine sehr schwierige Angelegenheit sei und nur sehr fleißiges, jahrelanges Üben schließlich zum Erfolg führe“. Da fehlten mir glatt die Worte. Das verdirbt doch jedem ganz normalen Chorsänger – und nicht nur dem – die Lust aufs Singen und die Neugier, sich stimmlich weiterzuentwickeln.

Und es widerspricht ganz klar dem, was ich in meiner Arbeit erlebe. Natürlich gibt es keine Patentrezepte und natürlich hat die eine Stimme es schwerer zu ihrem vollen Potential zu finden und die andere leichter. Nichtsdestotrotz gibt es vielerlei Möglichkeiten, diesen Prozess zu unterstützen, in denen weder Druck (innerlich, äußerlich, stimmlich-muskulär) noch das „Ausmerzen von Fehlern“ eine Rolle spielt. (vgl. Das magische Knistern, Spielzeug zum Singen, Singen und Saugen, Anlehnen an den Atem, Singen im freien Fall, Improvisation)

Es kann auch einfach sein

Jeder Mensch kann singen. Jede Stimme bringt ihr ganz eigenes Potential mit und jeder Sänger hat das Recht sich beim Singen wohl zu fühlen. (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit, Was ist eine schöne Stimme?)

Wie schrieb mir neulich eine Workshopteilnehmerin: „(…) ich muss zugeben, dass sich meine Stimme mit dieser Art zu Singen sauwohl gefühlt hat.“

Verrückt, dass wir fast das Gefühl haben, uns dafür entschuldigen zu müssen, wenn es beim Singen mal richtig gut läuft. Gesellschaftlich tief verankert ist das Gefühl in uns, dass nur das von Wert ist, was hart erarbeitet ist. Wir sind es nicht mehr gewohnt Geschenke anzunehmen. Lieber ackern wir uns ab und verheddern uns in Details, die alles nur komplizierter machen.

Warum eigentlich? Warum müssen wir, wenn beim Singen alles wie geschmiert läuft, hinterfragen, ob das wirklich so sein kann / darf. Ob denn nun auch der Ton alle Kriterien erfüllt um ein guter Ton zu sein. Ob der Klang auch voll und rund genug ist, die Höhe strahlend genug ist und der Ton gut sitzt.

Wir könnten uns auch einfach mal auf unser Gefühl verlassen. Denn wenn wir ganz ehrlich sind, wissen wir in dem Moment, wo alles wirklich zusammenpasst, eigentlich genau: Es ist ganz einfach.

Nie wieder Üben?

Natürlich heißt das nicht, dass wir uns einfach auf die faule Haut legen können. Das Sprichwort „Ohne Fleiß keinen Preis“ bleibt aktuell, aber die Art und Weise, wie wir üben und wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken, ist eine ganz andere. Der Schlüssel zum mühelosen Singen und leichten Lernen ist unsere Wahrnehmung. Nicht mehr und nicht weniger. Wahrnehmung, die keine Bewertung mit einschließt, sondern erlebt. (vgl. Wie viel muss ich üben? oder Bewusstsein als Tür)

Und auch Wahrnehmung gilt es zu lernen und zu üben. Denn wir sind, gerade was unseren Körper angeht, kaum mehr gewohnt, neutral zu spüren, ohne daraus direkt eine Konsequenz zu ziehen was wir als nächstes tun sollten. Wir möchten aktiv tun und manipulieren, weil wir denken, dass sonst nichts oder nicht genug passiert. Aber damit kommen wir beim Singen in Teufels Küche. Oder zumindest nicht zu einer echten Leichtigkeit.

Der Stimme Raum zum Entfalten geben

Die Stimme organisiert sich ganz wunderbar selbst (vgl. Stimmliche Selbstorganisation, Singen ist nicht kompliziert!) und alles was wir dazu brauchen ist innere Wachheit. Alles ist schon da und will nur ans Licht gebracht werden. Eine Schülerin berichtete mir nach meiner viermonatigen Mamapause von einer tollen Entdeckung. Sie ist eine erfahrene Chor- und Ensemblesängerin und war selbst total überrascht.

„Ich saß da so vor dem Computer und habe mir ein Übungsfile für das neue Chorstück angehört. Ich saß ein bisschen vornübergelehnt und habe einfach so vor mich hingesungen. Und auf einmal ging es ganz leicht. Irgendwie hab ich gemerkt, dass ich in der Mitte meines Körpers etwas loslassen kann und dann ist der Ton voll und ganz leicht. Ich dachte immer, ich muss hier oder dort irgendwas tun oder anspannen, aber es war genau das Gegenteil der Fall. Verrückt!“

In einem Moment, in dem es überhaupt nicht darum ging, etwas richtig zu machen, hat sie plötzlich etwas ganz Wichtiges verstanden. Und ich als Lehrerin hab mich natürlich gefreut „wie Bolle“ 🙂

Warum dann noch Gesangsunterricht?

Gesangsunterrichtwird damit keineswegs überflüssig. Gerade wenn es darum geht, sich aus der eigenen Komfortzone heraus aufs Glatteis zu begeben (vgl. Kontrollverlust -Ja bitte!) ist eine kundige Begleitung wichtig. Außerdem weiß mein/e LehrerIn im Idealfall, wie sie/er mich in einen Zustand bringt, in dem Selbstorganisation möglich ist und hat in vielen Situationen einfach mehr Erfahrung, ein gutes Ohr und kann gut zureden, wenn das Zutrauen ins eigene Gefühl nicht ausreichend geübt ist. Von uns Lehrern erfordert das eine ganz andere Art des Unterrichtens. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf Fehler hinzuweisen, sondern Erlebnisräume zu schaffen. Denn die entscheidende Arbeit findet im Schüler statt. Nur dort, wohin er seine Aufmerksamkeit lenkt, kann Entwicklung stattfinden. Lenkt er sie auf die Probleme, die Enge, die Brüche und sonstige Unzulänglichkeiten, wird er genau davon mehr bekommen. Lenkt er seine Aufmerksamkeit auf das, was – im Rahmen seiner Möglichkeiten – leicht geht und das, was ihn neugierig macht, werden sich immer mehr Räume der Leichtigkeit auftun.

Man lernt nie aus

Ich selbst hatte vor einiger Zeit ein Erlebnis dieser Art, das mir gezeigt hat, dass der Leichtigkeit des Singens keine Grenzen gesetzt sind. Im Rahmen einer kleinen kollegialen Fortbildung arbeitete eine Kollegin nur etwa zehn Minuten mit mir. Nichts wildes. Aufmerksamkeitsübungen für die kleinste überflüssige Zungenspannung, ein bisschen [ng], ein bisschen [a] mit der Intention, keinen „schönen, gesanglichen“ Klang machen zu wollen, sondern ganz dem fließenden, wohligen Gefühl zu trauen und einfach ein „Geräusch“ zu machen.

Und ich muss sagen, ich war platt. Eigentlich dachte ich, mein Singen sei schon sehr spannungsfrei und mühelos, aber das war nochmal ein andere Liga. Tagelang habe ich danach diesem Gefühl einfach nur nachgespürt und mein Klang hat sich seitdem nachhaltig verändert. Alles, was es brauchte, war meine Aufmerksamkeit. Natürlich kamen auch in mir die üblichen Fragen auf. Klingt das wirklich gut? Taugt der Klang für alle Genres? Wie verbinden sich eigentlich Mühelosigkeit und Kraft? Hab ich noch genug Power, wenn es so leicht geht?

Mühelosigkeit und Kraft

Doch die Leichtigkeit des Klangs und vor allem der pure Genuss beim Singen, haben die Fragen nach einigen Tagen verblassen lassen. Sie wurden einfach weniger wichtig. Und „Ja!“ ich hab genug Power. Denn ich habe durch diesen kleinen Ausflug die inneren Zusammenhänge von Kraftaufwand und Kraft im Klang noch einmal besser verstanden. Oft denken wir, wir haben Kraft, sind aber eigentlich nur damit beschäftigt, kräftig gegen unsere eigenen Widerstände (innerlich, äußerlich, muskulär) anzusingen. Ähnlich, wie wenn wir versuchen eine Tür aufzudrücken, die von der anderen Seite zugehalten wird. Wir fühlen uns möglicherweise sehr stark dabei, aber wir kommen doch nicht vom Fleck. Der Zuhörer hört nicht Kraft, sondern Mühe. Das ist ein großer Unterschied. Wenn wir frei und anstrengungslos singen, kann unsere Kraft, unser volles Potential dagegen wirklich nach außen hörbar werden. Wir treten durch die Tür hinaus und zeigen uns in voller Größe. Das erfordert Mut, ist aber ungleich lustvoller. (vgl. Nackt)

Feinmotorik

Singen ohne Mühe ist ein Balanceakt. Das organische Singen lebt – wie z.B. das Tanzen oder Wellenreiten – von der filigranen Koordination, den ganz feinen Unterschieden und der Tatsache, dass es nicht darum geht „etwas zu tun“. Viel mehr geht es darum, einen Schwung zu nutzen, mit der Welle zu schwimmen. Dann ergibt sich eins aus dem anderen. Wichtig ist ein sensibler innerer Kontakt von Stimme und Körper, der uns aber meistens schon nach kurzem Üben vertraut ist. Das Wahrnehmen der Schwerkraft oder ein spürender Kontakt mit den Händen oder das obertönige Hören und Lauschen helfen der Stimme ihren Raum und ihre Fokussierung fein auszubalancieren. Ein beweglicher Klang mit vielen Facetten ist das Ergebnis des inneren Zusammenspiels. An dieser Stelle möchte ich eine – sonst mit sich selbst eher kritische – Schülerin zitieren: „Ich bin ganz verblüfft, wie schön das klingt, wenn die Anstrengung weg ist.“

Und zum Schluss soll noch mein ehemaliger Posaunenprofessor zu Wort kommen:

„Wenn’s einfach wär, würd’s jeder machen.“ – Na, das wär doch mal was! 🙂

Unbeschwerte Singlust und sommerleichten Klanggenuss wünscht

Anna Stijohann