In Ähnlichkeiten denken
Am vergangenen Wochenende hatte ich das Glück, an einem großartigen Workshop teilzunehmen. Das syng:training von und mit Kenneth Posey ist ein streng funktionaler Ansatz im Bereich Pop- und Musicalgesang und unterscheidet sich sehr von der ganzheitlichen Arbeitsweise, die ich normalerweise pflege. Am Anfang war ich unsicher. Vielleicht kann ich damit gar nicht so recht etwas anfangen oder möglicherweise widerspricht es dem, was ich sonst für wichtig und richtig erachte? Aber nach dem ersten halben Tag waren meine Bedenken verflogen. Natürlich auch, weil das syng: training wirklich gut funktioniert, aber vor allem, weil ich es geschafft habe, meine innere Einstellung anzupassen. Anstatt mich an den Unterschieden festzuklammern und mir immer wieder die Frage zu stellen, ob das jetzt gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, habe ich beschlossen, in Ähnlichkeiten zu denken.
Denken ist das Einfügen von Wahrnehmungen und Überlegungen in ein inneres Ordnungssystem. Dabei können diese Ordnungssysteme in der Art ihrer Struktur sehr verschieden sein. Rationales Denken begründet sich auf Kausalitäten und logischen Schlussfolgerungen. Das denkende Individuum ist nicht Teil des Bezugssystems. Es steht außen vor. In mathematischen Zusammenhängen und den klassischen Wissenschaften ist diese Denkart unvermeidlich, weil wir objektive Ergebnisse brauchen.
Beim „Analogen Denken“, wie es die Philosophin Natalie Knapp nennt, ist das anders. Dieses Ordnungssystem entsteht erst durch das Individuum. Ich nehme wahr und ordne meine Eindrücke nach dem Prinzip der Ähnlichkeiten. Ich „erkenne“ eine Struktur oder eine Erfahrung wieder, weil etwas Ähnliches in mir schon existiert. Ich trete mit den Dingen in Beziehung und entwickle mein eigenes inneres Ordnungssystem. Aus den bereits in mir vorhandenen Erfahrungen kann ich Rückschlüsse ziehen für das, was mir neu begegnet. Lange bevor Kinder lernen rational zu denken, denken sie bereits analog und können so erstaunlich viele Zusammenhänge ihrer Umwelt „verstehen“.
Analoges Denken im Gesangsunterricht könnte sich zum Beispiel darin zeigen, dass ich, wenn ich ein guter Schwimmer bin, mein Gefühl für Widerstand und Fluss beim Singen am ehesten mit Wasser in Verbindung bringen werde. Wenn ich ein Tänzer bin, bezieht sich mein Gefühl fürs Singen vielleicht eher auf Dehnung und Kontraktion. Ich kann aus meiner Erfahrung auf der einen Ebene auf die Zusammenhänge auf der anderen Ebene schlussfolgern.
Auch andersherum funktioniert die Übertragung. Jemandem fällt es z.B.
im Alltag schwer sich zu fokussieren. Im Rahmen des Gesangsunterrichts
entwickelt dieser Mensch ein Gefühl dafür, wie er seinen Klang
fokussieren kann. Ein Gefühl für einen zupackenden Impuls am Anfang
eines Tones lässt mich möglicherweise auch für den Alltag ein Gefühl von
Zugriff entwickeln usw. Wie ein Pingpongball können sich die beiden
Ebenen „Singen“ und „Leben“ dann gegenseitig befruchten.
Wie und mit
welcher inneren Ebene ein Schüler Verknüpfungen anstellt, liegt dabei
nicht in der Macht des Lehrers. Ob jemand mit dem Bild „Trampolin“ in
Bezug auf das Zwerchfell eher das katapultartige Fliegen oder die
elastische Festigkeit der Membran, den Zusammenhang von Lockerheit und
Gewicht oder einfach die Freude am Spiel verbindet, können wir als
Lehrer durch Impulse und Anregungen zwar unterstützen, letztendlich
entscheidet aber der Schüler, welcher Analogie er folgt.
Niemand würde bestreiten, dass diese analoge Art des Denkens, für das Singenlernen unerlässlich ist. Mit ausschließlich rationalem Denken ist es unmöglich, etwas so komplexes und individuell ganz unterschiedlich erlebtes wie das Singen zu erlernen. Beim Singen gibt es nur sehr wenige objektive Wahrheiten, die uns, selbst wenn sie uns präsent sind, in den wenigsten Fällen wirklich weiterhelfen. Analoges Denken hilft, sich in komplexen System zu orientieren. Das gilt für das eigene Singen ebenso wie beim Unterrichten. Es geht nicht darum, dem Schüler „beizubringen“, wie es ist. Nein, der Schüler muss die Chance bekommen, aus sich selbst heraus, ein eigenes inneres Ordnungssystem für sein Singen und seine Stimme zu entwickeln. Wenn wir als Lehrer die Chance bekommen, einen Schüler (oder einen Chor) über längere Zeit zu begleiten, entwickeln wir zudem auch ein gemeinsames Ordnungssystem, das sich durch bestimmte Bilder, Handzeichen oder einen bestimmtes Vokabular charakterisieren lässt.
Beim Denken in Analogien ist der Denkende immer persönlich involviert. Er ist sozusagen das Bezugszentrum des Systems. So entsteht eine Ansammlung von Inhalten, die nicht wie das rationale Denken durch objektive Ursache – Wirkungszusammenhänge geprägt ist, sondern durch Vernetzung. Diese subjektive Vernetzung ermöglicht individuelles Lernen. Ich setze mich in Beziehung zu den Dingen. Die Lerninhalte sind von persönlicher Relevanz für mich. Dass wir genau in diesen Zusammenhängen am leichtesten und nachhaltigsten Lernen, ist längst kein Geheimnis mehr. Mein Lernen ist dann wie ein Puzzle, das sich nach und nach immer weiter vervollständigt. Ich kenne das fertige Bild nicht, denn es entsteht erst während des Puzzelns und ist von dem abhängig, was sich mir in welchem Moment an neuen Erkenntnissen zeigt. Es gibt keine vorgefertigten Regeln, wo etwas passt und wo nicht. Ich selbst muss und kann immer wieder entscheiden, mit welcher Information ich wo anknüpfe, wo ich mit etwas Neuem in Resonanz gehe und somit die Chance habe, meinen Horizont zu erweitern oder wo ich ein Puzzleteil beiseite lege, weil es derzeit noch keinen Anknüpfungspunkt gibt.
Der syng:training Kurs am Wochenende hat mir unendlich viele Anknüpfungspunkte erlaubt. Statt auf die Unterschiede und die Frage nach dem „richtig und falsch“, habe ich mich genau darauf konzentriert und konnte mein eigenes Puzzle um viele neue Ideen ergänzen und bereits vorhandene vertiefen.
Das Denken in Ähnlichkeiten erlaubt ein Verständnis, das von Verbindung statt Trennung geprägt ist. Lehrer und Schüler, Lehrer und Lehrer und überhaupt Mensch und Mensch, können dann voneinander profitieren, ohne sich durch Bewertungen voneinander abgrenzen zu müssen.
Ich wünsche viele wertvolle analoge Denk- und Singstunden,
Anna Stijohann
P.S. Lust mehr über „Analoges Denken“ und weitere Spielarten des Denkens in Bezug zum Singen zu erfahren? Am 27.08. gebe ich in Köln einen ganztägigen Kurs zum Thema „Anders Denken – Anders Singen“ 🙂