Letzte Blogbeiträge
- Echt sein 24. Oktober 2024
- Stimme und Sinne 2. September 2024
- 13 stimmsinnige Botschaften, die dir 2024 Superkräfte verleihen 2. Januar 2024
Manchmal frage ich mich, ob wohl alle Menschen dieses tiefe innere Bedürfnis verspüren, ganz sie selbst zu sein. In mir gibt es schon so lang ich denken kann dieses Gefühl, dass ich ICH sein möchte. Ganz. Echt. Authentisch. Stimmig. Wie auch immer man das nennen mag.
Es gibt in mir kein größeres Glücksgefühl, als die Momente, in denen ich mich ganz und gar spüre. In denen ich ohne Zweifel weiß, ich bin am richtigen Platz. Ich bin genau so richtig, wie ich bin. Ich bin großartig, habe Wichtiges zu geben und bin angenommen, wie ich bin.
Dabei ist dieses Gefühl völlig unabhängig vom Außen. Ja, es ist toll, Applaus, Zuspruch und Lob zu bekommen, aber das Einzige, was wirklich zählt, ist: Wie fühlt es sich in mir an?
Letztes Wochenende war ich mit meinen wundervollen natural voice – Kolleginnen im Schloss Craheim in Franken zu Gast. Einmal im Jahr treffen wir uns dort zum Austausch, zum gemeinsamen Atmen, Tönen, Singen und mit einander Sein.
In ungewohnt kleiner Runde war dieses Treffen für mich besonders. Normalerweise bringe ich mich reichlich und gerne ein. Ich bringe Spielzeuge mit und Ideen und berichte von allem, was mir im Unterrichten begegnet ist und was ich gerne teilen möchte.
Dieses Mal – ich war gerade seit 4 Tagen von meiner Reise aus New York zurück – hat es sich für mich ganz anders angefühlt. Mein Bedürfnis war vor allem Stille. In den abenteuerreichen Tagen in New York (ich war 4 Tage ganz allein dort und habe nur Dinge gemacht, auf die ich so richtig Lust hatte) ist so vieles in mir angestoßen worden und das wollte einfach nur sacken und verdaut werden.
Keine Lust auf Übungsaustausch, reden, experimentieren. Ich wollte einfach nur dasitzen und in mich lauschen. Still sein und nur meinen Senf zu irgendetwas geben, wenn es mir ein absolut inneres Bedürfnis war.
Das war neu und ein bisschen fremd, aber tief in mir so wohltuend und entlastend. Nein, ich bin nicht zuständig dafür, dass hier „Action passiert“. Nein, ich bin nicht zuständig dafür, dass alle zufrieden sind. Nein, ich habe keinen Plan und auch keine Lust einen zu machen.
Ich will einfach nur da sein und meine pure innere Wahrheit spüren. Mit dem sein, was ist. Punkt.
Das Wochenende war so wundervoll. Intensiv und berührend. Und mir sind einige Dinge klar geworden, die mich schon lange und immer wieder beschäftigen.
Wir wünschen uns (als Sänger*innen und im Leben) echt, präsent und authentisch zu sein, aber was bedeutet das eigentlich? Und was ist der Preis, den wir dafür zahlen bzw. was dürfen wir investieren, damit das überhaupt geht?
Die erste innere Schwelle ist für mich radikale Ehrlichkeit. Und zwar mir selbst gegenüber. Es ist so leicht, sich selber zu verarschen.
„Klar, bin ich toll. Klar, hab ich’s im Griff. Klar, geht’s mir gut.“
Oder auch: „Ich bin so ein armes Würstchen. Ich werde es nie lernen. Niemand kann mir helfen.“
Echt jetzt?!
Diese innere Schwelle ist vielleicht die schwerste und gleichzeitig die wichtigste.
Was ist jetzt gerade da? Wirklich. Jetzt.
Und dabei geht es weder darum, aktiv innerlich nach einem Problem zu popeln, das man lösen könnte, noch fleißig nach den „good Vibes“ zu suchen. Es ist viel einfacher. Schlichter, naheliegender.
Was ist jetzt gerade da? Da beginnt die Reise. Nicht davor oder dahinter, nicht drüber oder drunter. Was ist JETZT da und traue ich mich, das wirklich zu fühlen?
Langeweile? Verwirrung? Unruhe? Frieden?
Wie fühlt sich mein Körper an? Also wirklich.
Enge, Weite, Kribbeln, Abgeschnitten sein, Genuss, Lust, Anwesenheit.
Um wirklich wahrnehmen zu können, was ist, brauche ich meine Sinne. Darf ich wieder lernen, das „für wahr“ zu nehmen, was meine Sinne mir rückmelden. Wahrnehmen heißt, „meine Wahrheit“ annehmen und das ist manchmal einfach rattenschwer.
Sich selbst zu erlauben, eine eigene Wahrheit zu haben, die unabhängig ist von allem, was außen ist. Puh. Das ist mutig! Und gleichzeitig ist es für mich der einzige Weg, um wirklich das Eigene, Echte, Wahrhaftige zu finden.
In der Arbeit mit meinen Kolleginnen begleiten wir uns gegenseitig beim Singen. Wir singen uns vor und helfen einander ins Spüren zu kommen und den Moment zu nutzen, um uns wieder ein Stückchen tiefer mit uns selbst zu verbinden. Das ist wunderbar und absolut transformierend.
Wie als ob du mutig deinen ganz eigenen Pfad gehst, aber jemand deine Hand hält, damit du dich traust, auch an den Stellen weiterzugehen, wo du allein vermutlich die einfachere Abkürzung nehmen würdest. Ich liebe diese Sing-Arbeits-Prozesse und genau diese Arbeitsweise findet immer wieder auch in meinen Kursen und insbesondere in der Jahresgruppe ihren Raum. Unter Zeugen über sich hinaus- und in sich hineinwachsen. Unendlich kraftvoll.
Jetzt gerade am letzten Wochenende war es für mich mal wieder besonders bewegend. Sowohl als Helferin und Begleiterin, als auch in meinem eigenen Singen. Und eine wichtige Sache ist mir dabei aufgefallen.
Es ist wundervoll, nach dem Singen Rückmeldungen zu bekommen. Die Kolleginnen sind stets wertschätzend und positiv bestärkend in ihrem Feedback. Und gleichzeitig können auch Lob und Zuspruch das eigene Erleben wieder ins Wackeln bringen. Vor allem, wenn man selbst noch Zweifel hat.
„Das klang engelsgleich!“
„Großartig. Du solltest mehr solches Repertoire singen!“
„Deine Zweifel sind völlig unbegründet. Du bist toll!“
Was, wenn sich meine Zweifel aber real anfühlen. Irrt mein Gefühl?
Was, wenn ich gar nicht engelsgleich klingen möchte, weil ich eigentlich Sehnsucht nach Dreck und Power in meiner Stimme habe?
Was, wenn ich mich nicht in eine Genre-Schublade stecken möchte und mein Repertoire am liebsten ganz breit aufstellen möchte?
Stimmt dann etwas mit mir nicht? Ist meine innere Wahrheit dann falsch?
Wertschätzendes Feedback ist wunderbar, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass jeder Kommentar – der ja immer durch die persönliche Brille desjenigen gefiltert ist, der ihn abgibt – auch das Potential in sich trägt, mich zu irritieren und mich von meiner Wahrheit zu entfernen.
Und das ist mir an diesem Kollegen-Wochenende nochmal so richtig klar geworden.
Wenn wir wirklich unser eigenes Ding finden wollen,
den eigenen Klang
den eigenen Stil
den eigenen inneren wunden Punkt, der den Menschen eine Gänsehaut verpasst,
dann müssen wir vor allem auf das Lauschen, was in uns passiert. Dann geht es darum, die Momente zu feiern, die sich in mir 100% echt angefühlt haben. Und das kann alles sein.
Meine Angst, meine Zweifel, meine unbändige Spiellust. Meine Leidenschaft. Der eine Ton, der sich in mir unvergleichlich ganz angefühlt hat. Der Augenblick, in dem ich erlaubt habe, dass die Stimme wackelt.
NUR DAS, nur diese Augenblicke bringen mich näher zu mir und lassen das Authentische in mir weiter wachsen. Keine Rückmeldung von außen kann mir spiegeln, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Keine.
Und gleichzeitig ist es das größte Geschenk, vor Zeugen nach dieser inneren Wahrheit suchen zu dürfen.
„Deine Stimme klingt wirklich im ganzen Körper. Man hat das Gefühl, jeder Knochen schwingt.“
Ja, ich weiß!
„Das kam von so tief aus deiner Seele. Unglaublich berührend.“
Ja, ich weiß!
„Es ist so direkt und echt.“
Ja, ich weiß!
Dieses „Ja, ich weiß!“ ist das kostbarste Gefühl der Welt. Wunderbar, wenn es auch im Außen ankommt und zurückgespiegelt wird. Aber mein eigentlicher Kompass bin ich selbst.
Und da sind wir wieder bei der radikalen Ehrlichkeit und der inneren Wahrheit.
In unserer Welt üben wir die eigene Wahrheit viel zu selten und immer wieder begegnen mir Menschen, die sich selbst gar nicht spüren und nicht wissen, was ihre eigene Wahrheit ist. Sie sind angewiesen auf das „Urteil“, die Einschätzung von außen.
Singe ich den richtigen Ton? Klingt es schön? Was habe ich eigentlich für eine Stimmlage?
Ich möchte ihnen diese Rückmeldung nicht geben, denn ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit in sich trägt und diese auch wiederfinden kann. Alles andere ist nur ein Krückstock, ein Stützrad, eine Hilfe.
Die wirkliche, echte, wahre Kraft und vor allem das kostbare innere Gefühl von „Das bin ich!“ finden wir nur dann, wenn wir uns erlauben, unsere eigene Wahrheit wieder zu spüren.
Ja, „wieder“, denn als Kinder war es für uns selbstverständlich.
Es braucht mehrere Schritte auf dem Weg und immer beginnt es mit der Wahrnehmung. Was für mich stimmt, kann ich mir nicht „erdenken“. Ich kann es nur spüren und darum braucht es die Arbeit mit den Sinnen.
Was ist jetzt gerade da? Im Innen und im Außen. Wo ist die Grenze zwischen innen und außen? Was gehört zu mir, wo bewirkt das Außen in mir eine Resonanz?
Diesen wichtigen Fragen spürend auf den Grund zu gehen, ist der Anfang.
Dabei spielt der Körper eine elementare Rolle. Er hat seine eigene Sprache und wenn wir lernen, mit unserem Körperwesen in Dialog zu treten, bekommen wir oft sehr klare Antworten auf Fragen, die wir mit dem Kopf doch immer wieder nur im Kreis drehen würden.
Ja oder nein?
Was ekelt mich?
Was bereitet mir Genuss, tiefe Freude und was entfacht meine Spiellust?
Der Körper ist ein wichtiger Verbündeter, wenn es darum geht herauszufinden, was für dich stimmig ist.
Er ist dein Kompass und zeigt dir an, wo deine Sehnsucht dich hinzieht, wovon du dir mehr im Leben wünschst und welche nächsten Schritte dich zum Ziel bringen.
Neben der Wahrnehmung und dem Kontakt zum Körper dürfen wir noch eine weitere wichtige Fähigkeit üben.
Unsere Gefühle auszuhalten. Denn wenn wir beginnen, auf unsere eigene Wahrheit zu hören, ist das nicht immer easy.
Da kommen Dinge ans Licht, die sich herausfordernd anfühlen. Widersprüche, Ängste, Zweifel, Schmerz… All diese Gefühle sind da um gefühlt zu werden.
Tun wir es nicht, verpassen wir die Chance, uns selbst ein Stückchen näher zu kommen. Ja, ich glaube sogar, dass wir uns mit jedem nicht gefühlten Gefühl von uns selbst entfernen und der Panzer um unseren innersten Kern immer dicker wird.
Trauen wir uns aber, den Schmerz, die Enttäuschung, die Sehnsucht zu spüren, in uns zu erleben und vielleicht sogar auszudrücken, schaffen wir innerlich Platz für uns selbst. Das zarte, kraftvolle, unverwechselbare Echte kann ans Licht kommen, wenn wir dem, was es beschützt, aufrichtig Raum geben. Einfach und schwierig zugleich.
Auch das braucht Training. Und Orte und Menschen, wo wir uns trauen können, dorthin zu gehen, wo es sich unsicher und verletzlich anfühlt. Gelegenheiten, bei denen wir unsere wahre Größe auspacken dürfen und niemand redet uns wieder klein.
Den Gefühlsmuskel trainieren, sage ich manchmal.
Wieder lernen unsere Gefühle zu fühlen – das sei in unserer Welt eine Superkraft, sagte neulich jemand. Ja. Dem stimme ich absolut zu. Eine Superkraft, an die wir uns dringend erinnern müssen, wenn wir möchten, dass die Welt sich verändert. (siehe Neujahrs-Blog 2024)
Weil wir nur so an unsere eigene Kraft kommen, die uns ermöglicht Dinge so zu gestalten, wie wir sie uns wünschen. Alles andere ist nur Kosmetik auf der Oberfläche.
Die wirkliche Kraft in jedem von uns kommt vom Ort unserer eigenen Wahrheit. Dort, wo es keine Zweifel gibt, bin ich in meiner Kraft. Dort wo ich echt bin, strahle ich. Dort, ich ICH bin, bin ich erfüllt und diene der Welt am allermeisten.
Deine Anna
P.S. Das STIMMSINN-Jahr 2025 wird exakt in diesem Sinne beginnen. Wahrnehmen lernen, die Sprache des Körpers tiefer verstehen, kraftvoll die Welt erschaffen, die du dir wünschst. Dazu wird es kurz vor Weihnachten ein spezielles Angebot geben. Sei gespannt!
Falls du nicht mehr warten möchtest, sondern schon jetzt für deine eigene Wahrheit losgehen willst, empfehle ich dir meinen neuesten Kurs „Stimme küsst Sinne 💋“. Wahrnehmen lernen pur.
Ich arbeite seit vielen Jahren mit Menschen und Stimmen. Ganz egal auf welchem technischen oder künstlerischen Niveau die Arbeit stattfindet, es begegnen mir stets ähnliche Bedürfnisse und Sehnsüchte. Bei Amateuren genau wie bei Profis, bei erfahrenen Sängern genau wie bei Anfängern. Es gibt Menschen, die „eigentlich schon ganz gut sind, aber noch besser werden möchten“ oder die endlich „belten lernen möchten“. Andere kriegen ihre „Atemtechnik nicht in den Griff“ und wieder andere kommen wegen ihres Vibratos in meinen Unterricht.
Doch immer wieder erlebe ich, dass die Menschen genau dann glücklich und erfüllt nach der Stunde durch die Tür gehen, wenn sie sich ganz und gar in dem, was sie tun, in ihrer Stimme und ihrem Gesang, wiedergefunden haben.
Manches Mal vergessen sie darüber gar, mit welchem Problem sie eigentlich gekommen waren.
Damit sich eine Stimme lebendig entwickeln kann und der:die Schüler:in die Möglichkeit hat, sein volles Potential zu entfalten, ist die Beschäftigung mit den Sinnen elementar. Die eigene Wahrnehmung – denn das ist es ja, was wir mit unseren Sinnesorganen tun: „für wahr annehmen“ – immer weiter zu verfeinern, ist vielleicht wichtigster Bestandteil meiner Arbeit und auch meines eigenen Stimmweges. Einerseits geht es immer wieder darum, die Eigenwahrnehmung zu schärfen und durch das Hinspüren in den Körper das eigene Instrument „Stimme“ immer besser kennen- und verstehen zu lernen. Andererseits sind die Sinne unsere Verbindung zwischen Innen und Außen. Und damit der Kanal jeglicher Kommunikation und Inspiration.
Das Hören spielt beim Singen nicht nur eine Rolle, wenn es um „richtige Töne“ oder musikalische Zusammenhänge geht. Vielmehr dient das Hören oder besser gesagt, das Lauschen, der direkten Klangentwicklung. Bestimmte Obertöne können sogar selbstorganisierend auf die Stimme und den Körper (rück-)wirken. Unsere Welt ist eine visuelle Welt, da dürfen wir das Lauschen ruhig immer wieder üben. Eine meiner Lieblingsübungen ist z.B. sich während des Gehens – egal ob auf der Straße, im Gesangsunterricht oder in der Chorprobe – mal eine Weile auf das Sehen und dann mal auf das Lauschen zu konzentrieren. Was macht das mit dem Gehen? Mit der Raumwahrnehmung? Wie töne oder singe ich, wenn ich mich aufs Sehen konzentriere, wie ist es im „Lauschmodus“?
Der „Körpersinn“, die Propriozeption, ist für mich wichtigster Bestandteil der ganzheitlichen Stimmarbeit. Bin ich wahrnehmend in meinem Körper anwesend, hat die Stimme die Chance sich selbstreguliert zu entwickeln. Ich lerne auf ganz anderer, tieferer Ebene und entwickle ein intensives und völlig individuelles und daher nachhaltiges Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Körper und Stimme. Auf ähnliche Weise, wie ein Kleinkind durch das Sprechen selbst nach und nach Sprachgefühl entwickelt, entsteht in mir ein inneres Gefühl von Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit. Ich entwickle STIMMSINN.
In dem Moment, wo wir die Welt, unsere Mitmenschen und auch uns selber aktiv mit unseren Sinnen wahrnehmen, tauchen wir ein in den gegenwärtigen Augenblick. Unsere Sinne nehmen wahr, was jetzt da ist. Sonst nichts. Alles, was wir wissen, denken, glauben, fürchten oder hoffen verschwindet, weil wir uns ganz und gar mit dem Moment verbinden. Natürlich hilft es, Erlebtes und Erfahrenes mit bereits vorhandenen Fähigkeiten zu verknüpfen. Aber erleben und erfahren tun wir immer jetzt. Wenn wir nicht ganz und gar anwesend sind, verpassen wir die Hälfte. Lernen – egal ob stimmliches, musikalisches oder sonstiges – findet immer dann statt, wenn wir ganz wach sind. Mit all unseren Sinnen. Jetzt!
Hand aufs Herz. Wie viel Prozent Deiner Zeit erlebst Du gefüllt mit Dingen, die Dir wirklich Genuss bereiten? Wieviel Raum ist da für Sinnlichkeit? Sinnlichkeit und Genuss sind zwei der Begriffe, die wir haben, um Intensität und Tiefe in unserm Leben zu beschreiben. Ein gutes Essen. Nähe mit einem anderen Menschen. Ein Spaziergang in der Natur. Eine Katze streicheln. In Farben, Gerüchen oder Klängen schwelgen. Vibrationen spüren. Sich selber beim Singen vom Scheitel bis zur Sohle als KlangKörper erleben. Freude pur!
Manchmal bezeichne ich die Stimme an sich auch als einen Sinn. Dieser STIMM-SINN dient unter anderem der Auskunft über mich selbst. Anhand der Arbeit mit meiner Stimme, lerne ich MICH kennen, kenne meine Stimmung, meinen körperlichen Zustand und kann mir, in dem ich meinem STIMMSINN Anregung gebe, Gutes tun.
Ich kann mich und andere inspirieren, indem ich töne und meine Stimme erhebe. Ich kann mich dabei als (un)stimmig oder (un)sinnig erleben.
Ich kann mich mit mir selbst und anderen Wesen über meinen STIMMSINN verbinden. Ganz genau wie übers Schauen und Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und über meine Körper- und Raumwahrnehmung kann ich in Kontakt treten und mich selbst in Beziehung zur Welt erleben.
Das Wort „Sinn“ hat übrigens seinen Ursprung im alt- bzw. mittelhochdeutschen sin: Weg, Reise, Gang. Der Weg zur Stimme, der Weg mit der Stimme, den ich als Stimmpädagogin begleite. STIMMSINN hat keine Patentrezepte, löst keine Probleme durch Zauberei oder gut katalogisierte methodische Regeln. STIMMSINN ist die Entscheidung für einen lebendigen Weg mit offenem Ausgang. Ein Weg, der sich, meiner Meinung nach, lohnt, weil er die Menschen glücklich macht und in Kontakt mit ihrer Lebensfreude bringt.
Schön, dass du dich auf diesen Weg gemacht hast und hier bist.
Alles Liebe und hoffentlich bis bald,
Deine Anna
Rund ums Thema Sinne biete ich sogar einen ganzen Onlinekurs an. Er heißt „Stimme küsst Sinne 💋“ und ist der neuste Kurs in der STIMMSINN-Familie. Wenn du dir noch mehr tiefen, echten Singgenuss wünschst, ist das für dich der richtige Kurs. Köstlich!
Ich habe weder Aufwand noch Mühen gescheut und für euch – exklusiv – um 1:11 Uhr am 01.01.2024 mithilfe meiner 7 schwarzen Katzen, 13 Räucherstäbchen und 21 Kerzen in die STIMMSINN – Kristallkugel geschaut, was uns 2024 erwartet.
Uiuiui…
Freude, Leid, Katastrophen, Überraschungen, Leidenschaft, Zweifel, Begeisterung, Momente in denen wir alles hinschmeißen wollen…
Die volle Partie Leben eben.
Damit Du gut gerüstet bist für all diese Herausforderungen, hat mir die Kristallkugel gleich noch dreizehn wichtige Botschaften an die Hand gegeben, die 2024 definitiv aus dem Bereich „nice-to-have“ aufsteigen werden in die Kategorie „absolut-überlebenswichtig“.
Ganz schön schlau so eine Kristallkugel.
Tatarataaaaaa! 💥🎉
13 stimmsinnige Botschaften, die dir 2024 Superkräfte verleihen und dich – schwuppdiwupp – hineinkatapultieren ins echte, wahre Leben
Botschaft 1:
Nimm Tempo raus.
Wir sind alle chronisch in Eile. Zum Teufel damit!
Die Zeit ist reif, dein eigenes Tempo zu finden.
Und klar, falls du lieber hüpfst als schleichst, ist das natürlich absolut in Ordnung.
Botschaft 2:
Wir alle brauchen dringend Kontakt.
Miteinander klingen, singen und sein sind Nahrung für deine Seele. Echte, tiefe, aufrichtige Verbindungen sind überlebenswichtig als menschliches Wesen.
Ü-b-e-r-l-e-b-e-n-s-w-i-c-h-t-i-g
Botschaft 3:
Gefühle sind da um gefühlt zu werden.
Wenn du wieder lernst, allen Gefühlen (… ja und manchmal ist es schwieriger Freude und Liebe auszuhalten als Angst und Wut…) Raum zu geben anstatt sie loswerden zu wollen, wird sich die Welt verändern, bevor du drei Ave Maria gesungen hast. Wetten?
Botschaft 4:
Berühren und sich berühren lassen.
Eine Umarmung, ein Händedruck, ein Blick, ein Musikstück. Hach… herrlich.
Und auch die Vibrationen deiner eigenen Stimme im Körper zu spüren, ist Berührung. Bis in die feinsten Gewebeschichten. Mindestens 3 mal täglich bitte.
Botschaft 5:
Dein Körper ist ein lebendiges Wesen. Wenn du beginnst mehr mit ihm in Kontakt zu gehen statt ihn „zu benutzen“, kannst du dein blaues (Sing-) Wunder erleben.
Der Körper ist sooo unfassbar schlau.
Hör ihm zu und wage ein lustvolles Tänzchen mit deinem Körperinstrument.
Botschaft 6:
Besinn dich auf das Wesentliche.
Es gibt von allem zu viel.
Zu viel Information, zu viel Auswahl an (Kurs-) angeboten, zu viel Konsum.
Was brauchst du wirklich? Was ist dir wirklich wichtig?
Nur du kennst die Antworten.
Botschaft 7:
Höher, schneller und weiter verabschieden sich endgültig.
Und tschüss…
Freude und Genuss sind ab sofort deine Gradmesser.
Nicht nur beim Singen.
Botschaft 8:
Wissen wird immer weniger wichtig. (…künstliche Intelligenz und so…)
Deine ganz eigene, persönliche Erfahrung ist das einzige, was zählt. Geh raus was erleben.
Punkt.
Botschaft 9:
Lerne die Unsicherheit zu lieben. Die Welt ist komplex und wird immer komplexer. Der Versuch, alles zu kontrollieren, kann nur scheitern. Schnapp dir dein Board und lerne, die Wellen des Lebens zu surfen.
Es kommt immer anders als du denkst!
Botschaft 10:
Was ist wahr und was ist falsch? Alle tun so, als wüssten sie es, aber eigentlich weiß es keiner.
Keiner? Doch… DU!
Spür in dich hinein und finde deine eigene Wahrheit.
Du erkennst sie in Momenten, wo es keine Zweifel gibt.
Wo du einfach spürst: DAS IST ES.
Wahrheit ist ein Einrasten im Körper.
Botschaft 11:
Musik ist Medizin. Höre und erlebe Musik, die das tut, was ihre ursprüngliche Aufgabe ist. Verbinden, berühren, heilen.
Und mach Musik, die genau das kann. Gib dich nicht mit weniger zufrieden. Das geht im Sinfonieorchester genau so wie im Seniorensingkreis.
Du musst nur offen sein für die Magie, die sich entfalten will! (… und wissen, wie du solche Sternstunden heraufbeschwören kannst… 😜)
Botschaft 12:
Niemand rettet dich. Sorry.
Du bist verantwortlich für dein Leben.
Nimm es in die Hand und geh los für das, was dir wahr und wichtig ist.
Die Belohnung ist eine gute Brise Rückenwind vom Universum. Versprochen!
Botschaft 13:
Hör auf, dich klein zu machen!
Die Welt braucht dich in deiner ganzen Größe, Schönheit und Strahlkraft.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Von Herzen alles Liebe für Dich!
Anna 💖
Einfach mal nichts verbessern und das Singen voll und ganz genießen. Das war mein Wunsch, als ich neulich auf einem Austauschwochenende mit meinen natural voice – Kolleginnen solo gesungen habe. Ein komischer Wunsch? Vielleicht. Es gibt doch immer was zu verbessern, es ist nie perfekt.
Klar, stimmt. Aber wenn das dazu führt, dass mir darüber die Singfreude abhanden kommt, möchte ich mich davon frei machen. Wenn ich immer nur herumbastel, hier noch ein bisschen nachbesser und stets genau weiß, welche Stellen eines Liedes mir gut gelungen sind und welche ich noch üben muss, verliere ich irgendwann die Lust.
Wir sind fast immer in einem inneren Bewertungsmodus. Gerade wir Profis. Wir hören jede Intonationsunsicherheit, jeden Ton, der nicht dort sitzt, wo er hinsoll und fühlen intensiv mit, wenn jemand drückt, schiebt und seine Stimme unökonomisch oder sogar ungesund benutzt.
Natürlich ist es meine Aufgabe als Lehrerin, genau hinzuhören und eben dort für Ordnung zu sorgen, wo noch Unordnung herrscht. Ich lenke die Aufmerksamkeit meiner Schüler*innen und Kursteilnehmer*innen, damit sie eine Chance haben, nach und nach herauszufinden, was sie brauchen, damit ihr Singen sich freier anfühlt und die Stimme leicht zum Klingen kommt.
Aber ich möchte heute mal eine andere Perspektive aufzeigen, auf die mich oben schon angedeutetes „Vorsingen“ mit den Kolleginnen gestoßen hat. Eigentlich habe ich meinen Wunsch zu allererst mal formuliert, weil wir es in diesem Kolleginnenkreis so lieben die Menschen direkt körperlich zu unterstützen, neue kreative Spielideen zu entwickeln und uns gegenseitig zu bestärken, dass wir auf einem guten Weg sind. Superwertvoll, aber mich hat das schon manches Mal trotzallem in ein inneres Gefühl gebracht, ich müsse mich beweisen, Dinge richtig machen – so wie es den Kolleginnen gefällt – und bei unseren einmal jährlich stattfindenden Treffen klar erkennen lassen, dass ich Fortschritte gemacht habe seit dem letzten Mal. Darauf hatte ich an diesem letzten Wochenende schlicht keinen Bock. Ich wollte meine Ruhe haben und einfach nur singen. Mich ausprobieren. Musizieren. Sängerin sein.
Ich wollte etwas erleben. Und dieser Wunsch hat so viele Türen geöffnet. Viel mehr, als ich vorher erwartet hätte. Plötzlich wurde MEIN Wunsch zum roten Faden unserer kleinen „Arbeitswerkstatt“. Eine Erleichterung ging durch die Runde, weil es den anderen teilweise auch so ging. Mein Wunsch hat allen die Erlaubnis gegeben, den Fokus beim Singen ganz anders auszurichten. Und es ist wirklich Magisches passiert!
In dem Augenblick, wo wir es schaffen uns abzuwenden vom „ich will das richtig machen“, beginnen wir eine echte Erfahrung zu machen. Eine Erfahrung mit uns selbst, mit unserer Stimme und mit der Musik. Sobald es nicht mehr darum geht „es zu schaffen“, zu überzeugen, die hohe Stelle sauber zu singen oder schlicht „gut durchzukommen“, sind wir ganz und gar im Moment.
Alle natural voice – Kolleginnen sind – wie ich- sehr körper- und spürerfahren und so war es für jeden eine spannende innere Abenteuerreise.
Wo finde ich Verbindung?
Wo kann der Klang sich Unterstützung vom Körper holen?
Wo beginnt die Musik plötzlich ein Eigenleben zu entwickeln?
Wo bin ich im Flow?
Wo bereitet mir das Singen von hohen Tönen eine große innere Lust?
Wo entspinnt sich stimmlich und musikalisch plötzlich eine Dynamik, die ich wie eine Welle beim Surfen reiten kann?
Wo erlaube ich mir, mich verletzlich – auch im Klang – zu zeigen und wie entsteht dadurch eine intensive Verbindung zu den Zuhörern?
Es gibt beim Singen so viel zu erleben! Und es ist so berührende Musik passiert an diesem Kollegenwochenende. Mal war es zart und zerbrechlich, mal intensiv und aufwühlend. Mal witzig, mal traurig und immer wichtig und richtig in genau diesem Augenblick.
Das, was ich an diesem Wochenende erlebt habe, hat sich mir tief eingeprägt. Das, was mir in meinem Singen widerfahren ist, hat so sehr meinen inneren Horizont geweitet, dass sich in mir nachhaltig Dinge verschoben haben. Das kann ich spüren. Jeden Tag.
Dieses „Singerlebnis“ war anscheinend für meinen Körper, meine Seele und meinen Geist von so großer Bedeutung, dass mein ganzes System beschlossen hat, alte Muster abzulegen, die bisher meinem freien und lustvollen Singen im Wege gestanden haben.
Ich habe gelernt.
Etwas ganz Neues.
Auf allen menschlichen Ebenen.
Und zwar ganz ohne, dass mich vorher jemand auf einen möglichen Mangel hingewiesen hätte. Ohne, dass ich mir am Anfang vorgenommen hatte, ich möchte dieses oder jenes verbessern.
Durch die intensive Erfahrung habe ich mich ausgedehnt und konnte in mein ganz persönliches nächstes „Singlevel“ aufsteigen. Und selbstverständlich nicht nur das. Auch bei meinen anderen Themen – es hängt ja alles mit allem zusammen – durfte ich wachsen.
Mich zeigen.
Mein eigenes Ding machen.
Komplimente annehmen.
Einen Raum mit meiner Präsenz füllen und es genießen.
Meine „gottgegeben“ Fähigkeiten anerkennen.
Mich wirklich Herz zu Herz mit meinen Kolleginnen verbinden.
Mir selber erlauben, mich in meiner vollen Größe zu zeigen.
Ein unfassbar intensives Erlebnis.
Was wäre, wenn wir immer so singen und auch sogar üben würden? Nicht mit dem Ansinnen, es hinterher zu können, sondern mit der Neugier, etwas zu erleben.
Was wäre, wenn unsere Chorproben geprägt wären von dem Wunsch, gemeinsame Klänge und Rhythmen zu ERLEBEN? Anderen Menschen wirklich zu begegnen statt mit 30 anderen im Raum zu versuchen, das Stück „auf die Beine zu stellen“ und irgendwie durchzukommen.
Was wäre, wenn unsere Gesangschüler*innen in den Unterricht kämen um eine ERFAHRUNG zu machen, statt mithilfe von effizienten Übungen an der Leichtigkeit ihrer Stimme „zu feilen“? Wie wäre es, gemeinsam in Musik einzutauchen, Melodien und Harmonien zu erforschen und im Rhythmus zu pulsieren, anstatt ein Lied zu lernen, damit sie es dann beim Vorsingen „können“ und die hohen Töne „gut klappen“?
Was wäre, wenn wir abends im Kreis der Familie oder mit Freunden kleine Improvisationen oder spontane Mehrstimmigkeiten erfinden würden und uns dabei vor Singlust auf die Schenkel klatschen würden und hinterher das Gefühl hätten, wir haben uns den ganzen Abend prächtig unterhalten?
Was wäre dann alles möglich?
Boah, da kriege ich hier beim Schreiben gerade eine fette Gänsehaut.
Warum tun wir das eigentlich nicht? Warum bleiben wir beim Singen und Musizieren so oft auf der Oberfläche? Vielleicht, weil wir es in der Schule und Musikschule einfach so gelernt haben und gar nicht wissen, dass es noch andere Wege gibt. Vielleicht auch, weil es bequem ist, auf der Oberfläche zu bleiben. Denn eines ist sicher. Der Mensch an sich mag keine Veränderungen. Na klar, wir möchten unser Singen verbessern und ein schönes Leben haben, aber sind wir dafür wirklich bereit, Gewohntes aufzugeben?
Es kostet Überwindung aus den angestammten Mustern auszusteigen. Sich verändern braucht Mut und einen echten Anlass. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz. Erst ein signifikantes Erlebnis, wie ich es oben beschrieben habe, ermutigt uns, einen neuen Weg einzuschlagen.
Wie beschreibt es Gerald Hüther so wunderbar in einem seiner Youtube-Videos: Menschen bleiben am liebsten in den Gefilden, die ihnen bekannt sind. Sogar, wenn sie mit dem Zustand dort eigentlich unzufrieden sein. Zu groß ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Denn was erwartet uns dort draußen im Unbekannten? Gefahr, Unsicherheit, Nicht-Wissen, Überforderung…
Um den Sprung über die innere Schwelle hin zur Veränderung zu schaffen brauchen wir entweder einen triftigen Grund, z.B. eine Lebenskrise, herausfordernde Umstände im Leben oder aufs Singen bezogen eine deftige Stimmstörung oder Auftrittsangst oder – und das erwähnt Hüther fast nebenbei – eine „Sternstunde“. So nennt er einen Moment, der so einprägsam und bedeutsam ist, dass der Mensch den Schritt ins Unbekannte wagt. „Es braucht eine Berührung. Einen Moment, wo der Mensch wieder mit seiner ursprünglichen Lebendigkeit in Kontakt kommt.“
Ja! Ja! Ja! Und deswegen brauchen wir mehr „Sing- und Stimmerlebnisse“ und weniger Üben, Verbessern und Herumbasteln. Und – das klingt vielleicht komisch – aber damit diese Erlebnisse passieren können, brauchen wir eine gewisse Selbstdisziplin. Wir müssen uns immer wieder uns selber aktiv zuwenden und den Kontakt mit dem Körper suchen. Den Atem freilassen. Den Wechsel von Tun und Lösen praktizieren. Stille und Nichtstun einladen. Die Stimme unseren Bewegungen anvertrauen, anstatt sie selbst in die Hand zu nehmen. All das kann man üben. Oder schöner ausgedrückt: Kultivieren! Am besten täglich.
Wir müssen uns immer wieder achtsam einfangen, wenn wir anfangen, irgendwo auf der Oberfläche herumzudümpeln oder über Übungen oder ein Stück „irgendwie drüberzuhuddeln“. Wir müssen uns stets aufs Neue erinnern, unseren Körper nicht zu übergehen, sondern ihm zuzuhören, nicht an ihm herumzumanipulieren und statt Kontrolle auszuüben eine aufrichtige, lebendige Begegnung suchen.
Wie in einer guten Beziehung. Nur dann passieren die Sternstunden, die Erlebnisse, die so tiefgreifend sind, dass sie der perfekte Nährboden sind fürs nächste innere Level und nachhaltiges Wachstum.
Damit das möglich wird, ist definitiv eine gute Portion innere Arbeit nötig, damit unser Unterbewusstsein uns – bei all den guten Vorsätzen – nicht immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Wir müssen hinlauschen, was uns die kritischen Stimmen und alten Glaubenssätze zu sagen haben, wie wir zu sein oder auch nicht zu sein haben. Nur wenn wir sie ernst- und uns ihrer annehmen, können sie nach und nach leiser und leiser werden. Es ist nötig, dass wir die Kapazität unseres Nervensystems, abenteuerliche und vielleicht auch erstmal gefährlich anmutende Erlebnisse auszuhalten, erweitern. Damit wir nicht gleich aufgeben, wenn in unseren Singerlebnissen andere Dinge passieren, als das, was wir erwarten oder uns wünschen.
Aber es lohnt sich soo sehr. Versprochen, dickes hoch-und-heiliges Indianderehrenwort!
Diese Dinge sind viel tiefer wirksam, als das Rauf-und-runter-Jodeln von Tonleitern. Wenn wir auch am Anfang manchmal das Gefühl haben, wir treten auf der Stelle, am Ende führen sie zu einem ganz anderen Gefühl von innerer Erfüllung.
Denn das ist es ja, was wir uns alle wünschen: Erfüllt sein. Erfüllt singen. Klang genießen. Sich mit den Mitmusikern und dem Publikum verbinden und Aufgehen in der Musik. Lebendigkeit erleben.
Naja, zumindest ist das mein Wunsch…
Aber Deiner vermutlich auch. Sonst wärst Du nicht hier gelandet. 😉
Alles Liebe,
Anna
Vor zwei Wochen hatte ich eine Ostheopathiesitzung, bei der ich auf meinen inneren Kern gestoßen bin. Kern in dem Sinne, wie das Kerngehäuse eines Apfels, meine innerste körperliche Faszienstruktur, die sich von den Fußsohlen, bis zum Schädel erstreckt.
Schon oft hatte ich versucht, diese Faszienkette (Thomas W. Myers nennt sie in seinem Buch „Anatomy Trains“ Deep Frontal Line (DFL)) zu verstehen und zu verinnerlichen, weil mir klar war, dass sie für das Singen unglaublich bedeutend ist. Sie ist die innere Struktur, die wesentlich für unsere innere Aufrichtung zuständig ist und sowohl das Zwerchfell und die Strukturen des Beckenbodens als auch die Rachen-, Zungen und äußere Kehlkopfmuskulatur umfasst.
Der Stein der Weisen für jede*n Sänger*in sozusagen 😉
Und trotzdem kam ich ihr nicht auf die Spur. Ich konnte mir hundertmal Bildchen anschauen und fand doch keine wirkliche Verbindung dazu. Und dann in der Osteopathiesitzung konnte ich plötzlich einen wesentlichen Teil dieser Faszienkette – nämlich die senkrecht auf der Innenseite des Kreuzbeins verlaufende Gewebsstruktur in meinem Becken – tief und klar spüren.
Wow. Aha-Erlebnis auf allen Ebenen. Verstand, Körper, inneres Wissen, Erleben.
In den Tagen darauf habe ich mich tief in meine Fachbücher versenkt und konnte endlich endlich die Verbindungen sehen und gleichzeitig innerlich erleben.
Und ich habe mit der Stimme daran „entlangexperimentiert“. Hochgradig spannend!
Ich spreche oft davon, dass es mir darum geht, die Menschen, mit denen ich arbeite (wieder) mit ihrem inneren Kern zu verbinden, aber bisher meinte ich damit meistens eher den individuellen Wesenskern, der diesen Menschen eben einzigartig in seinem Sein, seinen Gefühlen und auch seiner Stimme macht.
Plötzlich eine passende physiologische, also ganz und gar greifbare Struktur dazu zu haben, mit der wir arbeiten können, öffnet einen völlig neuen Raum der Möglichkeiten.
Klar, die anderen Faszien, mit denen ich schon lange arbeite, ermöglichen diesen Kontakt auch schon, aber diese innerste Verbindung passiert auf einem noch viel intensiveren Level.
Am vergangenen Freitag hatte ich dann zwei Einzelstunden mit zwei Schülerinnen, die schon sehr lange bei mir sind. Sie kennen die allermeisten meiner Tipps und Tricks, haben die offene STIMMSINN – Arbeitsweise zutiefst verinnerlicht und sind deshalb immer offen und neugierig Dinge auszuprobieren, die wir noch nie zuvor gemacht haben.
Natürlich haben wir mit dieser Kernfaszie herumexperimentiert und es war grandios.
In sich selbst eine Verbindung von Kopf bis Fuß zu spüren und die Stimme daran anzulehnen – erstmal Abschnitt für Abschnitt, dann immer weitreichender – hat uns nicht nur jeden für sich zutiefst und sofort mit sich selbst verbunden, sondern auch die Verbindung zum anderen Individuum möglich gemacht. Kernschmelze sozusagen.
Was für ein Spaß, was für eine Freude, wenn die Stimme sich wirklich nach innen hin öffnet. „Innen ist außen und außen ist innen“, sagte eine der beiden Schülerinnen und ich konnte es am eigenen Leib mitspüren, was sie meinte.
Und es ist so hilfreich, die Verbindung nach „Innen“ an einer ganz konkreten Struktur festmachen zu können. Auch wenn diese Verbindung zu Beginn noch schwammig ist, sie wird durch die gelenkte körperliche Anwesenheit und das gleichzeitige Tönen und Singen immer greifbarer.
Mit unserer Aufmerksamkeit können wir ganz gezielt mit dieser inneren Kernstruktur in Verbindung bleiben und uns immer tieferem Genuss hingeben.
Wir können uns immer mehr in diese Verbindung „hineinfreuen“, genau wie wir uns immer tiefer und inniger mit einem anderen Menschen verbinden können.
In dieser Verbindung zu singen ist eine pure Freude.
Wir erleben ein sowohl körperliches, als auch darüber hinausgehendes, Gefühl von innerer Stabilität und Souveränität bei gleichzeitig großer Flexibilität. Ein tolles Körpergefühl, das uns ein ganz anderes „Standing“ auch im Kontakt mit der Welt und anderen Menschen und Lebewesen gibt.
Der Kontakt zwischen Stimme und „Körperkern“ ermöglicht – und das ging mir und den Schüler*innen gleichermaßen so – eine mutige innere Öffnung, die unsern Wesenskern zum Klingen bringt.
Schaffen wir es, diese Verbindung nicht nur im Singen, sondern auch im Moment des Atmens zu halten, entsteht zusätzlich noch eine sich selbst verstärkende Dynamik, die das Singen mit jeder Phrase müheloser macht und den Kontakt nach innen noch intensiviert.
Das ist wie Fliegen! Nur noch 1000mal besser.
Aber Achtung! Wenn sich plötzlich der Kopf einschaltet und der Verstand sich zu freuen beginnt, „wie gut es klingt“ oder „wie mühelos es funktioniert“, steigen wir aus aus dem Erleben und fallen in den Bewertungsmodus (ja, der greift auch, wenn wir etwas positiv bewerten), der wiederum den Modus des „Machens“ direkt nach sich zieht.
Aber das Gute ist, wir können jederzeit zurück in den Wahrnehmungsmodus wechseln, weil es ja immer noch um eine konkret-spürbare körperliche Struktur geht.
Falls du jetzt so richtig neugierig bist und kaum erwarten kannst, auf (klangliche) Entdeckungsreise zu dieser inneren Struktur zu gehen, lege ich dir meinen Onlinekurs „Körperklang – Du bist das Instrument!“ ans Herz. Darin widmen wir uns ein ganzes Kapitel lang dieser „Kernfaszie“.
Ich verspreche dir, du wirst dir selbst ganz neu begegnen. Pur und direkt.
Halleluja!
Die beiden Begriffe Raum und Fokus sind zwei wichtige Protagonisten in meiner Welt des Singenlernens. Ich nutze die beiden Worte vor allem um den Menschen zu helfen, ihren eigenen Klang, die Funktion ihrer Stimme und die Rolle des Atems beim Singen kennenzulernen. Das ist besonders im Gespräch mit Menschen hilfreich, die sehr im Konzept der Register „Bruststimme und Kopfstimme“ unterwegs sind und sich dadurch in vielerlei Hinsicht selbst im Weg stehen. Aber das Spannungsfeld Raum und Fokus lässt sich noch auf so vielen anderen Ebenen ertragreich erforschen.
Ich verwende die beiden Worte Bruststimme und Kopfstimme in meiner Arbeit so wenig wie möglich. Zu oft bin ich Menschen begegnet, die in der Wahrnehmung ihrer eigenen Stimme eine starre Grenze zwischen beidem ziehen, und sich damit mehr schaden als nützen. Es gibt nicht nur schwarz und weiß, sondern unendlich viele Schattierungen von Grau dazwischen und hier kommen die Begriffe Raum und Fokus ins Spiel.
Denn sie beschreiben – meiner Erfahrung nach – sehr gut auf ganz unsängerische Weise den subjektiven Eindruck, wie sich ein Klang anfühlen kann.
Die beiden Begriffe an sich sind neutral. Beide Qualitäten sind auf ihre Weise wichtig. Es gibt – so liebe ich es – kein Richtig und Falsch. Wir können mit der Gewichtung der Beiden spielen. Wie und auf welche Weise, das möchte ich in den folgenden Abschnitten beschreiben.
Die Phänomene Raum und Fokus können auf ganz unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen werden. Zunächst auf der Ebene der konkreten Klangerzeugung. Singen wir z.B. einen kräftigen Ton in mittlerer Lage, schließen die Stimmlippen mit viel Masse. Je mehr Masse schwingt, desto kraftvoller klingt der Ton. Er bringt viel Fokussierung mit sich, ist kompakt und stabil und ich habe möglicherweise das Gefühl, einen recht direkten Zugriff auf die Stimme zu haben.
Berühren sich die Stimmlippen nur an der Randkante, entsteht ein filigranerer, beweglicher Ton. Er ist nicht kernig, sondern in der Regel weich und zart. Ich fühle weniger Fokus, dafür aber mehr Raum im Klang.
Kompakt, stabil, konkret, direkt, kernig – das sind für mich Qualitäten aus der Fokus-Welt. Im Gegensatz dazu stehen die Qualitäten aus der Raum-Welt: Weich, fein, schwingend, ausdehnend.
Natürlich kann auch ein leiser Ton sehr viel Fokussierung beinhalten und ein kräftiger Ton viel Raum. Gerade in dieser Unschärfe und Subjektivität in der Betrachtung liegt meiner Meinung nach die Chance, dass Schüler*innen wirklich ihren ganz eigenen Zugang zu ihren stimmlichen Qualitäten entwickeln können.
Diese Raum- bzw. Fokusqualitäten im Klang können die Menschen in der Regel sehr gut wahrnehmen und die Tatsache, dass ein Ton z.B. mehr Kern oder auch mehr Schwingung braucht, ist auch für Laien und Anfänger einzusehen. Gleichzeitig wird vermieden, Grenzen zu ziehen, wo keine sind und es schwingt immer implizit mit, dass es unendlich viele verschiedene Schattierungen im Klang geben kann.
Randnotiz: Auch das Phänomen „Twang“ lässt sich gut durch Raum und Fokus beschreiben. Aber da ich mich damit bisher nicht vertiefend beschäftigt habe, sei dies hier nur am Rande und der Vollständigkeit halber erwähnt.
Eine zweite Betrachtungsebene für die Polaritäten Raum und Fokus ist das Zusammenspiel von Atem und Resonanz. Der weich fließende Atem öffnet den Raum zum Körper. Das kann jeder bestätigen, der sich schonmal spürend mit dem Atem beschäftigt hat. Je mehr der Atem durch den ganzen Körper fließen kann, desto reaktionsbereiter und schwingungsfähiger wird der Körper für die Stimme. Überall dort, wo der Atem sich Raum nimmt, kann auch die Stimme ihren Klang entfalten und den Körperraum immer mehr ausfüllen. Der Klang wird auf diese Weise voll und resonant.
Reduzieren wir den Atemfluss (oder schießen wir darüber hinaus, in dem wir den Atem schieben), verschwindet dieser Raum. Der körpereigene Klang wird flacher, das individuelle Timbre tritt in den Hintergrund.
Warum sollten wir das dann tun?, könnte man sich fragen und diese Frage ist berechtigt. Meine Antwort darauf lautet: Weil wir aufgrund einer erhöhten emotionalen Dringlichkeit (z.B. in einer bestimmten Stilistik) einen fokussierteren Klang brauchen!
Indem wir den „Atem-Raumanteil“ reduzieren, ermöglichen wir der Stimmmuskulatur, kräftiger zuzugreifen, die perfekte Balance zwischen innerer und äußerer Kehlkopfmuskulatur zu verlassen und Klänge hörbar werden zu lassen, die emotional eine andere Aussage haben.
Jeder von uns kennt das. Wenn wir über die Straße hinweg einen rüpelhaften Mitverkehrsteilnehmer anschreien, verwenden wir quasi keine Luft zur Stimmgebung. Wir unterstreichen die Dringlichkeit unserer Aussage durch einen knackigen, fokussierten Ton, bei dem die emotionale Aussage wichtiger ist, als unsere individuelle Klangfarbe. Bei einem perfekt ausbalancierten wunderschön gesungenen Klang, würde sich unser Gegenüber vermutlich gar nicht angesprochen fühlen. 😉
Der durch die Atembremse entstehende Klang rutscht auf der Balanceskala zwischen Raum und Fokussierung ein gutes Stück Richtung Fokus. Im schlimmsten Falle verliert sich auch die noch die letzte Spur an Raum und wir verfallen in ein hysterisches, schrilles Kreischen.
Das möchten wir beim Singen in der Regel (selbst bei hoher emotionaler Beteiligung) vermeiden und da stellt sich die Frage, wie wir den Raumanteil im Klang wieder erhöhen können, ohne die Stimmmuskulatur oder den Atem loszulassen.
„Resonanzräume“ lautet das Stichwort und damit sind in diesem Zusammenhang vor allem die Räume im Schädel gemeint (vgl. Anna wird syng:trainer). Hier können wir – auch wenn sie nicht unendlich groß sind – Raumressourcen wecken und somit dem Klang trotz seiner Dringlichkeit, wieder etwas Raumqualität – weich, beweglich, individuell – zurückgeben.
Die Begriffe Raum und Fokus helfen mir sehr oft bei der Beschreibung von Klängen. Die stimmlichen Unterschiede in verschiedenen Stilistiken und somit klangästhetischen Konzepten lassen sich durch die Balanceskala zwischen Raum und Fokus häufig sehr präzise und trotzdem offen und wertungsfrei beschreiben. Während wir im klassischen Klangideal in der Regel den größtmöglichen Raum mit gerade soviel Fokus wie nötig anstreben, suchen wir im Musical häufig einen knackigen, nahezu trompetenartigen Klang. Popgesang dagegen liebt die Gegensätze von sehr raumigen, manchmal hauchigen Klängen und klaren, fokussierten sprachnahen Sounds. Die Mikrofonierung und der Wegfall der Notwendigkeit, aus sich selbst heraus mit der Stimme Raum einzunehmen, spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle.
Gerade wenn ich genreübergreifend singen und unterrichten möchte, erlaubt mir der bewusste Ausstieg aus der Brust-/Kopfstimm-Box, Klänge vielschichtiger zu betrachten. Beim Üben und Erforschen der Stimme mal auf die Suche zu gehen, wo und auf welchen unterschiedlichen Ebenen ich Raum und Fokussierung erleben kann, hilft mir meine Stimme immer besser kennenzulernen und im Falle einer ungewollten Dysbalance das angemessene „Gegenmittel“ zu finden, bzw. eine Ahnung zu haben, wo ich suchen und fündig werden könnte.
Aber die Frage nach Raum und Fokus ist auch über den konkreten Klang hinaus sinnvoll. Sie begegnet uns u.a. im Spannungsfeld zwischen Innen und Außen.
Wo bin ich bei mir, wo bin ich im Raum?
Wo breitet sich der Klang aus und nimmt Raum ein – das kann innen und außen sein – und wo finde ich durch die Fokussierung meiner Aufmerksamkeit Ankerpunkte um nicht im Raum verloren zu gehen?
Wie sehr bin ich im Außen und bin ich dort fokussiert oder breit und offen?
Wie bin ich innerlich verbunden?
Ganz wichtig sind die beiden Begriffe auch in meiner Arbeit mit den Atemtypen. Sie beschreiben ganz wunderbar elementare Aspekte der jeweiligen Atemdynamik, sowohl in der körperlichen Bewegung als auch mit der Stimme.
Einatmer und Ausatmer brauchen in vielerlei Hinsicht eine völlig andere Balance zwischen Raum und Fokus um in ihre Kraft und Leichtigkeit zu finden. Wo für den Einen das Augenmerk auf dem Fokus liegt und der Raum sich wie von selbst daraus entfaltet, ist es für den Anderen genau umgekehrt. Wir arbeiten am und mit dem Raum und der Fokus in der Stimme zeigt sich von allein.
Damit herumzuexperimentieren ermöglicht ein immer klareres Bild davon, welche Bewegungsdynamik in meinem ganz individuellen Fall Stimme und Körper intensiver miteinander verbindet. Ist eine Bewegung eher konkret oder weich? Wie beginnt eine (Stimm-)bewegung? Mit einem klaren, knackigen Anfang oder aus einem offenen Schwung heraus?
Wenn wir die unterschiedlichen Qualitäten von Raum und Fokus auf körperlicher Ebene erforschen (z.B. in den Wilkschen Körperübungen), können wir diese – immer eingebettet in den Kontext des ganzes Körpers – leicht auf die Stimme übertragen.
Auch auf der Aufmerksamkeitsebene bewege ich mich ständig zwischen Raum und Fokus. Sie überlappt sich dabei in vielen Aspekten mit der Frage nach dem Detail und dem Ganzen. Wir können uns auf winzige Details fokussieren und unser Erleben, z.B. auf körperlicher Ebene, sehr genau und analytisch auswerten. Dabei muss es nicht immer um ein kleines anatomisches Detail gehen, sondern wir können uns auch auf ein ganz bestimmtes Phänomen, z.B. eine Bewegungsqualität konzentrieren. Unsere Aufmerksamkeit liegt dann ganz dort und wir erfahren intensiv und sehr genau, was sich dahinter verbirgt.
Sind wir mit unserer Aufmerksamkeit eher im Raummodus, geht es weniger um das einzelne Detail, sondern möglicherweise verstärkt um die Zusammenhänge und Verbindungen. Es geht um das ganze Bild. Wieder begegnen uns die unterschiedlichen Qualitäten: weich, fließend, ausdehnend, schwingend, in Beziehung, offen. Im Gegenzug dazu: Präzise, genau, konkret, detailliert.
Sich diese verschiedenen Erlebnisebenen von Zeit zu Zeit bewusst zu machen und all die Aspekte der Polarität von Raum und Fokus zu erforschen lohnt sich definitiv.
Raum und Fokus sind Gegenspieler. Angelehnt an die Unschärferelation des Physikers Heisenberg, der herausfand, dass wir bestimmte Eigenschaften (Ort und Impuls) eines Teilchens nicht gleichzeitig in vollem Umfang erfassen können, möchte ich anmerken, dass wir auch die Phänomene Raum und Fokus nicht gleichzeitig betrachten können. Wir brauchen eine gewisse innere Unschärfe um auf beide Qualitäten Zugriff zu behalten. Wenn wir uns ganz und gar auf den einen Aspekt stürzen, wird der andere verblassen.
Manchmal ist aber genau das lohnenswert, nützlich und erlebnisreich – ganz egal auf welcher Ebene – Klang, Atem, Resonanz oder Aufmerksamkeit -, nämlich den Raum auf der einen oder die Fokussierung auf der anderen Seite einmal intensiv zu erforschen. Dadurch lernen wir die Eckpunkte dieser Polarität wirklich in ihrer Tiefe kennen und erweitern somit die Bandbreite und qualitative Ausdehnung unseres Spannungsfeldes. Wir verbreitern das Spektrum zwischen Raum und Fokus und erwerben damit neue, verfeinerte Fähigkeiten uns auf der Balanceskala zu bewegen.
Und manchmal – oder sogar ziemlich oft – profitiert genau der andere Bereich davon. Die Erforschung von Raum hat eine bessere Fokussierung zur Folge und die Fokussierung führt am Ende zu mehr Raum. So funktioniert u.a. das Konzept der inneren Anlehnung (mein Begriff für „Stütze“). Je genauer ich erfahren habe, wo und wie ich mich mit dem Klang anlehnen kann, desto freier und klangvoller kann sich dieser entfalten. Raum und Fokus in perfektem Zusammenspiel.
Beispielhafte Übungen für die Arbeit mit Raum und/oder Fokus findest Du auch auf dem STIMMSINN-Youtubekanal:
Die Luftharfe (Raum und Fokus in direktem Vergleich)
Die innere Kölnarena (Räume im Kopf)
Singen durch die Ohren (Räume im Kopf)
Die Möwe (Fokus)
ZZZ (Fokus)
Reinknarzen (Fokus)
Singen mit Nase zu (wie sich Raum und Fokus bedingen)
Vor gut zwei Wochen kam im Rahmen einer Zoomkonferenz meines Onlinekurses „Stimme ist mehr…“ ein spannendes Thema auf. Eine der Teilnehmerinnen äußerte ihren Unmut über den Drang unserer Gesellschaft, sich immer weiter selbst zu „optimieren“. Wir müssen klüger, schneller und gelassener werden, täglich Yoga machen und uns in Mitgefühl und Selbstliebe üben. Und natürlich – klar, das steht außer Frage – müssen wir höher, lauter und schöner singen.
Für jedes Problem dieser Welt gibt es ein Ratgeberbuch oder einen Onlinekurs und der Garant auf persönliche Weiterentwicklung lässt sich mittlerweile an jeder Ecke „kaufen“. Je teurer, desto „erleuchteter“ werden wir am Ende daraus hervorgehen.
Immer suchen wir die sofortige Patentlösung für unsere Probleme und wenn wir es nicht tun, haben Freund*innen oder Lehrer*innen garantiert die ultimativen Tipps parat. Haben wir die eine Methode XY noch immer nicht ausprobiert, fühlen wir uns schlecht und nehmen uns vor, mindestens mal ein paar Youtube-Videos zum Thema anzuschauen.
Versteht mich nicht falsch. Ich persönlich liebe es, neue Dinge zu lernen und ich liebe es, an mir zu arbeiten (ja, echt, das war schon immer so). Ich schaue mir inspirierende Videos von klugen Leuten an und habe Freude, auch andere Menschen in ihrem Lernen zu unterstützen. Und ja, ich buche auch Onlinekurse und biete sogar selbst welche an. 😊
Aber ich finde es eine völlig berechtigte und sehr wertvolle Frage, die die Kursteilnehmerin da aufgeworfen hat und ich habe dieses Thema intensiv in mir gedreht und gewendet.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Selbstoptimierung und „Lernen“?
Für mich liegt der Knackpunkt in der Motivation. Warum möchte ich lernen? Was treibt mich an, mich zu bilden? Und da ist für mich ganz klar: Wenn es ums Optimieren geht, liegt die Motivation immer im Außen. Ich möchte mich verbessern „um zu“…
Ich möchte gelassener sein, um im Alltag besser zu funktionieren. Ich möchte meine Stimme verbessern, um bessere Rollen oder Konzerte singen zu können. Ich möchte mehr Selbstliebe praktizieren und unbedingt meditieren, weil das ja jetzt alle machen und das sicher mein Leben vereinfacht usw.
Dabei kann ich auch von ganz anderer Stelle motiviert sein mich auf einen Lernweg zu begeben.
Einfach so, weil ich neugierig bin zum Beispiel. Oder weil es mir ein absolut tiefes inneres Bedürfnis ist. Weil mir etwas Freude macht und ich Lust habe, mich mit einem Themengebiet zu beschäftigen. Weil mein Herz höher schlägt, wenn ich mir Videos anschaue, in denen ein kluger Mensch über das Leben philosophiert. Weil ich mich wohlfühle, wenn ich mich in einem bestimmten Lernumfeld bewege. Und weil es in mir eine ganz tiefe innere Lernlust gibt, die mich antreibt und sagt: Da ist doch noch mehr drin für Dich, Anna.
Und sehr eng damit verwoben ist die Frage nach dem persönlichen Zustand, aus dem heraus ich mein Lernunterfangen starte. Befinde ich mich in einem Zustand von „ich bin nicht gut so, wie ich bin“? Fühle ich mich noch nicht kompetent genug, wenn ich jetzt nicht noch dieses oder jenes Zertifikat erwerbe? Habe ich das Gefühl, sonst nicht mithalten zu können oder nicht wertvoll zu sein, wie ich bin?
Oder gehe ich los, weil ich für mich selbst lernen möchte? Weil es einen inneren Drang gibt, mich selbst oder ein Themengebiet oder meine Stimme oder meinen Körper oder was auch immer, noch mehr zu verstehen. Ja, vielleicht, damit ich mich leichter ausdrücken kann und mehr Freude am Singen habe. Weil ich das Gefühl liebe, wenn meine Stimme einfach so dahinfliegt oder sich leicht und geschmeidig mit anderen Stimmen verbindet. Aber dann liegt auch die Motivation für das „um zu“ in mir und ist an meine eigene innere Freude angeschlossen.
Die Freude, die Lust am Tun ohne vorgegebenen Ausgang, zeigt sich mir immer mehr als Wegweiser in meiner eigenen Arbeit, aber auch mit Schüler*innen und Kursteilnehmer*innen. Da wo die Freude ins Spiel kommt, geht es lang. So einfach. Fast zu einfach.
Dort wo die eigene Neugier entfacht wird – selbst wenn es auf den ersten Blick überhaupt keinen „Sinn“ ergibt – da gehen wir weiter. Und dann lernen wir wie von selbst.
Und ich glaube – ganz ohne Selbstoptimierungshintergedanken – das dürfen wir uns viel öfter erlauben. Nicht, damit wir am Ende dann doch wieder „besser sind als die anderen“. Sondern einfach um das Singen, das Sich-Ausdrücken und letztendlich das Leben tiefer zu genießen, mehr auszukosten und eine intensivere Lebenserfahrung zu machen.
Wie erkenne ich nun, auf welchem Pfad ich gerade unterwegs bin? Wie erkenne ich, welche Kurse und Ratgeberbücher mich in welche Richtung führen?
Ich frage mich in diesem Zusammenhang ganz einfach: Was brauche ich und was nährt mich wirklich?
Nicht immer ist es leicht, die eigenen Bedürfnisse ganz klar zu spüren und in einer Welt in der uns permanent Probleme und Optimierungsbedarf eingeredet wird, bei sich zu bleiben.
Aber ich glaube, wir dürfen wieder lernen, unserer eigenen Wahrnehmung zu trauen.
„Ich spüre dieses oder jenes.“ „Hier macht mir etwas wirklich Freude oder fühlt sich einfach so gut an.“ Ganz ohne es tiefer begründen zu müssen. „Ich bin noch skeptisch, aber neugierig.“
Das alles sind Maßstäbe, an denen wir uns orientieren können. Vielleicht sollten.
Und das kann für jeden ganz unterschiedlich sein. Das Lerntempo des Einen ist für jemand anderen viel zu schnell. Die Tiefe, in die ein Kurs oder ein Gespräch mich führt, ist nichts für meinen Nachbarn. Mancher braucht viel Begleitung, ein anderer wenig. Jene braucht gutes Zureden, die andere einen Tritt in den Popo. Und das ist wunderbar und gut so. (hihi, reimt sich…)
Wenn ich meine wirklichen Bedürfnisse kenne und meiner eigenen Wahrnehmung traue (und vielleicht auch noch eine Prise Intuition einlade), kann ich mich unabhängig machen, von dem, was im Außen herumschwirrt. Beziehungsweise, ich kann klarer spüren, womit ich wirklich in Resonanz gehe und als Konsequenz daraus: Frei wählen.
An dieser Stelle möchte ich nochmal erwähnen, dass ich es überhaupt nicht für verwerflich halte, an der einen oder anderen Stelle im Leben etwas optimieren zu wollen und einen äußeren Anreiz als Lernmotivator hinzuzuziehen. Manchmal brauchen wir konkrete Ziele, ja sogar Wettbewerb mit Anderen und konkrete Herausforderungen. Mich spornt sowas regelmäßig zu Höchstleistungen an. Aber die wichtige Frage ist immer, ob ich mir dessen bewusst bin.
Denn wenn ich im Strudel des Selbstoptimierungswahns lande und es nicht bemerke, werde ich mich immer fragen, warum es mich nicht wirklich glücklich macht, was ich da tue. Wenn ich innerlich mein Gefühl von „ich bin nicht gut genug“ weiter festige, kann ich noch hunderttausend Coaching-Kurse für mehr Freiheit im Leben machen und bewege mich doch nur frustriert auf der Oberfläche.
Dabei sind wir in der Tiefe unseres Seins Lernwesen. Wir möchten uns weiterentwickeln. Lernen ist wunderbar und großartig und innere Freude, Genuss und die Sehnsucht nach Freiheit sind wunderbare Motoren für unser Lernen. Sich dabei auch über Dinge und Kanäle inspirieren zu lassen, die uns vielleicht sogar erstmal absurd oder nicht relevant erscheinen, kann eine gute Möglichkeit sein, der Freudespur zu folgen und nicht gleich nur nach dem Ergebnis zu schielen. Im Grunde ist es die Art und Weise, wie Kinder lernen, wenn sie frei spielen. Dann sind sie ganz und gar im Moment und erleben mit allen Sinnen etwas, von dem sie zutiefst fasziniert sind. Kinder haben noch keine (oder zumindest eine nicht so ausgeprägte) Meta-Ebene, mit der sie immer wieder Rücksprache halten, ob sie schon genug gelernt haben. Die erwachsene Fähigkeit der Reflektion ist Fluch und Segen zugleich und es ist und bleibt eine Gratwanderung, beides miteinander zu verbinden.
Ganz und gar eintauchen ins Erleben, dann wieder auftauchen und reflektieren. Die Perlen einsammeln, nachwirken lassen, Lernergebnisse bündeln, innerlich strukturieren und dann wieder ganz tief eintauchen ins Tun. So erlebe ich es, wenn ich in einem nährenden Lernfeld unterwegs bin.
Lernlust und die Lust an der persönlichen Entfaltung entwickeln sich von innen nach außen. Von der Neugier oder dem inneren Bedürfnis hin zur Erweiterung der Fähigkeiten. Selbstoptimierung dagegen nimmt den anderen Weg und ist von außen nach innen orientiert.
Auf der einen Seite steht – natürlich überspitzt – „ich kann das noch nicht (gut genug) und bin deswegen ein Loser“. Auf der anderen Seite steht ein Gefühl von: „Ich bin vollständig, aber ich möchte etwas erleben, entdecken, mich entfalten.“
Und dieses Spannungsfeld wird auch ganz deutlich, wenn wir uns die zugehörige Sprache und ihre Atmosphäre anschauen.
Auf der einen Seite geht es um Effizienz und Produktivität, ums Produzieren und Erreichen und um den Erfolg.
Die Worte auf der anderen Seite fühlen sich – auch ganz konkret körperlich – völlig anders an: Potential, erleben, entdecken, finden, einen Weg gehen, sich entfalten.
Aber Achtung, auch hier lauert die Selbstoptimierung manchmal hinter schönen blumigen Begriffen.
Immer wieder ertappe ich mich selbst dabei, wie ich auf geschicktes Marketing-Gefasel hereinfalle.
Aber dann frage ich mich: Worum geht es eigentlich wirklich? Geht es um einen Mangel, den es zu beheben gilt? Ein Problem, das dringend gelöst werden muss, damit ich ein vollständiger, wertvoller Mensch bin? Eine Angst, einen Schmerz?
Dann mache ich – weil ich für mich persönlich entschieden habe, dass ich in einer solchen Welt nicht leben möchte – auf dem Absatz kehrt und nutze die Kraft meiner Aufmerksamkeit, in dem ich sie dorthin lenke, wo ich das Gefühl habe, meiner eigenen inneren Wahrheit näher zu kommen.
Klingt schwülstig. Ist aber so.
Meine Leitfragen sind: Was entspricht meinem Wesen? Wie kann ich immer mehr ich selbst sein bzw. werden? Wie kann ich mich in dem, was ich tue immer mehr verankern? Wohin leiten mich meine Neugier und meine Freude? Was bringt mein Herz zum Singen?
Und schlussendlich liegt es ja an uns selbst, wie wir unser eigenes Lernen und die Motivation dahinter einordnen und ob wir uns mit einem Gefühl von „ich bin nicht gut genug und muss mich optimieren“ oder liebevoll zugewandt und neugierig auf Höhen, Tiefen und Möglichkeiten, die es noch zu ergründen gibt, auf den Lernweg begeben.
Ich wünsche euch allen eine gute, erlebnisreiche Zeit und auf der einen Seite tiefe Zufriedenheit mit dem was da ist und auf der anderen Seite einen inneren Wissens- und Erlebensdurst, der unersättlich ist!
Anna
P.S. Mehrmals im Jahr biete ich meinen Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ an. Dieser 12-wöchige Onlinekurs ist eine intensive Abenteuerreise zur Dir und Deiner ganz eigenen Stimme. Vielleicht singst Du am Ende schöner als vorher. Könnte passieren. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht macht es einfach Spaß, Deine Stimme, Deinen Körper und Deine Innenwelt zu erforschen… Eines steht fest. Du wirst unterwegs sooo viel erleben und diese drei Monate ganz sicher nie mehr vergessen.
Ein Thema, das in meinem Unterricht, in meinen Kursen und in meinem Leben immer wieder in Erscheinung tritt, ist die Beschäftigung mit Polaritäten. Unsere Welt ist voll davon und oft wird uns suggeriert – oder wir bestärken uns selber darin, dass es so sei – wir müssten uns entscheiden. Schwarz oder Weiß. Kinder oder Karriere. Bühne oder Unterrichten. Pop oder Klassik. Chor oder Solo.
Nichts davon ist wahr. Denn Gegensätze müssen sich nicht ausschließen. Im Gegenteil. Polaritäten können viel mehr und die Welt beginnt erst langsam langsam den Wert verschiedener Meinungen, Positionen oder Voraussetzungen zu verstehen. Polaritäten sind großartig! Immer wenn in meinen Kursen plötzlich Dinge gleichzeitig im Raum stehen, von denen unser Verstand eigentlich sagt, dass sie sich gegenseitig ausschließen, mache ich ein kleines Freudentänzchen. Wenn die Menschen mir rückmelden, dass sie sich gleichzeitig weich und von klarer Struktur fühlen, gleichzeitig Raum und Fokus wahrnehmen können, sich ganz bei sich und gleichzeitig ganz verbunden mit anderen fühlen. Das sind meine Sternstundenmomente.
Das Wahrnehmen von Polaritäten und die Arbeit damit tun vor allem eines. Sie öffnen Räume. Ich stelle es mir manchmal vor wie zwei Punkte, die weit voneinander entfernt sind. Ich kann die Aufmerksamkeit auf den einen oder den anderen richten. Dann verliere ich aber den jeweils anderen aus dem Blick. Oder ich kann – leicht unscharf – beide Eckpunkte gleichzeitig wahrnehmen und dann entsteht dazwischen eine Verbindung. Dann entsteht Raum, ein Dazwischen. Und dieses Dazwischen ist der Ort, wo Lebendigkeit passiert, wo Dinge entstehen können, die aus den beiden Polen gespeist werden, aber weder zur einen noch zur anderen Seite gehören müssen. In diesem Spannungsfeld gibt es unglaublich viel zu entdecken.
Beim Singen und in der Arbeit mit der Stimme könnten das z.B. ganz konkrete musikalische oder stimmliche Parameter sein. Laut und leise, sanft oder kräftig, hoch und tief, Anbindung und Freiheit, Innen und Außen. Fast immer liegen die interessanten Dinge, die es zu entdecken gilt, in eben solchen Spannungsfeldern. Indem ich die Polaritäten auslote, kennenlerne und vertiefe kann ich z.B. bezogen auf einen stimmlichen Parameter meinen eigenen Spielraum erweitern. Indem ich mir beide Pole bewusstmache, kann ich die Möglichkeiten dazwischen erfahren.
Kenne ich die Eckpunkte meines Tuns, meiner Stimme, meiner Gefühle nicht, kann ich auch den Raum dazwischen nicht für mich nutzen. Erst durch meine eigene Wahrnehmung wird er erlebbar. Dabei – das klingt zunächst paradox – gilt, je weiter die Polaritäten voneinander entfernt und je klarer sie getrennt sind, desto vielschichtiger erscheint das Dazwischen.
Und genau auf diese Weise, lässt sich mithilfe der Polaritäten der eigene Raum vergrößern. Wie bei einer Waage kann ich mir anschauen, auf welcher Seite gerade ein Übergewicht da ist. Welche der beiden Seiten ist mir vertrauter? Auf welcher Seite liegt meine Neugier? Wo möchte ich meine Möglichkeiten noch etwas ausdehnen? Wir werden uns vermutlich immer auf einer der Seiten mehr zuhause fühlen und das ist auch völlig in Ordnung. Aber es lohnt sich definitiv, auch auf der unbekannten Seite zu forschen. Denn die Erkenntnisse, die wir von dort mitbringen, werden sich auch auf der anderen Seite der Waage in einem vertieften Erlebnis niederschlagen.
Ein schönes Beispiel dafür sind für mich beim Singen die beiden wichtigen Zutaten „Raum“ und „Fokus“. Der eine kann nicht ohne den anderen existieren und ohne Zweifel brauchen wir beim Singen, braucht jede Stimme, sowohl Raum, als auch Fokussierung. Mal arbeiten wir hier, mal arbeiten wir dort. Erst im Kontrast der zwei können wir wirklich beide durchdringen und erfassen. Das ist das Wesen jedes Gegensatzpaares. In dem ich mich mal mit der einen, mal mit der anderen Seite beschäftige, vergrößert sich der Zwischenraum und meine Stimme erhält mehr Farbschattierungen, mehr Beweglichkeit, mehr Ausdrucksfreiheit, mehr Tragfähigkeit.
Eine wichtige „Polaritätenbaustelle“ mit der ich mich schon seit vielen Jahren beschäftige, ist die bipolare Atemdynamik. In der Arbeit mit den zwei Atemtypen gilt, wie schon oben beschrieben: Je klarer wir die Polaritäten trennen, desto mehr Raum entsteht im Körper, für die Stimme und auch innerlich für uns als menschliche Wesen. Der geschärfte Kontrast schafft Form und macht Dinge sicht- und spürbar. Dann entsteht im Hin und Her und der erlebten Gleichzeitigkeit von aktiven Tun und Geschehenlassen ein lebendiges Spielfeld, eine Dynamik, eine Bewegung. Und das macht nicht nur richtig Laune, sondern lässt auch die Stimmen zu ihrer Mühelosigkeit und freien Entfaltung finden.
Die Herausforderung in der Arbeit mit den (Atem-)polaritäten, ist dabei stets, sich nicht zerreißen zu lassen. Die Klarheit in der Unterscheidung zu erlauben und sich gleichzeitig nicht für eine Seite entscheiden zu müssen. Das ist nicht immer leicht, weil es dafür unsere stetige Wachheit braucht, nicht eine Seite aus dem Blick zu verlieren, sondern den Raum wirklich offen zu halten. Dabei können uns die Eckpunkte des Spannungsfeldes immer wieder helfen die Orientierung zu behalten.
Je klarer die Polaritäten in uns sind, desto stabiler der Rahmen und desto mehr Instabilität und damit Lebendigkeit kann und darf dazwischen passieren. Auch das kann man, wie nahezu alles im Leben, Üben und Lernen. Je größer unsere Fähigkeit wird, die Polaritäten gleichzeitig im Blick zu haben, desto kraftvoller kann sich das Dazwischen entfalten und desto reicher werden wir beschenkt.
Das mag jetzt alles ziemlich abstrakt klingen, aber jeder kann das für sich leicht an einigen Beispielen durchdenken und durchfühlen. Innen und Außen, Freiheit und Sicherheit, Tun und Lösen, Klang und Stille, Gesangstechnik und Gefühl, Populärem Gesang und Klassik, Detailanalyse und Ganzheitlichkeit, Kunst und Kommerz, Individualität und Zugehörigkeit, Musikvermittlung und eigene Kunst.
Die Liste der spannenden Polaritäten, mit denen wir es in der Arbeit mit der Stimme, im Singen, als Pädagog*innen, Künstler*innen und als Menschen zu tun haben, könnte ich noch unendlich fortsetzen. In allen Fällen gilt: Die eine ohne die andere Seite ist wertlos. Erst im Kontrast entsteht Klarheit und vor allem entspringen genau an dieser Stelle die spannenden Fragen, die uns in Bewegung bringen.
Manchmal kommt mir das Bild von elektrischen Polen in den Sinn. Nur in der Unterscheidung von + und – kann Strom fließen. Im Dazwischen der Polaritäten liegt das gesamte Potential des Energieflusses.
Weil ich mit dem Thema „Polaritäten“ noch viel weiter forschen möchte und ich große Lust habe, noch mehr Spannungsfelder zu öffnen und auch euch zu noch mehr räumlichem Denken und Erleben einzuladen, habe ich schon seit längerem vor, mich intensiv mit Menschen darüber auszutauschen. Vor allem mit anderen Sänger*innen, Chorleiter*innen, Musiker*innen und Stimmneugierigen.
Jeder Mensch hat seine eigenen Spannungsfelder und indem wir genau darüber sprechen, können wir viel über unser Gegenüber, aber auch über das Leben an sich erfahren. Polaritäten sind übrigens meiner Meinung nach keineswegs absolut zu sehen. Sie sind höchst subjektiv und von der betreffenden Person stets selbstgewählt. Diese „Landkarte“ der eigenen Spannungsfelder erzählt sehr viel über uns. Der eigene Blick auf die Polaritäten anderer Menschen kann genau deswegen unglaublich inspirierend sein.
Ermöglicht durch ein Corona-Künstlerstipendium des Landes NRW kann ich diese Idee nun endlich in die Tat umsetzen. Der STIMMSINN – Podcast kommt!
Unter dem oben genannten Titel „Twang oder Liebe“ werde ich Interviewgespräche mit verschiedensten Kolleg*innen führen. Dabei wird es in jeder Folge genau um die ganz persönlichen Spannungs- und Spielfelder meines Gegenübers gehen. Was ist Dein ganz persönliches „Twang oder Liebe“? Diese Frage wird am Beginn jeder Podcastfolge stehen und ich freue mich riesig auf die spannenden Gespräche und den Austausch mit den Kolleg*innen.
Der Name des Podcast „Twang oder Liebe“ hat sich übrigens vor einiger Zeit aus eben so einem Kollegengespräch ergeben . Leider weiß ich nicht mehr mit wem. Aber schon in dem Moment war mir klar: So wird er heißen. Mein Podcast. Denn genau diese Gegenüberstellung spiegelt für mich auch meinen eigenen Spagat zwischen den Welten wider.
Für diejenigen unter euch, die mit dem Begriff „Twang“ nichts anfangen können, sei kurz erwähnt, dass es sich dabei um einen gesangstechnischen Begriff handelt, der vor allem in der populären Gesangspädagogik sehr präsent ist. Überspitzt gesagt, wurde „Twang“ eine Zeitlang fast als das „Allheilmittel“ für alle technischen Schwierigkeiten eingesetzt. Gerade im Musicalbereich sorgte zu viel „Twang“ zu einem starken Individualitätsverlust der einzelnen Sänger*innen, weil alle nahezu gleich klangen. Mittlerweile gibt es zum Glück für viele technische Herausforderungen andere Lösungsansätze, aber dazu könnte man sicher einen ganzen eigenen Blogartikel verfassen 😉.
Ich liebe beide Seiten. Die Technik, das Forschen im Detail, das Handwerk – und das intuitive, ganz und gar ans Gefühl angebundene Singen. Lange Zeit dachte ich, ich müsste mich für eine Seite entscheiden. Nein. Mittlerweile habe ich einen eigenen Weg gefunden, dieses Spannungsfeld in mir offen zu halten, die Polaritäten gleichzeitig wahrzunehmen und klar voneinander abzugrenzen. Das gibt mir den Raum, meine eigenen Lösungen zu finden und je nachdem, wonach es mir ist, mit mir selbst und meinen Schülern mal auf der einen Seite, mal auf der anderen Seite zu arbeiten und mich dann im offen Zwischenraum so richtig auszutoben.
Herzliche Grüße aus dem Spannungsfeld von riesiger Forscherfreude und wackligen Knien sendet euch
Anna
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P.S. Nachtrag November 2023: Ich konnte insgesamt 7 Folgen des Podcasts „Twang oder Liebe“ veröffentlichen. Ihr findet sie hier.
„Macht es für Dich eigentlich einen Unterschied, ob Dein Newsletter an 300 oder 2000 Menschen raus geht?“
Diese Frage hat mir neulich eine Kollegin gestellt und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Diese Frage hat – wie gute Fragen das immer tun – in mir viel in Bewegung gebracht und ich möchte in diesem Blogartikel meine Gedanken dazu teilen. Denn die gehen weit über die eigentliche Frage hinaus und betreffen jeden von uns. Egal ob Sänger*in, Sprecher*in oder schlicht Mensch in dieser Welt.
Das Gespräch mit der Kollegin hatte eigentlich mit der Überlegung begonnen, wie es ist, wenn man vor einigen wenigen Menschen singt und das Konzert gleichzeitig per Live-Stream übertragen wird.
Macht das für mich als Sänger*in einen Unterschied? Was, wenn die zuhause dabei Chips essen oder am Handy daddeln?
In welchem Raum bewege ich mich dann überhaupt? Wie groß darf / muss der Raum sein, den ich mit meiner Stimme und meiner Energie fülle? Wie kann ich alle, die sich mit mir in diesem Moment in diesem Aufmerksamkeitsraum befinden, wirklich erreichen?
Mit diesen Fragen bin ich – spätestens seit ich vor etwas mehr als einem Jahr angefangen habe, meinen Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ zu den Menschen zu bringen – immer wieder unterwegs. Mit Menschen in so intensivem Kontakt – sei es im Austausch über das Erlebte, aber auch im Singen – zu sein, denen ich noch nie „in echt“ begegnet bin, war für mich am Anfang, und ist es manchmal immer noch, ein absolutes Wunder.
Wenn wir uns virtuell begegnen, scheinen wir auf den ersten Blick weniger verbunden zu sein.
Eine rein digitale Begegnung erscheint uns zweidimensional.
Wenn wir uns physisch in einem Raum befinden, spüren wir einander erstmal deutlicher. Das ist die Art von Begegnung, die wir kennen und mit der wir vertraut sind.
Aber ich durfte durch meine Online-Arbeit, die sich stetig erweitert und auf vielen verschiedenen Ebenen wächst, sehr wertvolles erfahren. Wir sind miteinander verbunden. So oder so.
Ganz egal, ob meine Kursteilnehmer*innen in Rostock oder Tirol, in Mailand oder Peru oder in Köln-Nippes direkt ums Eck sind.
Klar, zunächst befindet sich jede*r Kursteilnehmer*in – oder aber genauso bei einem Livestream – Konzert / Theater / Lesung – in seinem eigenen Raum. In dem Zimmer, das jedem vertraut ist. Dem eigenen Wohnzimmer, der Küche oder ich in meinem schönen STIMMSINN – Studio.
Als zweiten Raum, bewohnen wir uns selbst. Das klingt vielleicht erstmal seltsam, aber ich möchte es erklären. Der Raum, der in mir ist, meine Wahrnehmung davon, was mein Körper ist, meine Gedanken, meine Gefühle, meine innere Musik, ist nur mir zugänglich. Ich allein bin hier zuhause.
In dem Moment, wo ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bewusst mit diesem inneren Raum in Verbindung gehe, geschieht etwas wunderbares.
Es öffnet sich ein dritter Raum. Der Raum, in dem wir uns begegnen. Damit meine ich zum Beispiel meine Kursteilnehmer*innen und ich oder uns hier: Du, der Du diesen Blogartikel liest und ich, während ich ihn schreibe. Unser innerer Raum ist wie ein Tor, eine Schwelle, die uns erlaubt, mit den Menschen jenseits des Bildschirms – ganz egal ob wir sie wie kleine Kacheln auf dem Bildschirm sehen oder hinter der Kamera nur erahnen können – in Kontakt zu gehen.
Ich empfehle, das beim nächsten Zoommeeting (die hat ja mittlerweile fast jeder von uns von Zeit zu Zeit) mal auszuprobieren. Ein paar Atemzüge nach innen lauschen, den Körper wahrnehmen, die Gefühle bemerken. Und dann können wir hinausschauen und uns verbinden mit den Menschen, die da am anderen Ende der Internetleitung sitzen.
Auf einer ganz feinen Ebene – einer Ebene, die weit über das Körperliche und den reinen Infoaustausch hinausgeht – spüren wir sehr viel von den Anderen. Wir spüren, ob sie uns wohlgesonnen sind. Spüren, ob sie aufmerksam sind und in Resonanz gehen mit dem was wir sagen, singen oder musizieren.
Verfeinern wir unsere Wahrnehmung immer mehr, wird dieser dritte Raum nach und nach konkreter und wir können ihn ausfüllen mit dem, was wir zu geben haben.
Genau wie wir einen Konzertsaal mit 2000 Menschen füllen können. Mit unserer Stimme, mit den feinsten Tönen, sogar mit der Stille. Und auch in dieser Situation betreten wir den großen Raum durch unseren eigenen inneren Raum.
Und egal ob wir eine Wagner-Arie singen oder ein Schlaflied für unsere Kinder, eine Musicalnummer mit viel Show und Gedöns oder ein Wanderlied mit Freunden in der freien Natur. Es beginnt mit diesem inneren Kontakt. Mit einem klitzekleinen inneren Funken, der sich in seiner Qualität nicht verändert, egal, wie groß der Raum ist, den wir damit füllen möchten. Nehmen wir die Abkürzung direkt zum äußeren Raum – also ohne uns innerlich mit uns selbst verbunden zu haben – verpassen wir die Chance, den anderen Menschen (und auch der Musik) wirklich in der Tiefe zu begegnen.
Klar, nicht jeder Mensch ist es gewohnt, große Säle zu füllen, den ganz großen Raum für sich zu beanspruchen oder für andere zu halten. Das dürfen wir immer wieder üben und uns nach und nach immer weiter ausdehnen.
Das ist aufregend. Das ist herausfordernd und das ist – wenn man sich denn mal wirklich traut – unfassbar lustvoll.
Eine dieser Raum-Übungen, auf einer sehr greifbaren Ebene, ist für mich meine geliebte Taucheranzug-Übung (übrigens seit letzter Woche nochmal in einer neuen Variation auf meinem Youtube-Kanal). Die äußere Hülle als Grenze zwischen Innen und Außen. Als Verbindung zwischen Innen und Außen. Als Schwelle, als Tor. Zunächst konkret körperlich und mit zunehmender Übungspraxis immer feiner.
Wie groß kann ich werden? Wie weit kann ich mich in mir und mit meiner Stimme ausdehnen? Hört meine Wahrnehmung an meinen Körpergrenzen auf? Fülle ich den Raum, in dem ich mich befinde ganz und gar? Kann ich mich im Laufe der Zeit sogar weit „über mich hinaus“ ausdehnen?
Denn Stimme ist so viel mehr, als „nur“ der hörbare Klang im Außen. Stimme reicht weit über mich hinaus. Der Klang und auch das, was ich zu sagen habe, schwingt auf viel feineren Ebenen durch die Welt hindurch, als uns das oft im Alltag bewusst ist. Und die Welt geht nicht nur applaudierend, mitsummend oder tanzenden Fußes damit in Resonanz. Sondern auch auf sehr feine Art und Weise.
Manchmal kommt diese Resonanz wie ein unklares Rauschen zu uns zurück, aus dem wir erst noch die Botschaft herausfiltern müssen. Und manchmal ist sie ganz klar, wenn wir offenen Ohres hineinlauschen in diesen unendlichen Raum.
Und nun komme ich auf die Ausgangsfrage zurück.
Ja, es macht einen Unterschied, ob 300 oder 2000 Menschen meinen Newsletter lesen. Vor einem Jahr hätte ich das vermutlich nicht so behaupten können, weil ich noch gar nicht in der Lage war, den großen Raum wirklich wahrzunehmen. (Und vielleicht auch, weil ich da noch keine 2000 Leute in meinem Verteiler hatte, hihi ;-))
Aber jetzt ist es anders. Ich spüre so viel Resonanz. Es erreichen mich so viele Emails. Viele Menschen schauen sich die Videos auf meinem Youtube-Kanal an. Menschen tauschen sich über das aus, was sie bei mir entdeckt haben. Ganz ohne meine aktives Zutun. Menschen empfehlen meine Blogartikel weiter und – das bilde ich mir zumindest ein – ich spüre jeden Einzelnen von euch. Wie, als würde ich in einem großen Konzerthaus singen, in dem jeder von euch seinen Sitz- oder Stehplatz eingenommen hat.
Und klar, auch wenn ich schon in echt großen Hallen gesungen habe, da geht mir manchmal ganz schön der A*** auf Grundeis. Sichtbar sein ist immer ein Risiko. Seine Meinung sagen, einen Standpunkt einnehmen, seine Stimme erheben, sich zeigen ist gefährlich. Immer gibt es Menschen, die anderer Meinung oder neidisch sind, es einem nicht gönnen, den eigenen Raum immer mehr zu vergrößern und zu füllen oder schlicht die volle Größe des Raumes nicht aushalten können.
Aber wenn ich es schaffe, die Tür über meinen eigenen inneren Raum zu nehmen, bin ich in Sicherheit. Dann ist es mir eine Freude, den großen Raum zu füllen.
Und ich bin dankbar für jeden einzelnen Mensch, der mitschwingt mit dem, was ich zu sagen habe. Jeden einzelnen, der Lust hat sich inspirieren zu lassen. Jeden Einzelnen, der sich die Zeit nimmt, meine STIMMSINN – Gedanken zu lesen und damit seine eigenen Gedanken ein bisschen durcheinander zu wirbeln.
Ich freue mich über jeden, der durch meine Anstöße den Mut fasst, sich selber auf den Weg zu machen und seine eigene Stimme zu suchen.
Schön, dass Du da bist!
Anna
P.S. Hast Du Lust auf mehr STIMMSINN? Dann ist vielleicht mein 12wöchiger Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ etwas für Dich. Die neue Gruppe startet am 16.04.2021
Wer mich kennt, weiß, dass ich mit den Begriffen richtig und falsch auf Kriegsfuß stehe. Das habe ich gefühlt in jedem zweiten meiner Blogartikel erwähnt. Heute morgen habe ich mich endlich mal wieder aufgerafft und bin Tanzen gegangen. Sprich, ich habe meinen Laptop eingepackt und bin ins STIMMSINN gefahren, wo ich viel Platz zum Bewegen habe und habe dort an einer Nia*-Zoomstunde teilgenommen. Und es tat so gut und hat mir bezüglich meines „Richtig und Falsch“ – Themas nochmal richtig Futter gegeben. Aber eins nach dem anderen.
Mein Sohn lernt gerade Schreiben und Lesen. Er ist in der ersten Klasse und wie viele Kinder in Deutschland lernt er es mit der Methode „Schreib wie Du es hörst!“.
Sprich, schon sehr früh fangen die Kinder an ganze Sätze zu schreiben, sogar kleine Geschichten. Mit Wörtern, die sie in ihrem eigenen Sprachwortschatz finden, von denen sie aber keinen blassen Schimmer haben, wie man sie „richtig“ schreibt. Die Eltern sind explizit angehalten, die Kinder so wenig wie möglich beim Schreiben zu korrigieren.
Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von dieser Methode hörte, war ich bestürzt. Oh Gott, dachte ich, wie soll das gehen? Wie soll man da jemals fehlerfrei schreiben lernen? Als die Lehrerin letzten Sommer bei der Einschulung sagt, dass unsere Kinder nach dieser Methode lernen würden, musste ich erstmal tief durchatmen.
Aber dann vor ein paar Wochen hatte ich ein spannendes Erlebnis. Unsere keineswegs zimperliche und gleichzeitig herzensgute Kinderfrau (71 Jahre, wir lieben sie heiß und innig und nennen sie manchmal liebevoll den „General“) sollte mit meinem sechsjährigen Sohn noch eine Homeschoolingaufgabe am Nachmittag machen. Als ich vom Einkaufen wiederkam, saßen die beiden am Schreibtisch und stritten sich lautstark: „Nein, das schreibt man so!!! Guckmal, k-l-e-tt-e-r-n!!! Mit zwei tt. Neee….“ Mein Sohn war den Tränen nah und völlig verwirrt. Er hat insgesamt eine sehr niedrige Frustrationstoleranz und ihn auf Fehler hinzuweisen bringt ihn sofort in Not. Wie ein störrischer Esel bewegt er sich dann weder vor noch zurück.
Ich habe unserer Kinderfrau dann erklärt, dass er in der Schule schreiben darf, wie er mag. Auch schwierige und lange Wörter. Sie war verwundert. Ein spannendes Gespräch entstand.
Ich erzählte ihr von meiner Arbeit und vom spielerischen Singenlernen – was im Endeffekt ja auch nichts anderes ist als Schreibenlernen – übers Experimentieren und Spüren.
In der Blitz-Erkenntnis, dass ich in meiner Arbeit ja ganz genau und sehr bewusst diesen Weg wähle und nicht die dualistische Welt von „richtig oder falsch“, konnte ich zum ersten Mal – nicht nur in meinem Kopf, sondern ganz und gar – verstehen, warum es sinnvoll ist, dass mein Sohn auf diese Weise Schreiben lernt. Und gleichzeitig wurde uns – dem General und mir – klar, wie tief die Strukturen von „richtig oder falsch“ in uns verankert sind. Egal wie offen und neugierig wir durch die Welt gehen, wir sind so sehr geprägt von einer Fehlerkultur, die alles betraft, was nicht der Norm entspricht. Unglaublich.
Mein Sohn schreibt fröhlich schwierige Wörter ohne Angst. Und da wird es interessant. Er tut Dinge, die er eigentlich noch gar nicht kann. Weil ihm niemand gesagt hat, dass er erst lernen muss wie es richtig geht, bevor er es tun darf.
Dieses war der zweite Gedanke, der mir in dem Moment erst wirklich klar wurde. In so vielen Bereichen unserer Welt gibt es das unausgesprochene Gesetz, dass wir Dinge nur tun dürfen, wenn wir sie können. Wir dürfen erst unsere eigenen Geschichten schreiben, wenn wir wissen, wie man die Wörter richtig schreibt. Wir dürfen uns erst ausdrücken – ganz egal mit welchem Medium – wenn wir das Handwerkszeug beherrschen.
Und beim Singen steht uns dieses Gesetz sowas von im Weg!
Vor einiger Zeit schrieb mir eine Dame eine Email mit der Anfrage für Einzelunterricht:
„Insgesamt hatte ich ca. halbes Jahr Gesangsunterricht, (…) kaufte mir selber eine Stimmgabel und traf das A auch schon relativ zuverlässig. Meine Gesagsstunden sahen immer so aus: meine Lehrerin (…) saß am Klavier und wir „erarbeiteten“ uns Töne – ich kam auch schon relativ weit auf der Tonleiter 😉
Nun (…) suche [ich] wieder eine Gesangslehrerin, denn ich möchte das, was ich in einem halben Jahr erreichte, nicht wieder verlieren – es bedeutete auch Mut für mich, da ich weiß, dass ich die Töne idR nicht treffe. Alleine traue ich mich wieder nicht zu singen (…)“
Es bricht mir das Herz, wenn ich sowas lese.
Wir dürfen Dinge tun, die wir (noch) nicht können.
Unbedingt!
Wenn sie uns Freude machen, dann sollten wir das sogar ganz dringend tun!
Wie sehr beschneiden wir uns in unserem Ausdruck, in unserer Kreativität, in unserer Lebensfreude, wenn wir uns immer abhängig davon machen, ob wir etwas richtig machen. Nicht nur verlieren wir unseren ganz eigenen Zugang zur Sache. Wir sind auch immerzu von der Rückmeldung von Außen abhängig, die uns durch eine positive Bewertung die „Tat-Erlaubnis“ gibt. Wir nehmen uns die Chance, ein Gespür dafür zu entwickeln, was uns selber gut tut, was uns weiterbringt, was der nächste Schritt auf unserem Lernweg ist, wo unsere Freude und damit unser stärkster Lernmotor schlechthin liegt.
Und da möchte ich noch einmal auf meine Nia-Tanzstunde von heute früh zurückkommen. Ich habe mein Leben lang getanzt und ich habe mich dabei sehr viel in der „richtig oder falsch“ – Welt (u.a. klassisches Ballett) bewegt. Aber bei Nia gibt es kein richtig oder falsch. Ja, es gibt eine Choreographie. Ja, man versucht als Teilnehmer*in diese Choreographie mitzutanzen. Aber es gibt überhaupt keinen Anspruch, dass man es richtig macht. Um es genauer zu sagen: Es gibt gar keinen Maßstab für das Richtigmachen. Es geht um die Freude am Tun und das Ausloten der Möglichkeiten. Die Kursleiterin gibt viele Impulse in der Stunde. „Spür Deine Vorderseite, wie willst Du Deine Arme bewegen, geh durch die verschiedenen Ebenen – Oben, Unten, Mitte, ich möchte euer Strahlen sehen, kleine oder große Bewegungen, was ist jetzt gerade für Dich richtig?“
Es geht um die Erfahrung. Das Erlebnis. Und das Ausloten der eigenen Möglichkeiten.
Und vielleicht ist das der wesentliche Unterschied zur „Richtig oder Falsch“-Welt, egal in welchem Zusammenhang. Im Vordergrund steht nicht ein Ideal. Ein Ziel. Die eine allgemeingültige Wahrheit.
Es geht um Möglichkeiten, das Dazwischen. Und in allererster Linie darum, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Damit ich mich besser ausdrücken kann. Damit sich mein Vokabular erweitert, damit ich mehr Gespür für das bekomme, was ich da tue und immer feiner wahrnehme, wie die Zusammenhänge sind.
Aber es sind eben meine Zusammenhänge.
Und damit komme ich zurück zum Schreibenlernen meines stolzen Erstklässlers. Er schreibt mit Freude, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er drückt sich aus. Gleichzeitig liest er. Er erkennt Wörter in anderen Zusammenhängen wieder. Sieht auf dem Küchenkalender, dass Mittwoch mit zwei tt geschrieben wird. Er lernt Regeln wie „ein Hund – zwei Hunde“ – ach so, dass wird dann mit d am Ende geschrieben. Sein kreativer Flow und sein Mut Geschichten zu erfinden, wird dadurch keineswegs gebremst.
Und so möchte ich es auch beim Singen lernen mit meinen Schülern handhaben. Jeder darf sich so ausdrücken, wie es seinem jetzigen Lernstand entsprechend geht. Ich als Lehrerin gebe Impulse, lenke die Wahrnehmung, ermutige, lasse Zusammenhänge deutlich werden und ja, bin auch Vorbild.
Damit keine Missverständnisse entstehen. Ich bin keineswegs dafür, jegliche ästhetischen Regeln und Formen sofort abzuschaffen und alle Klangideale über den Haufen zu werfen. Überhaupt nicht. Sie sind wunderbare Spielmöglichkeiten und haben sich in den allermeisten Fällen nicht grundlos entwickelt. Aber sie sind für mich eben auch nur Möglichkeiten. Sie können Ziel, Ansporn und Spiegel für mich sein und ich selber erlebe es immer wieder als lustvoll, mich z.B. mit einem bestimmten Klangideal oder einer Songgattung forschend auseinanderzusetzen. Aber in dem Moment, wo sich dadurch meine Ausdrucksmöglichkeiten nicht erweitern, sondern ich mich eingeschränkt fühle, lasse ich die Regeln früher oder später wieder los. Ganz einfach.
Ich bemühe mich stets darum, dass meine Schüler nicht blind irgendwelchen Regeln folgen, die von außen kommen. Ich biete Erlebnisse an und ermutige sie ihre eigenen Regeln zu finden und vor allem deren Sinnhaftigkeit in der Tiefe zu verstehen. Im Spannungsfeld von „Selber tun“ und „beobachten“ (genau wie beim Schreiben und Lesen) erarbeiten sich die Schüler*innen ihre eigenen Handlungsspielräume und erweitern diese nach und nach. Das ermöglicht ihnen, vom ersten Moment an, wirklich selber etwas zu kreieren. Nicht nur nachzubauen.
Klar, die Bauanleitung für die Lego-Raumstation ist wichtig und es erweitert das eigene Repertoire enorm, dieser Bauanleitung einmal Schritt für Schritt zu folgen. Aber wie erschaffe ich dann etwas völlig Neues? Wenn ich nun nicht die Raumstation sondern eine Unterwasserstation bauen möchte?
Ich persönlich bin jemand, der gerne die Dinge in der Tiefe versteht um dann selber daraus etwas zu erschaffen. Ich mag z.B. Socken stricken. Und ja, die ersten 10 Mal musste ich jedes Mal meine Mutter anrufen und nachfragen, wie das mit der Ferse nochmal ging. Mittlerweile habe ich das Prinzip verstanden und kann Socken nicht nur in Größe 39, sondern auch in Größe 27 oder 43 stricken. Ganz ohne Bauanleitung und wenn gewünscht auch geringelt.
Etwas in der Tiefe zu verstehen und die Fähigkeit selber etwas zu Kreieren hängen dicht zusammen. Und doch ist es möglich und absolut erlaubt, auch kreativ zu sein, wenn man nicht nur nicht weiß, wie es „richtig“ geht, sondern schlicht gar nichts weiß.
Ja. Das ist erlaubt.
Mit jedem Schritt den ich gehe, komme ich ein Stückchen voran.
Mit jedem Tun lerne ich.
Ich tue es, also kann ich es!
Das nährt das eigene Selbstbewusstsein und den Mut für den nächsten Schritt und den nächsten und den nächsten. Die Schritte mögen sich unbeholfen und ungelenk anfühlen. Aber sie zwingen uns, wirklich unseren eigenen Weg zu finden und nach und nach kann unser Tanz geschmeidiger und runder werden.
Das ist einer der Gründe, warum ich so viel mit Improvisation arbeite. Oh nein, Improvisieren kann ich nicht! Klar kannst Du. Weil es kein richtig oder falsch gibt. Weil Du es einfach nur tun musst. Ein Schritt nach dem anderen. Ein Ton nach dem anderen.
Und schon singst Du. Ob Du es kannst oder nicht.
Es kann sich glücklich schätzen, wer Vorbilder hat, an denen er sich orientieren kann und von denen er auf seiner Reise begleitet wird. Und ab und an dürfen diese Vorbilder auch mal anmerken, dass man „die“ mit ie schreibt. Aber wehe darunter leidet die eigene Abenteuerlust. Dann sollte man sich schleunigst andere Reisegefährten suchen.
In diesem Sinne wünsche ich einen fröhlich ungelenken Tag!
Anna
*Nia ist übrigens eine Sportart, die verschiedene Aspekte aus Tanz, Kampfkunst, Tai-Chi, Yoga und Körper-Awareness miteinander verbindet und sehr viel Freude macht. Wenn Du gerne tanzt, solltest Du das unbedingt mal ausprobieren.