Selbstoptimierung und Lernen

Vor gut zwei Wochen kam im Rahmen einer Zoomkonferenz meines Onlinekurses „Stimme ist mehr…“ ein spannendes Thema auf. Eine der Teilnehmerinnen äußerte ihren Unmut über den Drang unserer Gesellschaft, sich immer weiter selbst zu „optimieren“. Wir müssen klüger, schneller und gelassener werden, täglich Yoga machen und uns in Mitgefühl und Selbstliebe üben. Und natürlich – klar, das steht außer Frage – müssen wir höher, lauter und schöner singen.

Patentlösung sofort

Für jedes Problem dieser Welt gibt es ein Ratgeberbuch oder einen Onlinekurs und der Garant auf persönliche Weiterentwicklung lässt sich mittlerweile an jeder Ecke „kaufen“. Je teurer, desto „erleuchteter“ werden wir am Ende daraus hervorgehen.
Immer suchen wir die sofortige Patentlösung für unsere Probleme und wenn wir es nicht tun, haben Freund*innen oder Lehrer*innen garantiert die ultimativen Tipps parat. Haben wir die eine Methode XY noch immer nicht ausprobiert, fühlen wir uns schlecht und nehmen uns vor, mindestens mal ein paar Youtube-Videos zum Thema anzuschauen.

Eine berechtigte Frage

Versteht mich nicht falsch. Ich persönlich liebe es, neue Dinge zu lernen und ich liebe es, an mir zu arbeiten (ja, echt, das war schon immer so). Ich schaue mir inspirierende Videos von klugen Leuten an und habe Freude, auch andere Menschen in ihrem Lernen zu unterstützen. Und ja, ich buche auch Onlinekurse und biete sogar selbst welche an. 😊
Aber ich finde es eine völlig berechtigte und sehr wertvolle Frage, die die Kursteilnehmerin da aufgeworfen hat und ich habe dieses Thema intensiv in mir gedreht und gewendet.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Selbstoptimierung und „Lernen“?

Die „Um zu“ – Falle

Für mich liegt der Knackpunkt in der Motivation. Warum möchte ich lernen? Was treibt mich an, mich zu bilden? Und da ist für mich ganz klar: Wenn es ums Optimieren geht, liegt die Motivation immer im Außen. Ich möchte mich verbessern „um zu“…
Ich möchte gelassener sein, um im Alltag besser zu funktionieren. Ich möchte meine Stimme verbessern, um bessere Rollen oder Konzerte singen zu können. Ich möchte mehr Selbstliebe praktizieren und unbedingt meditieren, weil das ja jetzt alle machen und das sicher mein Leben vereinfacht usw.

Neugier – einfach so

Dabei kann ich auch von ganz anderer Stelle motiviert sein mich auf einen Lernweg zu begeben.
Einfach so, weil ich neugierig bin zum Beispiel. Oder weil es mir ein absolut tiefes inneres Bedürfnis ist. Weil mir etwas Freude macht und ich Lust habe, mich mit einem Themengebiet zu beschäftigen. Weil mein Herz höher schlägt, wenn ich mir Videos anschaue, in denen ein kluger Mensch über das Leben philosophiert. Weil ich mich wohlfühle, wenn ich mich in einem bestimmten Lernumfeld bewege. Und weil es in mir eine ganz tiefe innere Lernlust gibt, die mich antreibt und sagt: Da ist doch noch mehr drin für Dich, Anna.

Bin ich gut genug?

Und sehr eng damit verwoben ist die Frage nach dem persönlichen Zustand, aus dem heraus ich mein Lernunterfangen starte. Befinde ich mich in einem Zustand von „ich bin nicht gut so, wie ich bin“? Fühle ich mich noch nicht kompetent genug, wenn ich jetzt nicht noch dieses oder jenes Zertifikat erwerbe? Habe ich das Gefühl, sonst nicht mithalten zu können oder nicht wertvoll zu sein, wie ich bin?

Oder gehe ich los, weil ich für mich selbst lernen möchte? Weil es einen inneren Drang gibt, mich selbst oder ein Themengebiet oder meine Stimme oder meinen Körper oder was auch immer, noch mehr zu verstehen. Ja, vielleicht, damit ich mich leichter ausdrücken kann und mehr Freude am Singen habe. Weil ich das Gefühl liebe, wenn meine Stimme einfach so dahinfliegt oder sich leicht und geschmeidig mit anderen Stimmen verbindet. Aber dann liegt auch die Motivation für das „um zu“ in mir und ist an meine eigene innere Freude angeschlossen.

Immer der Freude nach

Die Freude, die Lust am Tun ohne vorgegebenen Ausgang, zeigt sich mir immer mehr als Wegweiser in meiner eigenen Arbeit, aber auch mit Schüler*innen und Kursteilnehmer*innen. Da wo die Freude ins Spiel kommt, geht es lang. So einfach. Fast zu einfach.
Dort wo die eigene Neugier entfacht wird – selbst wenn es auf den ersten Blick überhaupt keinen „Sinn“ ergibt – da gehen wir weiter. Und dann lernen wir wie von selbst.

Und ich glaube – ganz ohne Selbstoptimierungshintergedanken – das dürfen wir uns viel öfter erlauben. Nicht, damit wir am Ende dann doch wieder „besser sind als die anderen“. Sondern einfach um das Singen, das Sich-Ausdrücken und letztendlich das Leben tiefer zu genießen, mehr auszukosten und eine intensivere Lebenserfahrung zu machen.

Sich selber trauen

Wie erkenne ich nun, auf welchem Pfad ich gerade unterwegs bin? Wie erkenne ich, welche Kurse und Ratgeberbücher mich in welche Richtung führen?
Ich frage mich in diesem Zusammenhang ganz einfach: Was brauche ich und was nährt mich wirklich?
Nicht immer ist es leicht, die eigenen Bedürfnisse ganz klar zu spüren und in einer Welt in der uns permanent Probleme und Optimierungsbedarf eingeredet wird, bei sich zu bleiben.
Aber ich glaube, wir dürfen wieder lernen, unserer eigenen Wahrnehmung zu trauen.

„Ich spüre dieses oder jenes.“ „Hier macht mir etwas wirklich Freude oder fühlt sich einfach so gut an.“ Ganz ohne es tiefer begründen zu müssen. „Ich bin noch skeptisch, aber neugierig.“
Das alles sind Maßstäbe, an denen wir uns orientieren können. Vielleicht sollten.

Jeder hat ganz eigene Bedürfnisse

Und das kann für jeden ganz unterschiedlich sein. Das Lerntempo des Einen ist für jemand anderen viel zu schnell. Die Tiefe, in die ein Kurs oder ein Gespräch mich führt, ist nichts für meinen Nachbarn. Mancher braucht viel Begleitung, ein anderer wenig. Jene braucht gutes Zureden, die andere einen Tritt in den Popo. Und das ist wunderbar und gut so. (hihi, reimt sich…)
Wenn ich meine wirklichen Bedürfnisse kenne und meiner eigenen Wahrnehmung traue (und vielleicht auch noch eine Prise Intuition einlade), kann ich mich unabhängig machen, von dem, was im Außen herumschwirrt. Beziehungsweise, ich kann klarer spüren, womit ich wirklich in Resonanz gehe und als Konsequenz daraus: Frei wählen.

Selbstoptimierung ist voll okay

An dieser Stelle möchte ich nochmal erwähnen, dass ich es überhaupt nicht für verwerflich halte, an der einen oder anderen Stelle im Leben etwas optimieren zu wollen und einen äußeren Anreiz als Lernmotivator hinzuzuziehen. Manchmal brauchen wir konkrete Ziele, ja sogar Wettbewerb mit Anderen und konkrete Herausforderungen. Mich spornt sowas regelmäßig zu Höchstleistungen an. Aber die wichtige Frage ist immer, ob ich mir dessen bewusst bin.
Denn wenn ich im Strudel des Selbstoptimierungswahns lande und es nicht bemerke, werde ich mich immer fragen, warum es mich nicht wirklich glücklich macht, was ich da tue. Wenn ich innerlich mein Gefühl von „ich bin nicht gut genug“ weiter festige, kann ich noch hunderttausend Coaching-Kurse für mehr Freiheit im Leben machen und bewege mich doch nur frustriert auf der Oberfläche.

Menschen sind Lernwesen

Dabei sind wir in der Tiefe unseres Seins Lernwesen. Wir möchten uns weiterentwickeln. Lernen ist wunderbar und großartig und innere Freude, Genuss und die Sehnsucht nach Freiheit sind wunderbare Motoren für unser Lernen. Sich dabei auch über Dinge und Kanäle inspirieren zu lassen, die uns vielleicht sogar erstmal absurd oder nicht relevant erscheinen, kann eine gute Möglichkeit sein, der Freudespur zu folgen und nicht gleich nur nach dem Ergebnis zu schielen. Im Grunde ist es die Art und Weise, wie Kinder lernen, wenn sie frei spielen. Dann sind sie ganz und gar im Moment und erleben mit allen Sinnen etwas, von dem sie zutiefst fasziniert sind. Kinder haben noch keine (oder zumindest eine nicht so ausgeprägte) Meta-Ebene, mit der sie immer wieder Rücksprache halten, ob sie schon genug gelernt haben. Die erwachsene Fähigkeit der Reflektion ist Fluch und Segen zugleich und es ist und bleibt eine Gratwanderung, beides miteinander zu verbinden.
Ganz und gar eintauchen ins Erleben, dann wieder auftauchen und reflektieren. Die Perlen einsammeln, nachwirken lassen, Lernergebnisse bündeln, innerlich strukturieren und dann wieder ganz tief eintauchen ins Tun. So erlebe ich es, wenn ich in einem nährenden Lernfeld unterwegs bin.

Selbstoptimierung und Lernlust als Spannungsfeld

Lernlust und die Lust an der persönlichen Entfaltung entwickeln sich von innen nach außen. Von der Neugier oder dem inneren Bedürfnis hin zur Erweiterung der Fähigkeiten. Selbstoptimierung dagegen nimmt den anderen Weg und ist von außen nach innen orientiert.
Auf der einen Seite steht – natürlich überspitzt – „ich kann das noch nicht (gut genug) und bin deswegen ein Loser“. Auf der anderen Seite steht ein Gefühl von: „Ich bin vollständig, aber ich möchte etwas erleben, entdecken, mich entfalten.“

Und dieses Spannungsfeld wird auch ganz deutlich, wenn wir uns die zugehörige Sprache und ihre Atmosphäre anschauen.
Auf der einen Seite geht es um Effizienz und Produktivität, ums Produzieren und Erreichen und um den Erfolg.
Die Worte auf der anderen Seite fühlen sich – auch ganz konkret körperlich – völlig anders an: Potential, erleben, entdecken, finden, einen Weg gehen, sich entfalten.
Aber Achtung, auch hier lauert die Selbstoptimierung manchmal hinter schönen blumigen Begriffen.
Immer wieder ertappe ich mich selbst dabei, wie ich auf geschicktes Marketing-Gefasel hereinfalle.

Wonach suche ich?

Aber dann frage ich mich: Worum geht es eigentlich wirklich? Geht es um einen Mangel, den es zu beheben gilt? Ein Problem, das dringend gelöst werden muss, damit ich ein vollständiger, wertvoller Mensch bin? Eine Angst, einen Schmerz?
Dann mache ich – weil ich für mich persönlich entschieden habe, dass ich in einer solchen Welt nicht leben möchte – auf dem Absatz kehrt und nutze die Kraft meiner Aufmerksamkeit, in dem ich sie dorthin lenke, wo ich das Gefühl habe, meiner eigenen inneren Wahrheit näher zu kommen.
Klingt schwülstig. Ist aber so.
Meine Leitfragen sind: Was entspricht meinem Wesen? Wie kann ich immer mehr ich selbst sein bzw. werden? Wie kann ich mich in dem, was ich tue immer mehr verankern? Wohin leiten mich meine Neugier und meine Freude? Was bringt mein Herz zum Singen?

Und was mache ich jetzt damit?

Und schlussendlich liegt es ja an uns selbst, wie wir unser eigenes Lernen und die Motivation dahinter einordnen und ob wir uns mit einem Gefühl von „ich bin nicht gut genug und muss mich optimieren“ oder liebevoll zugewandt und neugierig auf Höhen, Tiefen und Möglichkeiten, die es noch zu ergründen gibt, auf den Lernweg begeben.

Ich wünsche euch allen eine gute, erlebnisreiche Zeit und auf der einen Seite tiefe Zufriedenheit mit dem was da ist und auf der anderen Seite einen inneren Wissens- und Erlebensdurst, der unersättlich ist!

Anna

P.S. Mehrmals im Jahr biete ich meinen Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ an. Dieser 12-wöchige Onlinekurs ist eine intensive Abenteuerreise zur Dir und Deiner ganz eigenen Stimme. Vielleicht singst Du am Ende schöner als vorher. Könnte passieren. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht macht es einfach Spaß, Deine Stimme, Deinen Körper und Deine Innenwelt zu erforschen… Eines steht fest. Du wirst unterwegs sooo viel erleben und diese drei Monate ganz sicher nie mehr vergessen.