Polaritäten

Ein Thema, das in meinem Unterricht, in meinen Kursen und in meinem Leben immer wieder in Erscheinung tritt, ist die Beschäftigung mit Polaritäten. Unsere Welt ist voll davon und oft wird uns suggeriert – oder wir bestärken uns selber darin, dass es so sei – wir müssten uns entscheiden. Schwarz oder Weiß. Kinder oder Karriere. Bühne oder Unterrichten. Pop oder Klassik. Chor oder Solo.

Nichts davon ist wahr. Denn Gegensätze müssen sich nicht ausschließen. Im Gegenteil. Polaritäten können viel mehr und die Welt beginnt erst langsam langsam den Wert verschiedener Meinungen, Positionen oder Voraussetzungen zu verstehen. Polaritäten sind großartig! Immer wenn in meinen Kursen plötzlich Dinge gleichzeitig im Raum stehen, von denen unser Verstand eigentlich sagt, dass sie sich gegenseitig ausschließen, mache ich ein kleines Freudentänzchen. Wenn die Menschen mir rückmelden, dass sie sich gleichzeitig weich und von klarer Struktur fühlen, gleichzeitig Raum und Fokus wahrnehmen können, sich ganz bei sich und gleichzeitig ganz verbunden mit anderen fühlen. Das sind meine Sternstundenmomente.

Polaritäten öffnen Räume

Das Wahrnehmen von Polaritäten und die Arbeit damit tun vor allem eines. Sie öffnen Räume. Ich stelle es mir manchmal vor wie zwei Punkte, die weit voneinander entfernt sind. Ich kann die Aufmerksamkeit auf den einen oder den anderen richten. Dann verliere ich aber den jeweils anderen aus dem Blick. Oder ich kann – leicht unscharf – beide Eckpunkte gleichzeitig wahrnehmen und dann entsteht dazwischen eine Verbindung. Dann entsteht Raum, ein Dazwischen. Und dieses Dazwischen ist der Ort, wo Lebendigkeit passiert, wo Dinge entstehen können, die aus den beiden Polen gespeist werden, aber weder zur einen noch zur anderen Seite gehören müssen. In diesem Spannungsfeld gibt es unglaublich viel zu entdecken.

Eckpunkte ausloten

Beim Singen und in der Arbeit mit der Stimme könnten das z.B. ganz konkrete musikalische oder stimmliche Parameter sein. Laut und leise, sanft oder kräftig, hoch und tief, Anbindung und Freiheit, Innen und Außen. Fast immer liegen die interessanten Dinge, die es zu entdecken gilt, in eben solchen Spannungsfeldern. Indem ich die Polaritäten auslote, kennenlerne und vertiefe kann ich z.B. bezogen auf einen stimmlichen Parameter meinen eigenen Spielraum erweitern. Indem ich mir beide Pole bewusstmache, kann ich die Möglichkeiten dazwischen erfahren.

Kenne ich die Eckpunkte meines Tuns, meiner Stimme, meiner Gefühle nicht, kann ich auch den Raum dazwischen nicht für mich nutzen. Erst durch meine eigene Wahrnehmung wird er erlebbar. Dabei – das klingt zunächst paradox – gilt, je weiter die Polaritäten voneinander entfernt und je klarer sie getrennt sind, desto vielschichtiger erscheint das Dazwischen.

Raum erweitern

Und genau auf diese Weise, lässt sich mithilfe der Polaritäten der eigene Raum vergrößern. Wie bei einer Waage kann ich mir anschauen, auf welcher Seite gerade ein Übergewicht da ist. Welche der beiden Seiten ist mir vertrauter? Auf welcher Seite liegt meine Neugier? Wo möchte ich meine Möglichkeiten noch etwas ausdehnen? Wir werden uns vermutlich immer auf einer der Seiten mehr zuhause fühlen und das ist auch völlig in Ordnung. Aber es lohnt sich definitiv, auch auf der unbekannten Seite zu forschen. Denn die Erkenntnisse, die wir von dort mitbringen, werden sich auch auf der anderen Seite der Waage in einem vertieften Erlebnis niederschlagen.

Ein schönes Beispiel dafür sind für mich beim Singen die beiden wichtigen Zutaten „Raum“ und „Fokus“. Der eine kann nicht ohne den anderen existieren und ohne Zweifel brauchen wir beim Singen, braucht jede Stimme, sowohl Raum, als auch Fokussierung. Mal arbeiten wir hier, mal arbeiten wir dort. Erst im Kontrast der zwei können wir wirklich beide durchdringen und erfassen. Das ist das Wesen jedes Gegensatzpaares. In dem ich mich mal mit der einen, mal mit der anderen Seite beschäftige, vergrößert sich der Zwischenraum und meine Stimme erhält mehr Farbschattierungen, mehr Beweglichkeit, mehr Ausdrucksfreiheit, mehr Tragfähigkeit.

Bipolare Atemdynamik

Eine wichtige „Polaritätenbaustelle“ mit der ich mich schon seit vielen Jahren beschäftige, ist die bipolare Atemdynamik. In der Arbeit mit den zwei Atemtypen gilt, wie schon oben beschrieben: Je klarer wir die Polaritäten trennen, desto mehr Raum entsteht im Körper, für die Stimme und auch innerlich für uns als menschliche Wesen. Der geschärfte Kontrast schafft Form und macht Dinge sicht- und spürbar. Dann entsteht im Hin und Her und der erlebten Gleichzeitigkeit von aktiven Tun und Geschehenlassen ein lebendiges Spielfeld, eine Dynamik, eine Bewegung. Und das macht nicht nur richtig Laune, sondern lässt auch die Stimmen zu ihrer Mühelosigkeit und freien Entfaltung finden.

Raum halten kann man lernen

Die Herausforderung in der Arbeit mit den (Atem-)polaritäten, ist dabei stets, sich nicht zerreißen zu lassen. Die Klarheit in der Unterscheidung zu erlauben und sich gleichzeitig nicht für eine Seite entscheiden zu müssen. Das ist nicht immer leicht, weil es dafür unsere stetige Wachheit braucht, nicht eine Seite aus dem Blick zu verlieren, sondern den Raum wirklich offen zu halten. Dabei können uns die Eckpunkte des Spannungsfeldes immer wieder helfen die Orientierung zu behalten.

Je klarer die Polaritäten in uns sind, desto stabiler der Rahmen und desto mehr Instabilität und damit Lebendigkeit kann und darf dazwischen passieren. Auch das kann man, wie nahezu alles im Leben, Üben und Lernen. Je größer unsere Fähigkeit wird, die Polaritäten gleichzeitig im Blick zu haben, desto kraftvoller kann sich das Dazwischen entfalten und desto reicher werden wir beschenkt.

Polaritäten erzeugen Spannung

Das mag jetzt alles ziemlich abstrakt klingen, aber jeder kann das für sich leicht an einigen Beispielen durchdenken und durchfühlen. Innen und Außen, Freiheit und Sicherheit, Tun und Lösen, Klang und Stille, Gesangstechnik und Gefühl, Populärem Gesang und Klassik, Detailanalyse und Ganzheitlichkeit, Kunst und Kommerz, Individualität und Zugehörigkeit, Musikvermittlung und eigene Kunst.

Die Liste der spannenden Polaritäten, mit denen wir es in der Arbeit mit der Stimme, im Singen, als Pädagog*innen, Künstler*innen und als Menschen zu tun haben, könnte ich noch unendlich fortsetzen. In allen Fällen gilt: Die eine ohne die andere Seite ist wertlos. Erst im Kontrast entsteht Klarheit und vor allem entspringen genau an dieser Stelle die spannenden Fragen, die uns in Bewegung bringen.

Manchmal kommt mir das Bild von elektrischen Polen in den Sinn. Nur in der Unterscheidung von + und – kann Strom fließen. Im Dazwischen der Polaritäten liegt das gesamte Potential des Energieflusses.

Anna will forschen

Weil ich mit dem Thema „Polaritäten“ noch viel weiter forschen möchte und ich große Lust habe, noch mehr Spannungsfelder zu öffnen und auch euch zu noch mehr räumlichem Denken und Erleben einzuladen, habe ich schon seit längerem vor, mich intensiv mit Menschen darüber auszutauschen. Vor allem mit anderen Sänger*innen, Chorleiter*innen, Musiker*innen und Stimmneugierigen.

Jeder Mensch hat seine eigenen Spannungsfelder und indem wir genau darüber sprechen, können wir viel über unser Gegenüber, aber auch über das Leben an sich erfahren. Polaritäten sind übrigens meiner Meinung nach keineswegs absolut zu sehen. Sie sind höchst subjektiv und von der betreffenden Person stets selbstgewählt. Diese „Landkarte“ der eigenen Spannungsfelder erzählt sehr viel über uns. Der eigene Blick auf die Polaritäten anderer Menschen kann genau deswegen unglaublich inspirierend sein.

Twang oder Liebe – Der STIMMSINN – Podcast

Ermöglicht durch ein Corona-Künstlerstipendium des Landes NRW kann ich diese Idee nun endlich in die Tat umsetzen. Der STIMMSINN – Podcast kommt!
Unter dem oben genannten Titel „Twang oder Liebe“ werde ich Interviewgespräche mit verschiedensten Kolleg*innen führen. Dabei wird es in jeder Folge genau um die ganz persönlichen Spannungs- und Spielfelder meines Gegenübers gehen. Was ist Dein ganz persönliches „Twang oder Liebe“? Diese Frage wird am Beginn jeder Podcastfolge stehen und ich freue mich riesig auf die spannenden Gespräche und den Austausch mit den Kolleg*innen.

Der Name des Podcast „Twang oder Liebe“ hat sich übrigens vor einiger Zeit aus eben so einem Kollegengespräch ergeben . Leider weiß ich nicht mehr mit wem. Aber schon in dem Moment war mir klar: So wird er heißen. Mein Podcast. Denn genau diese Gegenüberstellung spiegelt für mich auch meinen eigenen Spagat zwischen den Welten wider.

Kurzer Exkurs – Twang

Für diejenigen unter euch, die mit dem Begriff „Twang“ nichts anfangen können, sei kurz erwähnt, dass es sich dabei um einen gesangstechnischen Begriff handelt, der vor allem in der populären Gesangspädagogik sehr präsent ist. Überspitzt gesagt, wurde „Twang“ eine Zeitlang fast als das „Allheilmittel“ für alle technischen Schwierigkeiten eingesetzt. Gerade im Musicalbereich sorgte zu viel „Twang“ zu einem starken Individualitätsverlust der einzelnen Sänger*innen, weil alle nahezu gleich klangen. Mittlerweile gibt es zum Glück für viele technische Herausforderungen andere Lösungsansätze, aber dazu könnte man sicher einen ganzen eigenen Blogartikel verfassen 😉.

Twang und Liebe!

Ich liebe beide Seiten. Die Technik, das Forschen im Detail, das Handwerk – und das intuitive, ganz und gar ans Gefühl angebundene Singen. Lange Zeit dachte ich, ich müsste mich für eine Seite entscheiden. Nein. Mittlerweile habe ich einen eigenen Weg gefunden, dieses Spannungsfeld in mir offen zu halten, die Polaritäten gleichzeitig wahrzunehmen und klar voneinander abzugrenzen. Das gibt mir den Raum, meine eigenen Lösungen zu finden und je nachdem, wonach es mir ist, mit mir selbst und meinen Schülern mal auf der einen Seite, mal auf der anderen Seite zu arbeiten und mich dann im offen Zwischenraum so richtig auszutoben.

Herzliche Grüße aus dem Spannungsfeld von riesiger Forscherfreude und wackligen Knien sendet euch

Anna

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P.S. Nachtrag November 2023: Ich konnte insgesamt 7 Folgen des Podcasts „Twang oder Liebe“ veröffentlichen. Ihr findet sie hier.