Anlehnen an den Atem

Jeder Mensch atmet ein und aus. Soviel ist sicher. Dennoch streiten sich die Gesangspädagogen seit jeher um die Rolle des Atems beim Singen. Als Abschluss meiner kleinen Serie zu den STIMMSINN-Basics möchte ich an dieser Stelle meine zweiseitige Sicht auf den Atem beschreiben. Jede Bewegung des Körpers beeinflusst unseren Atem und umgekehrt. Wie bei einer Schaukel können wir uns die Zweiphasigkeit des Atems fürs Singen zunutze machen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, die Stimme mit dem Atem so zu verbinden, dass ein natürlicher Schwung und eine Art von beweglicher Unterstützung entstehen, die erstaunliche Leichtigkeit und Freude für die Stimme mit sich bringt.

Atem- und Balancemuskulatur
Unsere Aufrichtungs- und Balancemuskulatur deckt sich in großen Teilen mit unserer Atem- und Atemhilfsmuskulatur. Dabei gibt es eine Muskelkette, die eher beim Einatmen aktiv ist, und eine zweite, die dem Ausatem zuzuordnen ist. Das lässt sich leicht selber erfahren, wenn man sich mit hüftbreit geöffneten Beinen hinstellt und langsam das Gewicht über den Füßen vorwärts und rückwärts verlagert. Beim Vorwärtsschaukeln wird der Körper nach einer Weile reflexhaft ausatmen, beim Rückschaukeln strömt der Atem von selbst ein. Um die zugehörige Muskelkette zu erspüren kann man einige Atemzüge zunächst vorwärts gelehnt und anschließend rückwärts verweilen. Welche Muskeln springen an, damit ich nicht umfalle und mich in der jeweilgen Position „halbwegs bequem“ einrichten kann?

Wenn ich meinen Schwerpunkt nach vorne verlagere, beginnt meine Rückenstreckermuskulatur zu arbeiten. Ist das Becken gelöst und beweglich, fällt die Balance leichter. Die Beine sind aktiv und bilden die Basis. Lehne ich mich aber an den Raum hinter mir an, entsteht ein ganz anderes Bild. Die Po- und Beckenmuskulatur wird zum Zentrum für meinen Halt. Das Brustbein hebt sich und der flexible Brustkorb übernimmt die Balancefunktion.

Atemkontrolle oder Atemfreiheit
Darüber, ob man zum Singen dem Atem Aufmerksamkeit schenken sollte, ihn gar trainieren oder besser sich selbst überlassen sollte, damit er ganz natürlich fließen kann, kann man endlose Diskussionen führen und man wird vermutlich mit den wenigsten Kollegen wirklich auf einen Nenner kommen.
Ich arbeite vor allem mit Menschen, die auf der Suche nach ihrem ganz eigenen Klang und ihrem ganz eigenen persönlichen Bezug zu ihrer Stimme und ihrem Singen sind. In dieser, meiner Arbeit hat es sich bewährt, den Atem in seinem natürlichen Rhythmus zu unterstützen und seine stetig vorhandene Dynamik für die Stimme zu nutzen. Es ist in der Tat ein schmaler Grat, zwischen Atemanregung und Manipulation. Erstere begrüße ich, letztere halte ich für kontraproduktiv.

Selbstläufer – wohin eigentlich?
Was bringt es mir also mich an den Atem anzulehnen? Wie oben angedeutet, gibt es zwei grundlegende muskuläre Unterstützungsmöglichkeiten für die Stimme. Jeder Sänger kann beide Varianten ausprobieren, üben und erlernen. In den allermeisten Fällen, wird jedoch nur eine der beiden Möglichkeiten die Stimme im Laufe des Singens befreien. Ein Selbstläufer kommt in Gang, Selbstorganisation findet statt.
Die andere Variante wird ebenfalls zum Selbstläufer., allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Je länger ich singe – das kann durchaus ansprechend klingen und sich zunächst auch leicht anfühlen – desto anstrengender wird es. Die Töne werden immer ärmer an Resonanz und Obertönen und die Freude am Singen schwindet. Kenne ich meinen eigenen Atemrhythmus und weiß, was ihn unterstützt, kann ich selber dafür sorgen, dass die Freude bleibt. Ganz kurz möchte ich die Gesetzmäßigkeiten der beiden Dynamiken beschreiben.

Sich Anlehnen an den Ausatem
Ich kann meine Stimme an den Ausatem anlehnen. Das bedeutet in keinem Falle, aktiv Luft zu schieben, sondern die Stimme an einen gut balancierten, regelmäßigen Ausatemstrom anzubinden. Die Töne werden vom Atem getragen. Diesen fließenden Atem kann ich auf verschiedene Arten anregen. Eine davon ist, den Körperschwerpunkt beim Singen leicht nach vorne zu verlagern. Achtung: Das heißt nicht, die ganze Zeit beim Singen auf dem Vorderfuß zu stehen o.ä. (Vgl. dazu meine Artikel „Tun und Lösen“, „Bewegung als Schalter“ und „Singen im freien Fall“).

Um spielerisch in Bewegung zu bleiben, kann ich z.B. ein Schwingbrett benutzen. Der linke Fuß steht vorne, der rechte Fuß hinten, ähnlich wie bei einem Snowboard. Die Fußspitzen zeigen aber nach vorne. Zum Singen schaukle ich vor, zum Lösen des Atems nach hinten. Wenn ich möchte kann ich mich dabei z.B. auf das Gewicht meiner Arme konzentrieren. Allgemein gesagt, wird die Ausatemdynamik durch alle Bewegungen angeregt, die sich in Richtung „vorne – unten“ orientieren.
Wer das Anlehnen wörtlich nehmen möchte, kann sich z.B. im Stehen mit der Brust gegen einen großen Pezziball oder einen Overball an eine Wand anlehnen. Außerdem regt Bewegung im Becken ebenfalls den Ausatmen an.

Sich Anlehnen an den Einatem
Das Anlehnen an den Einatem ist für die meisten Sänger erstmal sehr ungewohnt. Denn wir singen auf dem Ausatem. Doch unsere Muskulatur kann verrückte Dinge tun. Wir können durchaus beim Singen die Muskulatur benutzen, die normalerweise für den Einatem zuständig ist. Das ist zu allererst der Brustkorb. Ist er beweglich, vielleicht sogar in Bewegung, kann ich meine Stimme an den Einatem anlehnen. Allerdings ist auch hier das Prinzip des „Tun und Lösen“ zu beachten.

Meine Lieblingsübung dazu ist „Das Kasperle aus der Kiste“:
Ich sitze auf einem Stuhl. Mein Kopf hängt, der Rücken ist rund. Wenn ich ein wenig sportlich und einigermaßen kreislaufstabil bin, kann ich auch meinen ganzen Oberkörper nach unten hängen lassen. Impulshaft richte ich mich auf, schaue Richtung Zimmerdecke und strecke auch die Arme nach oben. Dann falle ich wieder zusammen und lasse Kopf und Oberkörper hängen. Verbinde ich diese Übung mit einem Ton oder einer kleinen Phrase, bekomme ich einen guten Eindruck, wie es sich anfühlt sich mit der Stimme „an den Einatem anzulehnen“.
Genau mit dem Aufrichten – nicht früher, nicht später – lasse ich meine Stimme klingen. So lange ich singe, bleibe ich aufgerichtet, nach Ende des Tons falle ich sofort wieder in mich zusammen. Ich atme nicht extra ein, sondern lasse nur meinen Oberkörper nach vorne fallen und so die Luft einströmen. Dann kommt direkt der nächste Ton, wieder mit dem Aufrichten. Singe ich eine längere Phrase, so kann ich am höchsten Punkt verweilen, bis ich zuende gesungen habe und währenddessen den Brustkorb bewegen. Die Einatemmuskulatur wird aktiviert und der Körper lernt auf diese Weise, dass die „Singrichtung“ oben und hinten ist.

Auch hier kann ich direkt mit dem Anlehnen spielen. Dieses Mal lehne ich mich aber nicht vorwärts, sondern rückwärts an den Pezzi- oder Overball. Wenn ich es schaffe, mich dem Gefühl des Anlehnens wirklich hinzugeben und meiner Stimme erlaube, sich frei und ohne meine willentliche Einmischung zu entfalten, ist unglaubliches möglich (vgl. „Zwei Seiten der gleichen Medaille“).

Abenteuer Anlehnen
Die Idee des „Anlehnens“, egal ob vorwärts oder rückwärts, ist für viele Menschen etwas sehr elementar persönliches. Jeder von uns sehnt sich danach, getragen zu sein und sich anlehnen zu dürfen. Können wir uns an den Rhythmus unseres eigenen Atems anlehnen, so sind wir aus uns selbst heraus getragen. Der Atem ist unser Lebenselixier. Er trägt unsern innersten Kern von Lebendigkeit und die Essenz unseres ganzen Wesens in sich. Wenn wir Atmen, treten wir mit der Außenwelt in Kontakt. Es findet ein Austausch statt zwischen Innen und Außen. Wir teilen unser Persönlichstes. Beim Singen im Einklang mit unserem Atem bzw. angelehnt an den natürlichen Atemrhythmus lassen wir genau dieses hörbar werden. Was für ein Abenteuer!

Anlehnende Einsichten und bewegende Atemabenteuer wünscht,

Anna Stijohann