Tun und Lösen
„Ja, ich möchte so gerne singen lernen, aber wissen Sie, ich habe immer so Probleme mit der Atmung. Ich habe am Ende immer zu wenig Luft….“ Welcher Gesangspädagoge hat diesen Satz nicht schon einmal gehört. Ich versuche meinen Schülern dann deutlich zu machen, dass „zu wenig Atem“ in den allerwenigsten Fällen wirklich mit „zu wenig Atem“ zu tun hat, sondern vor allem mit der Tatsache, dass wir in dieser schnelllebigen Zeit häufig verlernt haben uns zu regenerieren. Wir sind in einer Schleife von dauerhafter Aktivität gefangen. Im Leben, wie im Singen.
Um die Mühelosigkeit in unseren Körper- und Stimmbewegungen wieder zu entdecken, müssen wir zurückfinden zu einem inneren Schwingen. Wir sind so damit beschäftigt, ständig und immer alles aktiv zu tun. Schieben, ziehen, schieben, ziehen, schieben, ziehen bis zur Erschöpfung…
Mein Lieblingsbild in diesem Zusammenhang ist die Schaukel. Jedes Kind lernt früher oder später, dass es nicht darum geht, beim Schaukeln wie wild die Beine vor und zurück zu strecken, um Schwung aufzunehmen. Vielmehr geht es darum, sich im richtigen Augenblick aktiv in den Schwung hineinzulegen und sich gleichermaßen an anderer Stelle tragen zu lassen. Auf einem Roller gilt das Gleiche. Ich fahre am effizientesten, wenn ich einen guten Rhythmus finde, in dem sich Anschub mit dem Fuß und Phasen des Rollens abwechseln.
Niemand möchte bestreiten, dass sich auch in den meisten Musikformen betonte und unbetonte Schläge, Takte, Phrasen miteinander abwechseln. Nur so kann eine Dynamik entstehen und Musik lebendig werden.
Was bedeutet das aber für das Singen? Was kann ich üben, wie kann ich meine Schüler anleiten, damit die Stimme und die Musik in einen organischen Schwung kommen können? Dass ich viel mit Bewegungen arbeite, habe ich in den vergangenen Beiträgen zur Genüge ausgeführt. Das Kernstück der Bewegungsarbeit in Verbindung mit der Stimme ist für mich eben jenes Wechselspiel von aktivem Tun und absoluter Lösung.
Hier eine kleine Übungsbeschreibung:
Ich stehe hüftbreit in leichter Schrittstellung. Der linke Fuß ist vorne, der rechte steht ein wenig dahinter. Nun gibt es zwei Varianten des Tuns und Lösens. Als erste Übung, habe ich mein Gewicht ein bisschen mehr auf dem vorderen Fuß, Kopf und Arme hängen locker herunter und auch sonst stehe ich völlig entspannt. Nun verlagere ich mein Gewicht beherzt auf mein hinteres Bein. Gleichzeitig hebt sich mein Kopf und meine Arme recken sich gen Himmel. Ich verweile kurz in dieser Spannung Richtung oben, bevor ich mein Gewicht wieder zurück auf das vordere, linke Bein fallen lasse. Ein Art Schaukel ohne Schaukel. Solange ich vorne bin, lasse ich mich wirklich hängen, bin so passiv es geht ohne umzufallen. Sobald ich mich nach hinten bewege – das darf mit einem kräftigen Impuls und recht flott gehen – bin ich ganz aktiv. Ein bisschen, wie das „Kasperle aus der Kiste“, das passiv ist, solange der Deckel geschlossen ist und herausspringt, wenn ich die Schachtel öffne. Ein echtes Hin und Her zwischen Tun und Fallenlassen. Nachdem ich die Übung ein paar Male ohne Stimme gemacht habe, bis ich einen guten Rhythmus gefunden habe, kommen Töne hinzu. Die Töne hängen sich (im Sinne meines letzten Beitrags „Bewegung als Schalter“) an die Rückwärtsbewegung. Nicht vor, nicht nach der Bewegung, sondern genau zeitgleich. Der Ton wird quasi durch die Bewegung erzeugt. Dabei dauert der Ton nur so lange, wie ich mich in dieser nach oben gerichteten Streckung befinde. Sobald ich loslasse – wie ein Marionette, deren Fäden plötzlich abgeschnitten werden – höre ich auf zu tönen. Der Atem kann den passiven Moment nutzen und völlig unangestrengt und geräuschlos wieder einströmen. Der Körper holt sich dabei ganz von selbst genau so viel Atem, wie er braucht um den nächsten Ton, die nächste Phrase zu singen. Ich lasse mir für das vollständige Lösen so viel Zeit, wie ich brauche. Nicht länger und nicht kürzer.
Als zweite Variante kann ich mit dem Gewicht auch auf dem hinteren Bein beginnen. Eine andere Dynamik prägt diese zweite Übung. Ich verlagere mein Gewicht bewusst und eher fließend auf das vordere Bein. Dabei schieben die Arme einen imaginären schweren Gegenstand nach vorne. Dabei darf sich sogar auch das vordere Knie leicht beugen. Zum Lösen lasse ich mich wieder auf das hintere Bein zurückfallen und lasse auch die Arme ganz los. Beim Tönen nimmt die Vorwärtsbewegung den Ton mit, der gerade so lange klingt, wie ich mit meinem Gewicht auf dem linken Bein bin. Lasse ich los, verstummt der Ton sofort und ich konzentriere mich ganz darauf, wirklich loszulassen und einen Moment passiv zu sein.
Welche der beiden Übungsvarianten hilft meiner Stimme mehr? Klingen die Töne unterschiedlich? Wann klingt die Stimme wirklich durch meinen ganzen Körper? Kann ich merken, wie sich mein Atem ganz von allein ökonomisch organisiert und geräuschlos einströmt?
Ich arbeite mit meinen Schülern am Anfang ganze Stücke in diesem Sinne durch. Phrase für Phrase lernt der Körper wieder aktiv zu sein und im nächsten Moment ganz und vollständig zu lösen. Der Atem findet zurück zu seinem natürlichen Rhythmus. Nach und nach, werden sich die (über-)langen Pausen harmonisch ins musikalische Gesamtgefüge einpassen. Lieder, die recht kurze Phrasen und danach eine längere Pause haben (wie z.B. die Evergreens „Tears in Heaven“ oder „Imagine“), nenne ich „gute Übelieder“, weil sie die Möglichkeit des Lösens in den Pausen direkt mitbringen ohne den musikalischen Fluss zu unterbrechen.
Irgendwann können sich die Zustände von Tun und Lösen auch „überlappen“. Runde und schwingende Bewegungen z.B. Kreise oder Achten, bieten später die Grundlage für längere Bögen und Phrasen mit mehreren dynamischen Schwerpunkten. Wie bei Wellen im Meer, wo sich die eine Welle schon anbahnt, während die andere sich wieder zurückzieht, kann auch beim Singen eine Art Gleichzeitigkeit von Spannung und Entspannung entstehen. Ich empfehle jedoch, dem Körper seine Zeit zu lassen, das Tun und Lösen erstmal ganz und gar zu verinnerlichen.
Das Wechselspiel zwischen Aktivität und Passivität sorgt für Mühelosigkeit und Regeneration bereits im Singen. Ermüdungserscheinungen werden geringer, im Idealfall kann die Stimme durch das Singen immer mehr „Fahrt aufnehmen“. Im Chor kann die oben beschriebene Übung für den Klang und die dynamische Gestaltung eines Stückes enormes Potential zutage fördern. Ich würde empfehlen, dass zunächst alle Chorsänger einige Male die Rückwärtsbewegung und dann ein paar Mal die Vorwärtsbewegung machen. Danach darf jedes Chormitglied die Richtung auswählen, die ihm mehr Leichtigkeit und Genuss verschafft hat. Das Ergebnis, wenn jeder in seiner Lieblingsrichtung singt, wird sicher auch dem Chorleiter Genuss bereiten. Als direkten Kontrast kann man es auch einmal gemeinsam in der Variante der „Nichtlieblingsrichtung“ versuchen. Vorsicht, das kann möglicherweise für schallendes Gelächter bei allen Beteiligten sorgen!
Vor längerer Zeit habe ich in der Kundenzeitung eines Drogeriemarktes eine Kolumne gelesen, die sich eigentlich mit der lebendigen Balance zwischen Arbeits- und Familienleben befasst. Die Worte des Autors GÖTZ WERNER treffen aber genauso gut auf die Arbeit mit der Stimme oder dem Atem zu: „Wenn man die Balance will, ist die Gefahr groß, dass man weder das eine noch das andere richtig und gut tut. Wie in der Kindheit, als es durchaus einmal interessant sein konnte, mit dem Gegenüber auf der Wippschaukel genau den Punkt zu finden, an dem keine Bewegung mehr erfolgt. Sie werden mir wahrscheinlich zustimmen, dass intensives Schaukeln ungleich mehr Freude bereitet. (…) Wie beim Schaukeln ist der richtige Rhythmus eine Art Verstärker.“
Nun werde ich mich für zwei Wochen ganz dem „Lösen“ überlassen und erstmal in den Urlaub fahren. Die nächsten STIMMSINN-Gedanken, erscheinen demnach erst wieder in 14 Tagen.
Ich wünsche ein schwungvolle Zeit und empfehle, auf dem nächsten Spielplatz mal wieder ausgiebig zu schaukeln,
Anna Stijohann