Zwei Seiten der gleichen Medaille
Die Basis meiner stimmbildnerischen Arbeit bildet seit nunmehr fast zehn Jahren die Idee der beiden Atemtypen SOLAR und LUNAR. Man mag davon halten, was man will, für mich sind die Gedanken- und Unterrichtsansätze, die ich im Rahmen meiner Fortbildung zum „natural voice teacher“ bei Renate Schulze-Schindler (Autorin des Buches „Sonne, Mond und Stimme“) kennengelernt habe, wahre Schätze. Schätze, die weit über das hinausgehen, was der ein oder andere aus gutem Grund als „Schubladendenken“ ablehnt. Und das faszinierendste dieser Arbeit sind für mich nicht die bipolaren Gesetze und Unterschiede an sich, sondern das, was geschieht, wenn die Menschen wieder beginnen in ihrem eigenen Rhythmus zu schwingen.
Was ist es? Wohin, in welchen Raum können uns die Atemtypen führen? Was finde ich dort für meine Stimme? Für meinen Körper und für mich als Person?
Wir leben in einer Welt des „Machens“. Wir sind gewohnt Dinge zu
lernen um sie dann zu können. Wir möchten Kontrolle über die Stimme
gewinnen, höher, lauter, überzeugender singen. Ziel ist es, das zu
erreichen, was ich mir vorgenommen habe. Das ist die eine Straße.
Die
andere Straße ist die der Selbstregulation. Unendliches Potential
wartet nur darauf befreit und abgerufen zu werden. Alles ist möglich und
viele dieser Möglichkeiten liegen noch nicht einmal im Horizont dessen,
was ich mir vorstellen kann. Ich kann wirklich über mich hinauswachsen
und Grenzen überwinden, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie
existieren. Ich gehe los und kenne mein Ziel nicht oder komme ganz
woanders an.
Um mich auf dieser Straße zu bewegen, muss ich ein
Risiko eingehen und kann durchaus ins Schlingern geraten. Ich muss und
kann (!) ein Vertrauen entwickeln, dass es auf diesem Wege auch eine –
zugegebenermaßen andersartige – Sicherheit gibt.
Dieses Potential zu spüren und immer weiter zu entfalten, ist das eigentliche Geheimnis der bipolaren Atem- und Stimmarbeit. Für mich geht es nicht darum etwas auf die eine oder andere Weise „richtig“ zu machen, damit es besser „funktioniert“. Ja, die Arbeit mit den Atemtypen hält für diverse Problemchen durchaus verblüffende Tricks bereit. Das kann z.B. im Rahmen einer Chorprobe mit 45 Sängern selbst für den Chorleiter nicht nur überraschend, sondern nahezu wie Zauberei anmuten.
Aber das wirklich Bemerkenswerte ist die Offenheit, die stimmlich, innerlich und auch zwischenmenschlich möglich wird, wenn Menschen beginnen, den ursprünglichen Rhythmus ihres Atems wiederzuentdecken. Mir scheint es, als seien die Gesetze der beiden Atemtypen wie Tore, durch die man in einen besonderen Raum gelangt. Ein Raum voller Möglichkeiten. Ein Raum in dem wirklich Musik entstehen kann. Musik, die Menschen in der Tiefe ihres Seins berührt. Völlig ungebildete Stimmen, die grottenschief ein Volkslied singend, mich und eine ganze Gruppe weiterer Zuhörer in Tränen der Rührung ausbrechen lassen. Ein Raum, in dem der Singende und der Zuhörer sich wirklich begegnen können. Ein Raum, wie er sich in musikalischen Sternstunden öffnet.
Und das kann man lernen? Ja und nein. Die Sternstunden werden immer Geschenke bleiben, aber mithilfe der bipolaren Atemdynamik kann ich lernen, mich in der Unsicherheit, die es braucht, damit solche Dinge sich ereignen können, immer sicherer zu bewegen. Durch das Verstehen der körperlichen Gesetzmäßigkeiten und der solaren und lunaren Atemdynamik, kann ich lernen mich in einen Zustand versetzen, in dem ich empfänglich bin für die Dinge, die sich ereignen wollen.
Renate Schulze-Schindler betont immer wieder, welche wichtige Rolle der dynamische Aspekt dabei spielt. Bewege, atme und singe ich mit meinem Atemtyp, kann sich mein Gesang, die Musik und das Zusammenspiel mit meinem Spielpartner dynamisch entwickeln. Ich kann aufhören Dinge zu planen, Absprachen zu treffen, die Entwicklung eines Stückes akribisch zu erarbeiten. Ich kann stattdessen beginnen zu kommunizieren, zu musizieren und mich treiben lassen. Was für ein herrliches Gefühl!
Zugegebenermaßen nicht immer. Manchmal ist es auch beängstigend, geht an der gestellten Aufgabe vorbei, ufert aus oder ich habe das Gefühl, das ich meine eigene Intensität nicht aushalten kann. Und manchmal passiert auch einfach nichts. Das gehört dazu. Wie beim Wellenreiten. Manchmal erwischst Du die Welle, manchmal nicht. Aber Übung macht in beiden Fällen vieles möglich.
Um sich in der Freiheit immer besser orientieren zu können, kann ich das konsequente Üben der nach SOLAR und LUNAR unterschiedenen Körperübungen nach E. Wilk nur empfehlen. Das regelmäßige Üben dieser sehr formalen Gelenk-, Muskel- und Faszienübungen schafft die körperlichen Voraussetzungen und die innere (sowohl körperlich als auch seelisch gedachte) Stabilität, um die Freiheit immer mehr genießen und auskosten zu können. Freiheit für die ganz individuelle musikalische und stimmliche Entfaltung, die die ein oder andere Überraschung bereit hält.
Es gibt neben dieser Arbeit viele weitere „Tore“ zum Raum der Möglichkeiten. Gerade in der Arbeit mit Laien und Anfängern ist mir jedoch nichts begegnet, was die Menschen in so kurzer Zeit zum Kern der Sache geführt hätte.
Ich wünsche überraschende Stimm-Einsichten und musikalische Sternstunden,
Anna Stijohann