Losgehen mit dem, was ist
Sowohl als Sängerin, als auch als Pädagogin muss ich mich immer wieder entscheiden, wie ich beginnen möchte. Mit der Unterrichtsstunde, mit meinem eigenen Einsingen, mit den Vorbereitungen für ein Konzert. Natürlich kenne ich unzählige Übungen für Körper und Stimme und doch mache ich die Erfahrung, dass es mich und meine Schüler am glücklichsten macht, wenn ich an das anknüpfe, was gerade da ist. Denn irgendetwas ist immer da, in das ich mich mit meiner Stimme einfädeln kann. So kann ich mich organisch auf einen Weg begeben, der noch offene Möglichkeiten bereit hält und mir erlaubt, immer wieder, auch in den kleinsten Dingen, über mich hinauszuwachsen.
Dieser Weg beginnt mit dem Wahrnehmen. Vielleicht stehe ich einfach nur mit geschlossenen Augen da und lausche. Wie geht mein Atem gerade jetzt in diesem Moment. Kann ich ihn so akzeptieren, wie er gerade schwingt? Ohne „sollte doch eigentlich“ oder „könnte doch“? Wie aus Versehen streicht die Luft an den Stimmlippen vorbei und es entsteht ein Ton. Ein kleines Summen oder ein harmloses Seufzen. Das fällt leicht und gleichzeitig unendlich schwer, weil uns gerade die ungeformten Töne sehr nah sind. Aber wir können über diese Schwelle springen und uns überraschen lassen, wie die Töne nach und nach einen immer klareren und mühelosen Klang finden.
In einer Gruppe können wir uns in eine Klangwolke, ein Cluster, oder andere Geräusche vertrauensvoll und fast heimlich „einmischen“ und gleichzeitig zunächst im Gesamtklang verborgen bleiben. Befinden wir uns dabei nicht in einem harmonischen Gefüge, so gibt es auch keine falschen Töne. Reibung ist Teil des Klangs. Diese Reibung kann und soll uns ermutigen mit der Stimme Fahrt aufzunehmen und uns von der Dynamik beflügeln zu lassen. Die Stimme darf sich mühelos selber ihren Raum holen und beginnen sich zu entfalten.
Auch die rhythmische Ebene kann ein Hintergrundfeld bieten. Wir haben es in unserem Körper ständig mit Rhythmen zu tun: unser Herzschlag, der Rhythmus unserer Fortbewegung, unser Atem. Es geht, genau wie oben bei den Klängen beschrieben, zunächst ums Lauschen. Wir lauschen z.B. auf unsere Füße, wenn wir gehen und laufen. Wir nehmen die Rhythmen verschiedener Körperteile beim Gehen wahr und erlauben der Stimme diese Rhythmen nach außen hörbar zu machen.
Ich kann meine Stimme auch an meine Bewegungen hängen. Ich kann meinen Körper mit geschlossenen Augen schwanken lassen. Ganz frei, so wie er will. Die Bewegung wird, wenn ich nicht willentlich eingreife, vielleicht klein beginnen und wenn ich es erlaube, Schwung aufnehmen, sich dann wieder beruhigen, sich dann vielleicht wieder heraufschwingen. Gelingt es mir, meine Stimme ungeformt und ungefiltert an diese Bewegung anzuhängen – wie der Wind, der einen Baum bewegt und dabei hörbar wird, wie ein Klangspiel, das im Wind hängt und sanft zu klingen beginnt – kann auch die Stimme sich dynamisch heraufschwingen und aufblühen.
Je nachdem, wo ich mich befinde, kann ich auch nach Alltagsgeräuschen suchen, in die ich mich einfädeln kann. Das Ticken einer Uhr, das Stimmen meiner instrumentalen Mitspieler, Bauarbeiten im Nachbarhaus, Vogelgezwitscher. Im Grunde kann ich mich in jede beliebige Geräuschkulisse wie zuvor tastend mit der Stimme eingliedern.
Aber manchmal kann und will ich mich gar nicht auf leise Töne einlassen. Ich bin viel zu aufgeregt oder gestresst. Dann muss ich mich vielleicht schütteln und springen, juchzen, pulsieren oder mich drehen. Auch so kann sich die Stimme ganz ziellos in etwas einfädeln, was gerade da ist. Und möglicherweise stellt sich die Stille und Konzentration nach kräftiger Bewegung leichter ein. Wenn ich mich z.B. rhythmisch bewegt habe, gibt es meist noch ein Pulsieren in den Händen oder anderen Teilen des Körpers. In dieses feine Vibrieren (= Schwingung = Ton = Klang) kann ich mich dann wiederum stimmlich einfädeln.
Mir ist es wichtig, nicht ausschließlich mit dem Willen und nach Plan zu agieren, sondern wach zu bleiben und immer wieder nach einer offenen Tür oder einem sich erst in dem Moment zeigenden Weg Ausschau zu halten. Denn der Moment, in dem ich beginne, entscheidet unüberhörbar über den Klang, der folgt. Beginne ich willentlich, um etwas ganz bestimmtes zu erreichen, um „in 10 Minuten alle Höhen und Tiefen der Stimme fit zu haben“, so werde ich anders klingen und anders denken, als wenn ich meine Stimme übers Lauschen und das geduldige Warten einlade, zu klingen. Vielleicht bewege ich mich in den 10 Minuten, die mir als Zeitfenster zur Verfügung stehen, 7 Minuten in der unteren Mittellage, brumme und summe oder suche nach Rhythmen in mir. Wenn ich Vertrauen habe, wird sich die Stimme trotzdem so befreien, dass ich mit jedem Ton eine klarere Spur legen kann, die mich dann möglicherweise sogar durch die gesamte Unterrichtsstunde oder Probe trägt.
Ob das nötig ist? Ob das was bringt? Ob es nicht auch anders geht? Ob
das nicht alles viel zu lange dauert? Das sind Fragen, die mir immer
wieder begegnen. Sei es als Zweifel in mir selbst, sei es als
Anmerkungen von Kollegen und Schülern. Dazu habe ich in dem Buch
„Spielraum für Wesentliches“ von Christian Maier eine nette kleine
Anekdote gefunden:
Ein Wanderer sieht bei einem Spaziergang
einen Holzfäller, der offensichtlich bemüht ist, mit einer stumpfen Säge
Bäume zu fällen. Auf die Frage des Wanderers, ob es nicht sinnvoll
wäre, zunächst die Säge zu schärfen, entgegnet der Holzfäller, dass er
dafür nun wirklich keine Zeit hätte. Er müsse noch so viele Bäume
fällen…
Geduldiges Stimm-Einfädeln und dynamisches Hinaufschwingen wünscht,
Anna Stijohann