Übst Du noch oder erlebst Du schon?
Einfach mal nichts verbessern und das Singen voll und ganz genießen. Das war mein Wunsch, als ich neulich auf einem Austauschwochenende mit meinen natural voice – Kolleginnen solo gesungen habe. Ein komischer Wunsch? Vielleicht. Es gibt doch immer was zu verbessern, es ist nie perfekt.
Klar, stimmt. Aber wenn das dazu führt, dass mir darüber die Singfreude abhanden kommt, möchte ich mich davon frei machen. Wenn ich immer nur herumbastel, hier noch ein bisschen nachbesser und stets genau weiß, welche Stellen eines Liedes mir gut gelungen sind und welche ich noch üben muss, verliere ich irgendwann die Lust.
Optimieren und verbessern
Wir sind fast immer in einem inneren Bewertungsmodus. Gerade wir Profis. Wir hören jede Intonationsunsicherheit, jeden Ton, der nicht dort sitzt, wo er hinsoll und fühlen intensiv mit, wenn jemand drückt, schiebt und seine Stimme unökonomisch oder sogar ungesund benutzt.
Natürlich ist es meine Aufgabe als Lehrerin, genau hinzuhören und eben dort für Ordnung zu sorgen, wo noch Unordnung herrscht. Ich lenke die Aufmerksamkeit meiner Schüler*innen und Kursteilnehmer*innen, damit sie eine Chance haben, nach und nach herauszufinden, was sie brauchen, damit ihr Singen sich freier anfühlt und die Stimme leicht zum Klingen kommt.
Wie es euch gefällt
Aber ich möchte heute mal eine andere Perspektive aufzeigen, auf die mich oben schon angedeutetes „Vorsingen“ mit den Kolleginnen gestoßen hat. Eigentlich habe ich meinen Wunsch zu allererst mal formuliert, weil wir es in diesem Kolleginnenkreis so lieben die Menschen direkt körperlich zu unterstützen, neue kreative Spielideen zu entwickeln und uns gegenseitig zu bestärken, dass wir auf einem guten Weg sind. Superwertvoll, aber mich hat das schon manches Mal trotzallem in ein inneres Gefühl gebracht, ich müsse mich beweisen, Dinge richtig machen – so wie es den Kolleginnen gefällt – und bei unseren einmal jährlich stattfindenden Treffen klar erkennen lassen, dass ich Fortschritte gemacht habe seit dem letzten Mal. Darauf hatte ich an diesem letzten Wochenende schlicht keinen Bock. Ich wollte meine Ruhe haben und einfach nur singen. Mich ausprobieren. Musizieren. Sängerin sein.
Erlaubnis für alle
Ich wollte etwas erleben. Und dieser Wunsch hat so viele Türen geöffnet. Viel mehr, als ich vorher erwartet hätte. Plötzlich wurde MEIN Wunsch zum roten Faden unserer kleinen „Arbeitswerkstatt“. Eine Erleichterung ging durch die Runde, weil es den anderen teilweise auch so ging. Mein Wunsch hat allen die Erlaubnis gegeben, den Fokus beim Singen ganz anders auszurichten. Und es ist wirklich Magisches passiert!
In dem Augenblick, wo wir es schaffen uns abzuwenden vom „ich will das richtig machen“, beginnen wir eine echte Erfahrung zu machen. Eine Erfahrung mit uns selbst, mit unserer Stimme und mit der Musik. Sobald es nicht mehr darum geht „es zu schaffen“, zu überzeugen, die hohe Stelle sauber zu singen oder schlicht „gut durchzukommen“, sind wir ganz und gar im Moment.
Was es alles zu erleben gibt
Alle natural voice – Kolleginnen sind – wie ich- sehr körper- und spürerfahren und so war es für jeden eine spannende innere Abenteuerreise.
Wo finde ich Verbindung?
Wo kann der Klang sich Unterstützung vom Körper holen?
Wo beginnt die Musik plötzlich ein Eigenleben zu entwickeln?
Wo bin ich im Flow?
Wo bereitet mir das Singen von hohen Tönen eine große innere Lust?
Wo entspinnt sich stimmlich und musikalisch plötzlich eine Dynamik, die ich wie eine Welle beim Surfen reiten kann?
Wo erlaube ich mir, mich verletzlich – auch im Klang – zu zeigen und wie entsteht dadurch eine intensive Verbindung zu den Zuhörern?
Es gibt beim Singen so viel zu erleben! Und es ist so berührende Musik passiert an diesem Kollegenwochenende. Mal war es zart und zerbrechlich, mal intensiv und aufwühlend. Mal witzig, mal traurig und immer wichtig und richtig in genau diesem Augenblick.
Lernen auf allen Ebenen
Das, was ich an diesem Wochenende erlebt habe, hat sich mir tief eingeprägt. Das, was mir in meinem Singen widerfahren ist, hat so sehr meinen inneren Horizont geweitet, dass sich in mir nachhaltig Dinge verschoben haben. Das kann ich spüren. Jeden Tag.
Dieses „Singerlebnis“ war anscheinend für meinen Körper, meine Seele und meinen Geist von so großer Bedeutung, dass mein ganzes System beschlossen hat, alte Muster abzulegen, die bisher meinem freien und lustvollen Singen im Wege gestanden haben.
Ich habe gelernt.
Etwas ganz Neues.
Auf allen menschlichen Ebenen.
Und zwar ganz ohne, dass mich vorher jemand auf einen möglichen Mangel hingewiesen hätte. Ohne, dass ich mir am Anfang vorgenommen hatte, ich möchte dieses oder jenes verbessern.
Durch die intensive Erfahrung habe ich mich ausgedehnt und konnte in mein ganz persönliches nächstes „Singlevel“ aufsteigen. Und selbstverständlich nicht nur das. Auch bei meinen anderen Themen – es hängt ja alles mit allem zusammen – durfte ich wachsen.
Mich zeigen.
Mein eigenes Ding machen.
Komplimente annehmen.
Einen Raum mit meiner Präsenz füllen und es genießen.
Meine „gottgegeben“ Fähigkeiten anerkennen.
Mich wirklich Herz zu Herz mit meinen Kolleginnen verbinden.
Mir selber erlauben, mich in meiner vollen Größe zu zeigen.
Ein unfassbar intensives Erlebnis.
Erlebst Du schon?
Was wäre, wenn wir immer so singen und auch sogar üben würden? Nicht mit dem Ansinnen, es hinterher zu können, sondern mit der Neugier, etwas zu erleben.
Was wäre, wenn unsere Chorproben geprägt wären von dem Wunsch, gemeinsame Klänge und Rhythmen zu ERLEBEN? Anderen Menschen wirklich zu begegnen statt mit 30 anderen im Raum zu versuchen, das Stück „auf die Beine zu stellen“ und irgendwie durchzukommen.
Was wäre, wenn unsere Gesangschüler*innen in den Unterricht kämen um eine ERFAHRUNG zu machen, statt mithilfe von effizienten Übungen an der Leichtigkeit ihrer Stimme „zu feilen“? Wie wäre es, gemeinsam in Musik einzutauchen, Melodien und Harmonien zu erforschen und im Rhythmus zu pulsieren, anstatt ein Lied zu lernen, damit sie es dann beim Vorsingen „können“ und die hohen Töne „gut klappen“?
Was wäre, wenn wir abends im Kreis der Familie oder mit Freunden kleine Improvisationen oder spontane Mehrstimmigkeiten erfinden würden und uns dabei vor Singlust auf die Schenkel klatschen würden und hinterher das Gefühl hätten, wir haben uns den ganzen Abend prächtig unterhalten?
Was wäre dann alles möglich?
Boah, da kriege ich hier beim Schreiben gerade eine fette Gänsehaut.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Warum tun wir das eigentlich nicht? Warum bleiben wir beim Singen und Musizieren so oft auf der Oberfläche? Vielleicht, weil wir es in der Schule und Musikschule einfach so gelernt haben und gar nicht wissen, dass es noch andere Wege gibt. Vielleicht auch, weil es bequem ist, auf der Oberfläche zu bleiben. Denn eines ist sicher. Der Mensch an sich mag keine Veränderungen. Na klar, wir möchten unser Singen verbessern und ein schönes Leben haben, aber sind wir dafür wirklich bereit, Gewohntes aufzugeben?
Es kostet Überwindung aus den angestammten Mustern auszusteigen. Sich verändern braucht Mut und einen echten Anlass. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz. Erst ein signifikantes Erlebnis, wie ich es oben beschrieben habe, ermutigt uns, einen neuen Weg einzuschlagen.
Krise oder Sternstunde
Wie beschreibt es Gerald Hüther so wunderbar in einem seiner Youtube-Videos: Menschen bleiben am liebsten in den Gefilden, die ihnen bekannt sind. Sogar, wenn sie mit dem Zustand dort eigentlich unzufrieden sein. Zu groß ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Denn was erwartet uns dort draußen im Unbekannten? Gefahr, Unsicherheit, Nicht-Wissen, Überforderung…
Um den Sprung über die innere Schwelle hin zur Veränderung zu schaffen brauchen wir entweder einen triftigen Grund, z.B. eine Lebenskrise, herausfordernde Umstände im Leben oder aufs Singen bezogen eine deftige Stimmstörung oder Auftrittsangst oder – und das erwähnt Hüther fast nebenbei – eine „Sternstunde“. So nennt er einen Moment, der so einprägsam und bedeutsam ist, dass der Mensch den Schritt ins Unbekannte wagt. „Es braucht eine Berührung. Einen Moment, wo der Mensch wieder mit seiner ursprünglichen Lebendigkeit in Kontakt kommt.“
Fokus und Selbstdisziplin
Ja! Ja! Ja! Und deswegen brauchen wir mehr „Sing- und Stimmerlebnisse“ und weniger Üben, Verbessern und Herumbasteln. Und – das klingt vielleicht komisch – aber damit diese Erlebnisse passieren können, brauchen wir eine gewisse Selbstdisziplin. Wir müssen uns immer wieder uns selber aktiv zuwenden und den Kontakt mit dem Körper suchen. Den Atem freilassen. Den Wechsel von Tun und Lösen praktizieren. Stille und Nichtstun einladen. Die Stimme unseren Bewegungen anvertrauen, anstatt sie selbst in die Hand zu nehmen. All das kann man üben. Oder schöner ausgedrückt: Kultivieren! Am besten täglich.
Wir müssen uns immer wieder achtsam einfangen, wenn wir anfangen, irgendwo auf der Oberfläche herumzudümpeln oder über Übungen oder ein Stück „irgendwie drüberzuhuddeln“. Wir müssen uns stets aufs Neue erinnern, unseren Körper nicht zu übergehen, sondern ihm zuzuhören, nicht an ihm herumzumanipulieren und statt Kontrolle auszuüben eine aufrichtige, lebendige Begegnung suchen.
Wie in einer guten Beziehung. Nur dann passieren die Sternstunden, die Erlebnisse, die so tiefgreifend sind, dass sie der perfekte Nährboden sind fürs nächste innere Level und nachhaltiges Wachstum.
Innere Kapazität schafft Raum für Erfüllung
Damit das möglich wird, ist definitiv eine gute Portion innere Arbeit nötig, damit unser Unterbewusstsein uns – bei all den guten Vorsätzen – nicht immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Wir müssen hinlauschen, was uns die kritischen Stimmen und alten Glaubenssätze zu sagen haben, wie wir zu sein oder auch nicht zu sein haben. Nur wenn wir sie ernst- und uns ihrer annehmen, können sie nach und nach leiser und leiser werden. Es ist nötig, dass wir die Kapazität unseres Nervensystems, abenteuerliche und vielleicht auch erstmal gefährlich anmutende Erlebnisse auszuhalten, erweitern. Damit wir nicht gleich aufgeben, wenn in unseren Singerlebnissen andere Dinge passieren, als das, was wir erwarten oder uns wünschen.
Aber es lohnt sich soo sehr. Versprochen, dickes hoch-und-heiliges Indianderehrenwort!
Diese Dinge sind viel tiefer wirksam, als das Rauf-und-runter-Jodeln von Tonleitern. Wenn wir auch am Anfang manchmal das Gefühl haben, wir treten auf der Stelle, am Ende führen sie zu einem ganz anderen Gefühl von innerer Erfüllung.
Denn das ist es ja, was wir uns alle wünschen: Erfüllt sein. Erfüllt singen. Klang genießen. Sich mit den Mitmusikern und dem Publikum verbinden und Aufgehen in der Musik. Lebendigkeit erleben.
Naja, zumindest ist das mein Wunsch…
Aber Deiner vermutlich auch. Sonst wärst Du nicht hier gelandet. 😉
Alles Liebe,
Anna