Klangkörper

Beim Singen sind wir sind das Instrument. Vom Scheitel bis zur Sohle, nichts ist unwichtig, nichts überflüssig. Um sich beim Singen wirklich als klingender Körper, als Klangkörper, wahrnehmen und erleben zu können, spielen die Faszien eine entscheidende Rolle. Faszien. Das lange unbeachtete Bindegewebe, das erst seit ungefähr 15 Jahren intensiver wissenschaftlich erforscht wird und das erstaunliche Überraschungen und Möglichkeiten bereit hält. Auch für die Stimme und das miteinander Musizieren.

Was sind Faszien?

In jedem Fitnessstudio gibt es mittlerweile Faszienyoga und jeder, der einmal mit Rückenschmerzen beim Physiotherapeuten war, besitzt heutzutage eine „Faszienrolle“. Deswegen möchte ich nur ganz kurz beschreiben, was Faszien sind und dabei die Aspekte herausstellen, die mir besonders wichtig und fürs Singen von Bedeutung sind. Als Faszien bezeichnet man in der Regel jede Art von Bindegewebe im Körper. Alles im Körper ist von diesen elastischen Häuten umgeben. Vorstellen kann man es sich wie die Häute einer Orange. Außen gibt es die Schale. Innen teilt sich die Frucht in mehrere Stücke. Jedes Stück enthält kleine Saftschnipselchen, die wieder jeweils von einer Bindegewebshaut umschlossen sind. So ist es auch im Körper. Jedes Organ, jeder Muskel, jede Muskelfaser usw. ist von Faszien umgeben. Sie trennen alles voneinander und verbinden gleichzeitig alles.

Faszien und Stimme

Warum sind die Faszien für uns beim Singen interessant? Das elastische Bindegewebe hat einen entscheidenden Anteil an unserer Aufrichtung und der inneren (Auf-)Spannung. Damit sind die Faszien wichtig für alles, was mit innerer Anlehnung, Atem-Ton-Balance, vor allem aber auch unserer Schwingungsfähigkeit als Klangkörper zu tun hat. Die Beschäftigung mit den Faszien kann diese Schwingungsfähigkeit enorm verbessern oder wiederherstellen, was im Endeffekt bedeutet, dass das Singen müheloser und gleichzeitig genussvoller wird. Außerdem funktioniert unser „Körpersinn“ (also unsere innerliche Repräsentation davon, wie und wo wir uns im Raum und in der Schwerkraft befinden und inwieweit wir die Aktivitäten unseres Körpers bewusst erleben können) über die Faszien. Kurz gesagt, ermöglichen uns die Faszien den innerlichen, spürenden Zugang zu unserem Instrument Stimme.

Klanghülle

Die äußerste Faszienschicht umschließt uns komplett wie eine „Tüte“. Unter der Haut, unter dem Fettgewebe liegt diese „Faszia Profunda“, die zum Singen äußerst interessant ist. Vom Scheitel bis zur Fußsohle hängen wir darüber zusammen. Eine Idee davon können wir bekommen, wenn wir uns diese Ganzkörperhülle wie einen elastischen Taucheranzug vorstellen und uns mit dieser Vorstellung bewegen, dehnen, strecken. Unsere Bewegungen bekommen eine andere Qualität. Unsere Aufmerksamkeit ist anders gebündelt. Mein Chor nennt diese Art der Dehnung scherzhaft „Räkeln deluxe“ 🙂 Und wenn wir die Stimme tönend dazunehmen, kriegen wir eine erste Ahnung, wie nützlich diese Klanghülle im Sinne einer inneren Anlehnung beim Singen sein kann.

Selbstregulation

Innerlich gibt es soviele Faszien und Faszienbahnen, dass man gar nicht weiß, welcher man sich zuerst zuwenden möchte. Aber die gute Nachricht ist, wir können einfach dort beginnen, wo uns unsere Intuition hinzieht. Wenn wir mit der oben beschriebenen Taucheranzugübung beginnen, fängt der Körper meist von selbst an, Bewegung und Aufmerksamkeit einzufordern. Ein leichtes Hin- und Herschwingen, Dehnungs- und Bewegungsbedürfnis oder der Wunsch nach Wippen oder Schütteln sind die Sprache des Körpers. Wir brauchen nur zu lauschen und seine Anregungen aufzunehmen.

Wie können wir mit den Faszien Kontakt aufnehmen?

Faszien können unglaublich viele verschiedene Dinge. Deswegen reagieren sie auch auf ganz unterschiedliche Reize. Für mich gibt es eine handvoll wesentlicher Möglichkeiten, den Körper über die Arbeit mit den Faszien in einen schwingungsfähigen Zustand zu bringen. Zunächst ist es das Dehnen, das neue Räume und Anlehnungsmöglichkeiten bietet. Wie fühlt es sich an, wenn wir uns in die Töne hineindehnen oder eine Dehnung, egal welcher Art, als Anlass für die Stimme nehmen? (vgl. Bewegung als Schalter)

Weiterhin mögen Faszien alles was mit Wippen, Federn und Schwingen zu tun hat. „Turnvater Jahn“ lässt grüßen 🙂 Bei den Übungen dieser Kategorie kann man vor allem das stimmliche Loslassen üben (vgl. Geschüttelt nicht gerührt). Wippen in den Fußgelenken, Trampolinspringen oder Schwingen mit den Armen oder einem Swingstick sorgen für innere Aktivierung, Wachheit und Lockerheit. Fügen wir dem Körper auf diese Weise von außen Schwingung hinzu, hat er auch Lust, aus sich heraus zu schwingen und somit zu klingen.

Darüber hinaus kann ich meine Faszien durch Massage (z.B. Fußmassage mit einem kleinen Ball oder Rückenmassage mit einer Faszienrolle o.ä.) aktivieren. Durch den Druck wird das Wasser aus der Bindegewebsschicht herausgedrückt und beim anschließenden Lösen saugt sich das Gewebe neu mit Flüssigkeit voll und wird somit beweglicher, gleitfähiger und fühlt sich saftiger, lebendiger und elastischer an. Und klingt auch so. Das können wir ausprobieren, wenn wir unserer Stimme freien Lauf lassen und z.B. dem wohlig-schrecklichen Massageschmerz erlauben, sich in Klang umzuwandeln. (vgl. Jubilieren gegen Höhenangst).

Gut funktioniert das auch beim gegenseitigen Massieren (z.B. bei bipolaren Atem- und Stimmmassagen nach Renate Schulze-Schindler). Die eigene Stimme an die Hände des Massierenden zu hängen und einfach mit der Stimme den Bewegungen zu folgen, macht große Freude und öffnet manchmal ungeahnte Klangräume.

Die fürs Singen vielleicht wichtigste Möglichkeit mit den Faszien in Kontakt zu kommen ist das Spüren. Faszien sind wesentlich an unserer Sensomotorik – also dem „wie bewege ich mich“ – beteiligt und sobald wir in einer Bewegung spürend anwesend sind (vgl. Bewusstsein als Tür), sind auch unsere Faszien aktiv(er) beteiligt. Ich verwende vor allem zwei Grundprinzipien.

Zum einen benutze ich immer wieder Mikrobewegungen, also kleine bis kleinste Bewegungen z.B. der Wirbelsäule, des Beckens oder des Kopfes. Wenn ich große Bewegungen ausführe, liegt der Schwerpunkt meist im Schwung oder der allgemeinen Aktivierung. Bei kleinen Bewegungen kann ich mich der spürenden Aufmerksamkeit kaum entziehen.

Diese wird ebenso geweckt, wenn ich mich während des Bewegens (und Singens (!)) auf die Schwerkraft konzentriere (vgl. Singen im freien Fall). Wie schwer ist mein Arm? Wie fühlt sich gehen an, wenn ich mich auf das Gewicht meiner Beine konzentriere? Wie klingt meine Stimme dann? Als Einstieg dazu eignet sich dazu auch gut die Arbeit mit Sandsäckchen oder anderen schweren Gegenständen. Auch Balancespielzeuge, wie das Schwingbrett, wecken den „Körpersinn“.(vgl. Spielzeug zum Singen)

Faszienarbeit im Stimmalltag

In der alltäglichen Gesangsunterrichts- und Übepraxis gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Faszienarbeit einzubeziehen. Einmal kann ich Faszienübungen (z.B. aus dem Fitnessbereich, Yoga, Feldenkrais o.ä.) zum allgemeinen körperlichen Aufwärmen benutzen. Ist der Körper wach, geschmeidig und klangbereit, hat die Stimme es leicht (vgl. Es könnte so einfach sein).

Zum Anderen kann ich die Faszienübungen direkt mit Stimmübungen kombinieren. Das Singen und Tönen mit Dehn- oder Spürübungen oder in Kombination mit einer Massage lässt den Sänger körperliche Zusammenhänge beim Singen und innere Anlehnungsmöglichkeiten sehr direkt spüren. Dieses konkrete, „fleischliche“ Erleben ist häufig einprägsamer und nachhaltiger als das reine Denken oder Imaginieren. Die individuellen Verständnismöglichkeiten werden um die körperliche Ebene sinnvoll ergänzt.

Körperklang

Und schließlich wird Faszien-Stimm-Arbeit für mich persönlich zum Hochgenuss, wenn wir es schaffen, dass Körper und Stimme sich gegenseitig befruchten. Rhythmusarbeit und Improvisation, wenn sie mit Bewegung einhergehen (z.B. Circlesinging, TaKeTiNa o.ä.), können ein möglicher Aufhänger dafür sein. Ich biete z.B. regelmäßig die Körperklangstunde an, in der eine Stunde lang Bewegung und Stimme in wechselseitige Beziehung gehen. Wippen, Hüpfen, Dehnen, Spüren, Tönen, Summen, Klang und Rhythmus gehen ineinander über und sorgen für ein zutiefst lebendiges Gesamtgefühl. (vgl. Seufzen auf Krankenschein). Aktive Phasen wechseln sich mit ruhigeren spürenden ab und sorgen letztlich dafür, dass der Kopf leer, der Körper lebendig, die Stimme frei und das Herz glücklich ist.

Dank der unglaublichen Faszien ist alles mit allem verbunden. Großartige Sache!

Reichlich Stimmgenuss und Körperklangfülle wünscht,

Anna Stijohann

P.S. Wer Lust hat, ganz STIMMSINN-praktisch in die Arbeit mit Faszien und Stimme einzusteigen, dem möchte ich meinen Onlinekurs „Körperklang – Du bist das Instrument!“ ans Herz legen. Der Kurs ist ein Selbstlernkurs und Du kannst – wenn Du willst – heute noch starten.