Bewusstsein als Tür
In der letzten Woche hatte ich eine interessante Stunde mit einer Schülerin, die sich auch mit Meditation beschäftigt. Sie merkte an, dass sich einige der Übungen, die wir machen, für sie sehr meditativ anfühlen und wollte wissen, ob es beim Singen auch darum ginge, einen Schritt zurück zutreten und zum „Beobachter“ zu werden. Da habe ich mich an ein Kapitel meiner Abschlussarbeit zum „natural voice – teacher“ erinnert, in dem ich mich genau damit auseinandergesetzt habe. Verschiedene Ebenen von Bewusstsein haben sich in meiner pädagogischen Arbeit mit Menschen und Stimmen herauskristallisiert. Jede hat ihre eigene Qualität und ihre Berechtigung. Das Beobachten ist eine von diesen Ebenen.
Die vier Ebenen des Bewusstseins
Im Wesentlichen unterscheide ich vier verschiedene Qualitäten, wie mein Bewusstsein an dem, was ich tue, beteiligt sein kann. Dabei möchte ich das „was-ich-tue“ nicht nur auf mein aktives Tun, z.B. Körperbewegungen oder das Singen beschränken, sondern dieses lässt sich auch auf Dinge, die mit mir getan werden (z.B. Massage) oder Vorgänge wie das Lauschen oder Atmen, erweitern.
Nehmen wir ein Beispiel um die vier Qualitäten zu verdeutlichen. Ich öffne und schließe meine Hand zu einer Faust. Je nachdem, wie sehr ich an diesem Vorgang beteiligt bin, scheint die Bewegung eine ganz andere Dimension zu haben. Zunächst kann ich meine Hand öffnen und schließen und gleichzeitig mit meiner Aufmerksamkeit bei etwas ganz anderem sein, z.B. beim Abendessen, das ich später kochen möchte. Diese Stufe des Bewusstseins nenne ich das „unbewusste Tun“. (vgl. auch MIDDENDORF, „Der erfahrbare Atem“)
Als zweite Möglichkeit kann ich meiner Hand ganz genaue Anweisungen geben, was sie tun soll. Im Prinzip – von der Komplexität des Muskelzusammenspiels selbst einer so einfachen Bewegung mal abgesehen – kann ich versuchen meine Muskulatur bewusst zu benutzten. Diese Qualität nenne ich das „willentliche Tun“.
Den dritten Bewusstseinszustand nenne ich das „beobachtete Tun“. Ich lasse meine Hand sich öffnen und schließen, z.B. um etwas zu greifen, und beobachte dabei genau was geschieht.
Die vierte Ebene, die für meine Arbeit und die damit verbundene natürlich-intuive Entwicklung der Stimme besonders wichtig ist, nenne ich das „Mitschwingen“ bzw. „Anwesend sein“. Meine Hand öffnet und schließt sich und ich vollziehe die Bewegung mit meinem ganzen Sein mit.
Ich möchte, vor allem im Hinblick auf die Stimme und das Singen, die vier Aufmerksamkeitsebenen genauer beschreiben, denn wir bewegen uns stets zwischen all diesen. Jede Ebene hat ihre besonderen Eigenschaften und ihren Sinn. Je nachdem, auf welcher Stufe wir z.B. eine (Stimm-)Bewegung erlernen, lagert sie sich an einem anderen Ort in uns selbst ab und verknüpft sich anders mit anderen Dingen, die wir wissen oder erfahren haben.
Das unbewusste Tun
Wir tun jeden Tag tausende Dinge unbewusst. Wir atmen, wir bewegen uns fort, wir gehen Alltagsroutinen nach. Würden wir alle Dinge, die wir tun, bewusst wahrnehmen, wäre unser Hirn bald überfordert. Deshalb ist es gut, dass viele Dinge automatisch, also ohne Beteiligung unseres aktiven Bewusstseins ablaufen. Wir brauchen uns keine Gedanken machen, ob wir als nächstes ein- oder ausatmen müssen. Unser motorisches System hat komplexe Abläufe, wie z.B. das Gehen, zusammengefasst. Nur so ist es möglich sich überhaupt fortzubewegen. Würden wir versuchen, die Bewegung „gehen“ aus Einzelteilen zusammenzusetzen, würden wir nicht einen einzigen Schritt voran kommen.
Allerdings hat das unbewusste Tun einen entscheidenden Nachteil. Auf dieser Stufe unseres Bewusstseins ist Lernen unmöglich. Möchten wir neue Bewegungsabläufe oder ähnliches lernen, müssen wir uns auf eine höhere (oder tiefere, je nach Sichtweise) Stufe des Bewusstseins begeben. Um Lernen zu können, müssen wir wahrnehmen.
Das willentliche Tun
Auf dieser Stufe geht es vor allem um eines. Bewegungen und Vorgänge in Einzelteile zu zerlegen, immer weitere Details zu verstehen und noch differenzierter zu steuern. Unser Bewusstsein ist hellwach. Es gibt Befehle und überwacht, übt Kontrolle aus und regelt Abläufe. Beim Tanzen oder beim Singen lerne ich, wenn ich mich auf dieser Stufe der Aufmerksamkeit befinde, welche Muskulatur wann und wie an einem Bewegungsablauf beteiligt ist. Das gibt mir die Möglichkeit, im Falle eines Problems – vorausgesetzt ich schaffe es, das Problem so genau zu analysieren, dass ich weiß, wo es hakt – direkt Konsequenzen für mein Handeln zu ziehen. Der Verstand ist dabei das wichtigste Bewusstseinsinstrument.
Doch denken wir an das oben beschriebene Beispiel des Vorgangs „gehen“, so geraten wir schnell in Schwierigkeiten, wenn es um komplexe Bewegungsabläufe, wie das Singen geht. Dazu kommt, dass ich mein Instrument nicht herausnehmen und von allen Seiten anschauen kann, um wirklich alle beteiligten Komponenten zu begreifen. Wir sind keine aus technischen Einzelteilen zusammengebaute Maschine und alle am Singen beteiligten Faktoren kann ich niemals erfassen. Dennoch gibt es viele Gesangsmethoden, die genau das versuchen. Ziel des Lernens ist dann, möglichst viele Details zu kennen, benennen und kontrollieren zu können. Im Gegensatz zum unbewussten Tun, bin ich auf dieser Aufmerksamkeitsstufe sehr wohl an dem, was ich tue, beteiligt. Allerdings nicht direkt involviert, sondern als außenstehender Lenker und Denker. Ich sehe mich nur insofern in Beziehung zur durchgeführten Handlung, als dass ich steuere, befehle und korrigiere.
Das beobachtete Tun
Es gibt jede Menge Bewegungsabläufe, die sich, wenn ich mich nicht einmische, zum großen Teil selbst regulieren. Das Singen gehört mit Sicherheit dazu. Wenn ich mich zurücknehme und nicht versuche zu manipulieren, können sich einige Muskelabläufe viel feinmotorischer ordnen. Ich, der Sänger, kann die Dinge sich selbst überlassen und Beobachter, Zuschauer sein. Damit bin ich nicht Teil dessen, was geschieht, sondern stehe zu einem gewissen Maße außen vor. Durch Impulse von außen wird mein System angeregt und ich beobachte, was geschieht. Auf eine Stimulation folgt eine Reaktion. Aus einer Ursache ergibt sich eine Wirkung. Ich höre, dass sich der Klang verändert oder dass ein Ton leichter zu erreichen ist. Ich kann meine Wahrnehmung schärfen und ein immer genauerer Beobachter werden. Ich lerne, die Aktivität meiner groben Muskulatur auf ein Minimum zu beschränken. Ich lerne, welcher Stimulus zu welcher Wirkung führt, und nach und nach erwerbe ich auf diese Weise immer mehr Handwerkszeug, das ich baukastenmäßig benutzen kann, wenn ich es brauche. Ich bewerte das, was ich höre, sehe und spüre mit „richtig oder falsch“, „Erfolg oder „Misserfolg“. Ich kann aus dem, was ich beobachte, Konsequenzen ziehen. Mein Kopf ist wach.
Mitschwingen
Wir stehen am Strand und schauen aufs Meer. Die Wellen rollen unablässig gegen das Ufer. Immer wieder. Eine rollend-schwingende Bewegung zeigt sich mir. Innerlich beginne ich, wenn ich eine Weile so in die Wellen geschaut habe, die Bewegung mitzuvollziehen. Ich denke nicht: „Jetzt kommt die Welle wieder, jetzt geht sie wieder, jetzt bäumt sie sich auf, jetzt beruhigt sie sich.“ Sondern ich beginne mit der Welle zu schwingen. In mir stellt sich eine ebenso gleichmäßige, rollend-schwingende Bewegung ein. Genauso ist es bei einem Tennisspiel. Irgendwann folgt mein Kopf der Bewegung des Balls intuitiv. Ich denke nicht darüber nach. Ich schwinge mich ein in den Rhythmus des Spiels. Ich erlebe, ich nehme wahr.
Genauso erlebe ich den idealen inneren Zustand, wenn ich mich ganz dem Singen und Üben (!) überlassen kann. Ich lasse meinen Kopf immer mehr zur Ruhe kommen, bis ich ganz anwesend sein kann im Tun, wie im Loslassen. Ich „beobachte“ nicht meinen Atem oder meine Stimme, sondern ich schwinge mit. Ich lasse mich tragen von der inneren Welle. Ich empfinde körperlich mit, spüre Dynamik, Spannung, Entspannung oder Druck. Ich lehne mich an eine Bewegung oder den Klang meiner Stimme an oder lasse mich hinein gleiten. Ich bin Teil dessen, was geschieht. Ich bewerte nicht, reflektiere nicht einmal. Ich akzeptiere und nehme an, was mir begegnet. Erst wenn ich die Erlebnisebene verlasse, kann ich versuchen das, was ich erlebt habe, in Worte zu fassen. Selten wird es mir gelingen.
Und dennoch kann ich auf dieser Ebene lernen. Ich lerne nicht abprüfbares Wissen oder detaillierte Einzelheiten. Ich lerne im Zusammenhang. Vor allem im Zusammenhang mit mir. Ich lerne absolut individuell. So, wie ein Kind lernt. Wie ein Kind lernt, nach und nach die Welt zu begreifen. Es beschäftigt sich mit den Dingen. Es erlebt. Es spielt. Ein Kind vertieft sich voll und ganz in das, was es tut. Wenn ich mich auf diese Ebene begebe, lerne ich nicht auf ein Ergebnis hin. Ich habe weder Wünsche noch Ziele. Ich bin neugierig und forsche mit dem, was mir spannend erscheint. Allerhöchste innere Aufmerksamkeit ist gepaart mit einem gewissen Maß an Unschärfe. Ich sehe oder höre nicht nur, sondern nehme komplex auf vielen Ebenen gleichzeitig wahr. Emotionales Erleben ist dabei genauso Teil des Lernprozesses wie das Entdecken von körperlichen Zusammenhängen. Persönliche innere Bilder und Assoziationen sind gleichermaßen Teil des Verstehens wie sensomotorische Information.
Im Gespräch mit der Schülerin habe ich vor allem versucht deutlich zu machen, dass „Beobachten“ für mich etwas ganz anderes ist als „Wahrnehmen“. Das ist nach der Beschreibung der vier Bewusstseinsqualitäten sicher deutlich geworden. Wichtig ist mir dabei noch zu sagen, dass das Wahrnehmen beim Singen für mich eine starke körperliche Komponente hat. Sie hat mit dem Spüren der eigenen Körperlichkeit und, wie ich es gern nenne, „Fleischlichkeit“ zu tun. In unserer kopfdominierten Welt fehlt vielen Menschen eben dieser körperliche Zugang zu sich selbst, der jedoch elementar mit dem Gefühl verknüpft ist, sich wirklich durch und durch lebendig zu fühlen. Davon kann das Singen nur profitieren.
Viel Freude beim Öffnen der verschiedenen Bewusstseinstürchen wünscht
Anna Stijohann