Das magische Knistern

Als Kind lag ich oft in meinem Bett und habe in die Stille gelauscht. In meinen Ohren gab es manchmal ein Knistern. Ein inneres Rauschen, hell und wohltuend, das mich immer noch intensiver lauschen ließ. Ich fragte mich, ob andere Menschen das auch hören? Es war ein bißchen wie mein kleines Geheimnis mit mir selbst. Wie, als könnte ich mit etwas Kontakt aufnehmen, das in mir und gleichzeitig mit allem verbunden ist. So kann ich das heute rückblickend mit erwachsenen Worten beschreiben. Nun arbeite ich jeden Tag mit diesem Knistern, wenn ich selber singe, Gesang unterrichte oder innerlich auf der Suche nach Stille bin.

Ein knisterndes Chorwochenende

So auch am vergangenen Wochenende. Ich war zum Chorwochenende eines Schüler-Eltern-Lehrerchores eingeladen, mit dem ich in der Vergangenheit schon einige Male zum Thema Atemtypen und anderen Stimmbildungsthemen gearbeitet habe. Der Chor ist sehr mutig und neugierig und die Arbeit macht große Freude. Diese Mal hatte ich mir vorgenommen, mit den Sängern am „Knistern“ zu arbeiten und so den Chorklang, die Intonation und die Modulationsfähigkeit der Stimmen zu stärken. Durch meine geschätzte Lehrerin ALEXANDRA NAUMANN kam ich im Rahmen meines Studiums in Berührung mit der Lichtenberger® Methode nach Gisela Rohmert und konnte durch die Recherche für meine Examensarbeit 2008 und immer wieder im Austausch mit Kollegen meine Kenntnisse auf diesem Gebiet vertiefen.

Aber worum geht es dabei eigentlich?

Die Theorie dahinter

Die Sängerin und Stimmforscherin GISELA ROHMERT erforscht am Lichtenberger Institut seit langem die Entwicklung der menschlichen Stimme, vor allem unter dem Aspekt der klanglichen Selbstregulation. Im Rahmen ihrer Forschung und auch in Zusammenarbeit mit dem Hörforscher ALFRED TOMATIS entdeckte sie die sogenannten „Gesangsformanten (GF)“. Diese Obertongruppen – ihre Frequenz liegt bei etwa 3000 HZ (weitere bei 5000 oder 8000 HZ) – zeigen sich unabhängig von Tonhöhe und Vokal im Klang frei schwingender Stimmen und haben außergewöhnliche Fähigkeiten. Im Sinne der Synergetik können diese GF als Ordner wirken. Über Rückkopplungsmechanismen zwischen Ohr und Stimme können die hochfrequenten Teiltöne eine klangliche Selbstregulation bewirken. Die Forscher fanden heraus, dass unser Gehirn hochfrequente Klänge bevorzugt. Die Ursache dafür liegt vermutlich darin, dass wir, wenn wir uns noch im Mutterleib befinden, wie durch einen Hochpassfilter hören. Knistern und Rauschen sind neben den bassigen Herztönen der Mutter die dort vorherrschenden Geräusche. Das Gehirn des erwachsenen Menschen reagiert auf solche Klänge mit Wohlfühl- und Entspannungsinformation an den ganzen Körper. Das Nervensystem wird ausbalanciert, der Körper eutonisiert und wir werden schwingungs- und damit klangfähiger. Dadurch wird unsere Stimme zu einem reicheren Obertonspektrum angeregt, noch mehr hohe Frequenzen werden hörbar und eine Art Selbstläufer in Bezug auf die Stimmbalance wird in Gang gesetzt. Die GF in der menschlichen Stimme entstehen durch eine sehr feine Schleimhautschwingung auf den Rändern der Stimmlippen und werden in der Eustachischen Röhre verstärkt.

Die Klangwelt rückt näher zusammen

Die Tatsache, dass die GF unabhängig von der Tonhöhe immer im gleichen Frequenzbereich auftreten, sorgt beim Singen für das Gefühl, dass es etwas wie ein stetig präsentes Kontinuum gibt. Tonsprünge verlieren ihren Schrecken und die Stimmfarbe behält über alle Registerübergänge hinweg ihren ganz eigenen und kontinuierlichen Klang. Typisch ist z.B. nach einigen Knister-Übungen die Frage: „Jetzt sind wir aber tiefer als vorher, oder?“

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das sogenannte Nahohr-Fernohr-Prinzip. Demnach verfügt jeder Mensch über ein Nahohr und ein Fernohr. Über das Nahohr nehmen wir Klänge etwa im Radius von anderthalb Metern um uns herum wahr. Dabei ist unser Gehirn vor allem auf höhere Frequenzen konzentriert und kann diese auf dem Nahohr besonders gut wahrnehmen. Über das andere Ohr hören wir Klänge, die weiter als anderthalb Meter von uns entfernt sind und bassiger klingen. Am deutlichsten kann man den Unterschied in einem menschengefüllten Raum hören (z.B. in einem Bahnhof).

Als kleine Übung im Sinne der Selbstregulation durch die GF können wir folgendes probieren. Wir singen eine Phrase oder auch eine längere Liedpassage. Zunächst ohne an irgendetwas besonders zu denken. Dann wiederholen wir die gleiche Passage, knistern direkt neben einem unserer zwei Ohren aber während wir singen z.B. mit einem Papier oder betätigen einen Regenmacher oder etwas anderes, was ein hochfrequentes Rascheln/Zirpen/Reiben von sich gibt. Wir wiederholen diesen Vorgang mit dem anderen Ohr. Bei den allermeisten Menschen wird der Effekt auf den beiden Seiten sehr unterschiedlich sein. Das Prinzip kann man sich außerdem beim Singen zunutze machen und im Chor auf diese Weise seine Lieblingssitznachbarn positionieren.

Knistern hoch fünfzig

Soweit die Hintergründe. Ich hatte mir also letzte Woche für die Arbeit mit dem Chor vorgenommen, die GF einzuladen um die Selbstregulation der Stimmen voranzutreiben. Dabei habe ich mich im Wesentlichen auf die, bereits in meinem Artikel „Ohren auf!“ beschriebenen Vorgehensweisen konzentriert. Lauschen nach innen. Summen und Singen mit geschlossenen Ohren und ein inneres Aufspüren von geräuschhaften Anteilen im Ton, waren der erste Schritt der kleinen Übungsreihe. Insgesamt ist es für die Arbeit mit den GF im Grunde erstmal unwichtig, ob die hochfrequenten Klänge in den Stimmen selbst auftauchen oder ihnen „von außen zugefügt werden“. Summen auf stimmhaftem sss im Wechsel mit verschiedenen Vokalen sorgt zum Beispiel dafür, dass das Knistern – so nenne ich die GF im alltäglichen Gebrauch – nach und nach auch in den Vokalen auftaucht. In einer Gruppe kommt noch hinzu, dass sich gegenseitiges Knistern verstärkt. Meine lockere Aufmunterung für den Chor, dass die Übung aufgrund des Selbstläufereffekts mit Sicherheit gelingen würde, solange nur irgendjemand im Raum ein kleines bißchen knistere, sorgte zunächst für Schmunzeln. Dass sich die Arbeit mit den hohen Frequenzen in einer Gruppe von 50 Menschen aber so stark potenziert, stellte sich erst im Laufe des Tages heraus und überraschte wohl alle Teilnehmer, mich eingeschlossen.

Sternenstaub

Meine Lehrerin in der Hochschule nannte das „Knistern“ den „Sternenstaub auf der Stimme, die den Zuhörern Gänsehaut macht, ohne dass diese wissen, woran das liegt“. Eine wunderschöne Beschreibung, die es meiner Meinung nach, ziemlich auf den Punkt bringt. Nicht umsonst sagen wir, dass uns bestimmte Klänge „unter die Haut gehen“. Und in der Tat hat das Auftauchen der GF viel mit dem Empfinden und Wahrnehmen von Vibrationen zu tun. Manchmal scheint es mir, als könne man kaum selber zwischen eigener kinästethischer und auditiver Wahrnehmung unterscheiden. Das Wahrnehmen von Resonanz am eigenen Körper, aber auch z.B. mithilfe eines Luftballons (vgl. Ohren auf) spielt für das Locken des Geknisters deswegen eine wichtige Rolle. Bei meiner Arbeit mit dem Chor sorgte die Luftballonübung in einer Variation für einen umwerfenden Chorklang. Immer zwei Sänger unterschiedlicher Stimmen berührten dabei jeweils mit einer Handfläche den Ballon und sangen jeweils ihren eigenen Part an den Ballon. Das gleichzeitige Lauschen und Spüren der eigenen und anderen Stimme brachten den Chor wirklich zu einem unfassbar dichten und wahrhaft vibrierenden Klang. Ich war in diesem Moment nur Zuhörer und konnte nach dem Ende des Stückes dennoch ganz deutlich spüren, wie meine Handflächen kräftigst kribbelten.

Das geniale Butterbrotpapier

Eine direkte Kopplung der kinästethischen Wahrnehmung und dem „Knistereffekt“ ist bei der Butterbrotpapier-Übung zu spüren. Die Sänger erhalten jeder ein Stück Butterbrotpapier (z.B. 3 x 10cm). Sie legen das Papier locker an die Lippen und singen gegen das Papier. Das Prinzip ist das gleiche, als wolle man „auf dem Kamm blasen“. Es kommt durch die Vibration in Schwingung und erzeugt ein schnarrend schepperndes Geräusch, wie bei einem Kazzoo. Am besten geht das auf dem Vokal [u] und in der oberen Mittellage. Mit ein bißchen Übung kann das Papier bei allen Tönen – hoch, tief, laut, leise – kräftig mitvibrieren. Lässt man den ganzen Chor auf dem Butterbrotpapier singen, entsteht zunächst große Verwirrung, weil der Geräuschanteil der Töne so präsent ist. Nach und nach pendelt sich die Intonation aber ein und es bleibt beim anschließenden Singen ohne Butterbrotpapier eine obertönig-lauschende Grundhaltung der Sänger zurück, die zu einem mühelosen, natürlichen und gleichermaßen total präsenten Klang führt. Die Stimmen scheinen durch das obertonorientierte Hören und die aktive Anregung der GF durch das scheppernde Papier „bindungsbereiter“ und beweglicher zu sein. Sie finden ihren Weg ohne Umweg ins Herz des Zuhörers und sorgten am vergangenen Wochenende bei Sängern, Chorleitern und Zuhörern für tiefe Berührung und Intensität, die keiner weiteren Worte bedurfte.

Die Mail einer Teilehmerin

Als Antwort auf meine Arbeit mit dem Chor schickte mir eine der Sängerinnen einige Tage später eine Email.

„Liebe Anna!
(…)
dieses Wochenende ist mit uns allen etwas passiert, was ich noch nie erlebt habe.
Wir waren ja schon so hochkonzentriert sensibel, als Du noch da warst. Nach Deiner „Oberton“-Therapie. Mit all dem Knistern und dem Sternenstaub. Du hast es ja selber noch mitbekommen.
Und am nächsten Tag war es nicht anders. Mir liefen die Tränen, ohne jeglichen Impuls, sie wegzuwischen. Ich habe noch nie so eine „Dichte“ beim Musik machen gefühlt, wie nach diesem Tag mit Dir. Ich weiß nicht, was Du tust und wie Du das machst, Du Zauberin… Aber es war alles anders danach.
„Bloß weil wir durch ein Butterbrotpapier geblasen haben…“ (…)“

Wie eingangs dieses Artikels aus meiner ganz persönlichen Perspektive geschrieben und auch aus der Mail der Teilnehmerin gut herauszulesen, handelt es sich bei der Arbeit mit dem Knistern, die auf den ersten Blick so harmlos und simpel erscheint, um absolut tiefenwirksame Stimmarbeit. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich weg vom Tun, hin zum ureigenen Klang, der es erlaubt uns wirklich zu zeigen. Das kostet durchaus etwas Mut. Auch körperliche Blockaden und seelische Spannungen können sich beim Lauschen auf das Knistern und die Konzentration auf das eigene Vibrieren und schwingen bei dieser Arbeit lösen und sich in Form von Tränen oder ausgelassener Freude entladen. Das harmlose Knistern, das auf den ersten Lauscher, mit dem Zirpen von Grillen oder Summen anderer Insekten vergleichbar ist, verbindet uns mit unserem eigenen inneren „Sternenstaub“ und ist somit höchst persönlich.

Knisternde Klänge, die unter die Haut gehen, wünscht

Anna Stijohann