Spielzeug zum Singen

In meinem Unterricht und auch mit Gruppen und im Chor arbeite ich viel mit Spielzeugen. Bälle aller Art, Luftballons, Butterbrotpapier, Strohhalme, Tassen, Gummibänder, Schwingbretter, Balancierbalken, Tücher uvm. sorgen nicht nur für Spaß und Ablenkung beim Singen, sondern erfüllen verschiedene, wichtige Aufgaben in meiner Idee von „Singenlernen“.

Spielen gegen die Ernsthaftigkeit

Wer spielt ist nicht unter Leistungsdruck. Singen und Singenlernen unter Druck kann meiner Meinung nach nicht gelingen. Wir brauchen unsere eigene Freude und Neugier am Tun, sonst können wir nichts Neues lernen. (vgl. Wieviel muss ich üben?)

Erwachsene Menschen sind es kaum mehr gewohnt zu spielen, aber sobald wir nicht nur eine spielerische Aufgabe haben, sondern einen konkreten Gegenstand, können wir uns dem Spiel kaum entziehen. Bälle und Ballons sind da vielleicht das beste Beispiel. Und ein Großteil der Spielzeuge, die ich im Unterricht verwende, haben einen weiteren Vorteil. Sie regen vor allem zu körperlichem Spiel an.

Spielen heißt oft „körperlich“ sein

Einen Ball zu werfen oder einen Ballon mit dem Fuß zu schieben, an einem Gummiband zu ziehen oder mit einem Tuch in der Luft zu wedeln, sind ganzkörperliche Vorgänge. Sie bringen den Schüler weg von den Aufmerksamkeit im Hals hin zu einer ganzkörperlichen Wahrnehmung. Ein wichtiger Schritt hin zum Singen mit dem ganzen Körper und dem Erleben dessen als unser Instrument. Größere körperliche Bewegungen lassen außerdem Bewegungsdynamiken besser begreifen. Fürs Singen unbedingt nötige Elemente wie „Schwung“, „Spannung und Entspannung“, „Dynamik“ oder „Schwingen“ sind so konkreter wahrnehmbar und später auch in kleinerem Radius wieder abrufbar. Der Körper lernt eben körperlich und Singen ist für mich, selbst wenn wir eine Ballade singen und dabei nahezu still stehen, ein durch und durch körperliches Phänomen.

Selbstregulation

Ein weiterer wichtiger Aspekt meiner Arbeit mit Spielzeugen ist das – meiner Arbeit in fast allen Aspekten zugrunde liegende – Prinzip der Selbstregulation. Ich glaube nicht an den nachhaltigen Erfolg manipulativer Gesangstechnik im Sinne von „du musst diese Muskeln anspannen, dann geschieht das“, „das Gaumensegel muss jenes tun“, „Stütze bedeutet…“, „bei diesem oder jenem Vokal musst du das und das tun, damit…“

Das habe ich ja schon in vielen meiner vergangenen Artikel beschrieben. Stimmliche Selbstorganisation geschieht durch Anregung von außen. Das System Stimme wird durch eine „Energiezufuhr“ destabilisiert, also aus seinen gewohnten Mustern gehoben. Aus dieser vorrübergehenden Unordnung entsteht durch stimm- und körpereigene Ordnungsmechanismen, nach einer Weile eine neue, höhere Ordnung. Die Stimme gewinnt je nach Anregung an Leichtigkeit, Klangfülle, mehr Tonumfang, Klangfarbenvielfalt, Dynamik und mehr Ausdrucksfreiheit. Selbstregulation kann durch Anregung auf verschiedenen Ebenen aktiviert werden. Dazu gehören der Atem (z.B. Prinzip Einatmer/Ausatmer), das spürende Erleben von Resonanz, obertöniges Hören, die kinästetische Wahrnehmung (Körpersinn/Faszienarbeit) und die Emotion.

Spielzeug als Atemanregung

Weil Selbstregulation immer dann am Besten funktioniert, wenn wir ganz in einer Sache aufgehen und uns mit unserem rationalen Verstand nicht einmischen, sind Spielzeuge hier am richtigen Platz. Zunutze machen können wir uns hier vor allem Reflexe und unbewusste Zusammenhänge von Stimme, Atem und Körper.

Nehmen wir einen Ball als erstes konkretes Beispiel. Wenn wir einen Ball mehrere Male in die Höhe werfen und dann wieder auffangen, können wir erleben, wie unser Atemrhythmus sich dieser Bewegung anpasst. Das Hochwerfen begleitet unser Körper mit dem Einatem, beim Herunterfallen strömt der Atem aus. Dieses sehr einfache Prinzip aktiviert auf spielerische Art und Weise die Ein- bzw. Ausatemmuskulatur und das kann ich mir beim Singen zunutze machen. Probieren wir doch mal aus, wie das Singen leichter ist. Beginne ich meine gesungene Phrase mit dem Hochwerfen des Balls, nutze ich die Dynamik der Einatemmuskulatur für die Stimme und der Atem strömt von selbst wieder ein, wenn der Ball wieder runterkommt. Singe ich mit dem Fallen (oder auch z.B. mit dem Prellen des Balls auf dem Boden), nutze ich die Dynamik des Ausatemrhythmus für die Stimme. (vgl. Anlehnen an den Atem und Tun und Lösen)

Ähnlich, nur etwas subtiler verhält es sich, wenn ich wiederholt einen Luftballon in die Luft stubse. Auch das Rechts- und Links- oder Vor- und Zurückschaukeln auf einem Schwingbrett regt die stimmliche Selbstorganisation durch den Atem an.

Resonanz erleben

Mein liebstes Spielzeug um ein ganz konkretes Gefühl für Resonanz zu bekommen, sind Luftballons. Halte ich einen aufgeblasenen Luftballon etwa 5-10 cm vor meinen Mund und spreche, töne oder singe, kann ich an meinen Händen spüren, wie der Ballon vibriert. Für viele Menschen ist das ein absolutes Aha-Erlebnis. Meine Stimme bringt den Ballon zum Schwingen, manche Töne oder Vokale mehr als andere. In Gruppen oder im Chor lasse ich nachdem jeder für sich mit seinem Ballon eine Weile ausprobiert und gesungen hat z.B. dann zwei Menschen aus unterschiedlichen Stimmen an einen Ballon singen, während beide jeweils eine Hand an den Ballon legen. Zusammenklang könnte nicht greifbarer und anschaulicher sein. Die Stimmen verbinden sich klanglich in beeindruckender Weise. Balancieren sich in ihrer Lautstärke und Klangfarbe und stärken sich gegenseitig in ihrer Intonation. Schon häufig ist es dadurch passiert, dass ein Chor oder Ensemble, das zuvor stark mit dem Absinken der Tonhöhe zu kämpfen hatte, wunderbar sauber und ganz ohne Sinken singt. (vgl. Intonation und Zusammenklang im Chor)

Hörwahrnehmung verändern

Dass das Lauschen auf Obertöne anstatt der Fixierung auf Grundtöne eine selbstregulierende Wirkung auf die Stimme hat, habe ich unter anderem in meinen Artikeln Das magische Knistern und Ohren auf! beschrieben. Dort ist auch die Anwendung von Butterbrotpapier zum Knistern oder zum „darauf tröten“ beschrieben. Eine verblüffende und gleichzeitig sehr einfache Anregung zur stimmlichen Selbstorganisation durch die Veränderung der Hörwahrnehmung kann man mithilfe einer gewöhnlichen Kaffeetasse/Becher erzielen. Wie ein Megaphon halte ich die Tasse dicht vor meinen Mund und spreche, töne oder singe hinein. Der Klang ist blechig und hohl. Das mache ich eine Weile und merke, dass das Singen recht leicht geht. Vor allem Übergangsprobleme und unausgewogene Registermischungen sind einfach kein Thema mehr, weil sie durch den veränderten Stimmklang kaum mehr wahrnehmbar sind. Zuviel Druck auf der Stimme reguliert sich, weil der Sänger das Gefühl hat „es kommt ja was zurück“. Die Auswirkungen des Tassensingens sind von Mensch zu Mensch und je nach persönlichen Stimmbaustellen sehr unterschiedlich. Der Eine empfindet, das der Atem nun mehr fließt, der Andere hat das Gefühl, plötzlich mehr nach innen zu singen und nimmt die eigenen inneren Resonanzräume im Kopf viel mehr wahr.

Einfach mal ausprobieren! 🙂

Körpersinn aktivieren

Unser Körper verfügt über eigene Sinneszellen, vornehmlich in den Faszien, die permanent dem Gehirn rückmelden, wie und wo wir uns im Raum und in der Schwerkraft befinden. Sobald wir uns auf die Ebene der Wahrnehmung – insbesondere von Raum, Gewicht und Balance – begeben, wird die Stimme so ebenfalls zur Selbstregulation angeregt. Schaffen wir es, unsere Stimme an eben jenes Körpergefühl anzuhängen, können wir sehr konkret erleben, wie sich „ganzkörperliches Singen“ anfühlt. Wir werden zum Klangkörper und können unsere Stimme an unsere eigene innere Körperstruktur (Muskulatur, Faszien, Knochen) anlehnen. (vgl. Singen im freien Fall). Ich nutze – abgesehen von Vorstellungsübungen und Übungen und Elementen aus der Faszienarbeit – auch hier verschiedenste Spielzeuge, deren Wirkung man sich kaum entziehen kann – z.B. kleine Faszienbälle zur Fußmassage.

Das Schwingbrett habe ich ja schon in verschiedenen Artikeln beschrieben. Es eignet sich hervorragend, um das eigene Körpergewicht und seine Verlagerung bewusst zu spüren. Weiterhin nutze ich schwere Bälle, Hanteln oder Reissäckchen. Versuchen wir z.B. mal ein Gewicht so langsam es geht mit der Hand vom Tisch hochzuheben. Wo ist der Moment, in dem ich wirklich das Gewicht spüre? Gibt es diesen Punkt auch beim Absetzen des Gegenstandes? Wie klingt meine Stimme, wenn ich diesen Punkt als Auslöser für einen Ton nutze?

Innere Spielzeuge/Spielideen

Habe ich gerade keine Spielzeuge zur Hand z.B. mit vielen Menschen im Chor oder auch einfach als Alternative oder um erste Transferleistungen anzuregen, arbeite ich mit vorgestellten Spielideen. Eine meiner liebsten Übungen dieser Art, ist die Flipperkugel. Eine imaginäre Flipperkugel kullert in meinem Becken oder auch im Brustkorb herum. An diese imaginierte Bewegung hänge ich meine Stimme. Mal frei tönend, aber auch mit konkreten Übungen z.B. Quintglissando. Was kann die Kugel alles für Bewegungen machen? Rollen, sich verlangsamen oder beschleunigen, stoppen, plötzlich losrollen, um die Ecke hüpfen. Für viele Menschen ist die Arbeit mit so einer Vorstellung sehr viel konkreter, als die Anweisung, einfach mal den „Brustkorb in Bewegung zu bringen“. So wird über bestimmte innere Spielzeuge das eigene Bewegungsrepertoire erweitert.

Eine weitere Übung aus dieser Kategorie ist der „Taucheranzug“. Angelehnt an unsere äußerste Faszienschicht (Bindegewebsschicht, die uns wie eine Tüte einmal komplett umschließt) stellen wir uns vor, wir bewegen uns in einem elastischen Ganzkörper-Taucheranzug. Recken, Strecken, Laufen usw. bekommen dadurch eine ganz andere Qualität. So können wir auch tönen oder singen.

Singen macht Spaß. Spielen macht Spaß. Die Dinge, die wir übers Spiel erleben, öffnen uns neue Horizonte und Stimmräume. Selbst schwierige Arien oder Lieder sollten uns nicht davon abhalten, uns neugierig und spielerisch unserer Stimme und der Musik zu nähern. Keine Angst, dass dadurch die Ernsthaftigkeit verloren gehen könnte; wenn wir spielen, sind wir meist besonders intensiv anwesend und das ist sicher die beste Voraussetzung für intensives Singen und Klingen.

Eine Muh, eine Mäh, eine Täterätätä und überhaupt eine spielerische Zeit wünscht,

Anna Stijohann