Richtig oder falsch

Wer mich kennt, weiß, dass ich mit den Begriffen richtig und falsch auf Kriegsfuß stehe. Das habe ich gefühlt in jedem zweiten meiner Blogartikel erwähnt. Heute morgen habe ich mich endlich mal wieder aufgerafft und bin Tanzen gegangen. Sprich, ich habe meinen Laptop eingepackt und bin ins STIMMSINN gefahren, wo ich viel Platz zum Bewegen habe und habe dort an einer Nia*-Zoomstunde teilgenommen. Und es tat so gut und hat mir bezüglich meines „Richtig und Falsch“ – Themas nochmal richtig Futter gegeben. Aber eins nach dem anderen.

Fehlerfrei schreiben

Mein Sohn lernt gerade Schreiben und Lesen. Er ist in der ersten Klasse und wie viele Kinder in Deutschland lernt er es mit der Methode „Schreib wie Du es hörst!“.
Sprich, schon sehr früh fangen die Kinder an ganze Sätze zu schreiben, sogar kleine Geschichten. Mit Wörtern, die sie in ihrem eigenen Sprachwortschatz finden, von denen sie aber keinen blassen Schimmer haben, wie man sie „richtig“ schreibt. Die Eltern sind explizit angehalten, die Kinder so wenig wie möglich beim Schreiben zu korrigieren.

Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von dieser Methode hörte, war ich bestürzt. Oh Gott, dachte ich, wie soll das gehen? Wie soll man da jemals fehlerfrei schreiben lernen? Als die Lehrerin letzten Sommer bei der Einschulung sagt, dass unsere Kinder nach dieser Methode lernen würden, musste ich erstmal tief durchatmen.

Wie geht es richtig?

Aber dann vor ein paar Wochen hatte ich ein spannendes Erlebnis. Unsere keineswegs zimperliche und gleichzeitig herzensgute Kinderfrau (71 Jahre, wir lieben sie heiß und innig und nennen sie manchmal liebevoll den „General“) sollte mit meinem sechsjährigen Sohn noch eine Homeschoolingaufgabe am Nachmittag machen. Als ich vom Einkaufen wiederkam, saßen die beiden am Schreibtisch und stritten sich lautstark: „Nein, das schreibt man so!!! Guckmal, k-l-e-tt-e-r-n!!! Mit zwei tt. Neee….“ Mein Sohn war den Tränen nah und völlig verwirrt. Er hat insgesamt eine sehr niedrige Frustrationstoleranz und ihn auf Fehler hinzuweisen bringt ihn sofort in Not. Wie ein störrischer Esel bewegt er sich dann weder vor noch zurück.

Knietief im Sumpf der Bewertungen

Ich habe unserer Kinderfrau dann erklärt, dass er in der Schule schreiben darf, wie er mag. Auch schwierige und lange Wörter. Sie war verwundert. Ein spannendes Gespräch entstand.

Ich erzählte ihr von meiner Arbeit und vom spielerischen Singenlernen – was im Endeffekt ja auch nichts anderes ist als Schreibenlernen – übers Experimentieren und Spüren.

In der Blitz-Erkenntnis, dass ich in meiner Arbeit ja ganz genau und sehr bewusst diesen Weg wähle und nicht die dualistische Welt von „richtig oder falsch“, konnte ich zum ersten Mal – nicht nur in meinem Kopf, sondern ganz und gar – verstehen, warum es sinnvoll ist, dass mein Sohn auf diese Weise Schreiben lernt. Und gleichzeitig wurde uns – dem General und mir – klar, wie tief die Strukturen von „richtig oder falsch“ in uns verankert sind. Egal wie offen und neugierig wir durch die Welt gehen, wir sind so sehr geprägt von einer Fehlerkultur, die alles betraft, was nicht der Norm entspricht. Unglaublich.

Ich tue, was ich (noch) nicht kann

Mein Sohn schreibt fröhlich schwierige Wörter ohne Angst. Und da wird es interessant. Er tut Dinge, die er eigentlich noch gar nicht kann. Weil ihm niemand gesagt hat, dass er erst lernen muss wie es richtig geht, bevor er es tun darf.

Dieses war der zweite Gedanke, der mir in dem Moment erst wirklich klar wurde. In so vielen Bereichen unserer Welt gibt es das unausgesprochene Gesetz, dass wir Dinge nur tun dürfen, wenn wir sie können. Wir dürfen erst unsere eigenen Geschichten schreiben, wenn wir wissen, wie man die Wörter richtig schreibt. Wir dürfen uns erst ausdrücken – ganz egal mit welchem Medium – wenn wir das Handwerkszeug beherrschen.

Und beim Singen steht uns dieses Gesetz sowas von im Weg!

Ich treffe auch schon die Töne

Vor einiger Zeit schrieb mir eine Dame eine Email mit der Anfrage für Einzelunterricht:

Insgesamt hatte ich ca. halbes Jahr Gesangsunterricht, (…) kaufte mir selber eine Stimmgabel und traf das A auch schon relativ zuverlässig. Meine Gesagsstunden sahen immer so aus: meine Lehrerin (…) saß am Klavier und wir „erarbeiteten“ uns Töne – ich kam auch schon relativ weit auf der Tonleiter 😉
Nun (…) suche [ich] wieder eine Gesangslehrerin, denn ich möchte das, was ich in einem halben Jahr erreichte, nicht wieder verlieren – es bedeutete auch Mut für mich, da ich weiß, dass ich die Töne idR nicht treffe. Alleine traue ich mich wieder nicht zu singen (…)“

Es bricht mir das Herz, wenn ich sowas lese.

TU ES!

Wir dürfen Dinge tun, die wir (noch) nicht können.

Unbedingt!

Wenn sie uns Freude machen, dann sollten wir das sogar ganz dringend tun!

Wie sehr beschneiden wir uns in unserem Ausdruck, in unserer Kreativität, in unserer Lebensfreude, wenn wir uns immer abhängig davon machen, ob wir etwas richtig machen. Nicht nur verlieren wir unseren ganz eigenen Zugang zur Sache. Wir sind auch immerzu von der Rückmeldung von Außen abhängig, die uns durch eine positive Bewertung die „Tat-Erlaubnis“ gibt. Wir nehmen uns die Chance, ein Gespür dafür zu entwickeln, was uns selber gut tut, was uns weiterbringt, was der nächste Schritt auf unserem Lernweg ist, wo unsere Freude und damit unser stärkster Lernmotor schlechthin liegt.

Tanzt um euer Leben!

Und da möchte ich noch einmal auf meine Nia-Tanzstunde von heute früh zurückkommen. Ich habe mein Leben lang getanzt und ich habe mich dabei sehr viel in der „richtig oder falsch“ – Welt (u.a. klassisches Ballett) bewegt. Aber bei Nia gibt es kein richtig oder falsch. Ja, es gibt eine Choreographie. Ja, man versucht als Teilnehmer*in diese Choreographie mitzutanzen. Aber es gibt überhaupt keinen Anspruch, dass man es richtig macht. Um es genauer zu sagen: Es gibt gar keinen Maßstab für das Richtigmachen. Es geht um die Freude am Tun und das Ausloten der Möglichkeiten. Die Kursleiterin gibt viele Impulse in der Stunde. „Spür Deine Vorderseite, wie willst Du Deine Arme bewegen, geh durch die verschiedenen Ebenen – Oben, Unten, Mitte, ich möchte euer Strahlen sehen, kleine oder große Bewegungen, was ist jetzt gerade für Dich richtig?“

Es geht immer um Möglichkeiten

Es geht um die Erfahrung. Das Erlebnis. Und das Ausloten der eigenen Möglichkeiten.
Und vielleicht ist das der wesentliche Unterschied zur „Richtig oder Falsch“-Welt, egal in welchem Zusammenhang. Im Vordergrund steht nicht ein Ideal. Ein Ziel. Die eine allgemeingültige Wahrheit.
Es geht um Möglichkeiten, das Dazwischen. Und in allererster Linie darum, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Damit ich mich besser ausdrücken kann. Damit sich mein Vokabular erweitert, damit ich mehr Gespür für das bekomme, was ich da tue und immer feiner wahrnehme, wie die Zusammenhänge sind.

Aber es sind eben meine Zusammenhänge.

Beobachten und Regeln erfassen

Und damit komme ich zurück zum Schreibenlernen meines stolzen Erstklässlers. Er schreibt mit Freude, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er drückt sich aus. Gleichzeitig liest er. Er erkennt Wörter in anderen Zusammenhängen wieder. Sieht auf dem Küchenkalender, dass Mittwoch mit zwei tt geschrieben wird. Er lernt Regeln wie „ein Hund – zwei Hunde“ – ach so, dass wird dann mit d am Ende geschrieben. Sein kreativer Flow und sein Mut Geschichten zu erfinden, wird dadurch keineswegs gebremst.

Und so möchte ich es auch beim Singen lernen mit meinen Schülern handhaben. Jeder darf sich so ausdrücken, wie es seinem jetzigen Lernstand entsprechend geht. Ich als Lehrerin gebe Impulse, lenke die Wahrnehmung, ermutige, lasse Zusammenhänge deutlich werden und ja, bin auch Vorbild.

Ästhetische Regeln

Damit keine Missverständnisse entstehen. Ich bin keineswegs dafür, jegliche ästhetischen Regeln und Formen sofort abzuschaffen und alle Klangideale über den Haufen zu werfen. Überhaupt nicht. Sie sind wunderbare Spielmöglichkeiten und haben sich in den allermeisten Fällen nicht grundlos entwickelt. Aber sie sind für mich eben auch nur Möglichkeiten. Sie können Ziel, Ansporn und Spiegel für mich sein und ich selber erlebe es immer wieder als lustvoll, mich z.B. mit einem bestimmten Klangideal oder einer Songgattung forschend auseinanderzusetzen. Aber in dem Moment, wo sich dadurch meine Ausdrucksmöglichkeiten nicht erweitern, sondern ich mich eingeschränkt fühle, lasse ich die Regeln früher oder später wieder los. Ganz einfach.

Selber tun und Verständnis in der Tiefe erwerben

Ich bemühe mich stets darum, dass meine Schüler nicht blind irgendwelchen Regeln folgen, die von außen kommen. Ich biete Erlebnisse an und ermutige sie ihre eigenen Regeln zu finden und vor allem deren Sinnhaftigkeit in der Tiefe zu verstehen. Im Spannungsfeld von „Selber tun“ und „beobachten“ (genau wie beim Schreiben und Lesen) erarbeiten sich die Schüler*innen ihre eigenen Handlungsspielräume und erweitern diese nach und nach. Das ermöglicht ihnen, vom ersten Moment an, wirklich selber etwas zu kreieren. Nicht nur nachzubauen.

Klar, die Bauanleitung für die Lego-Raumstation ist wichtig und es erweitert das eigene Repertoire enorm, dieser Bauanleitung einmal Schritt für Schritt zu folgen. Aber wie erschaffe ich dann etwas völlig Neues? Wenn ich nun nicht die Raumstation sondern eine Unterwasserstation bauen möchte?

Ich persönlich bin jemand, der gerne die Dinge in der Tiefe versteht um dann selber daraus etwas zu erschaffen. Ich mag z.B. Socken stricken. Und ja, die ersten 10 Mal musste ich jedes Mal meine Mutter anrufen und nachfragen, wie das mit der Ferse nochmal ging. Mittlerweile habe ich das Prinzip verstanden und kann Socken nicht nur in Größe 39, sondern auch in Größe 27 oder 43 stricken. Ganz ohne Bauanleitung und wenn gewünscht auch geringelt.

Ich weiß nichts und tue es trotzdem

Etwas in der Tiefe zu verstehen und die Fähigkeit selber etwas zu Kreieren hängen dicht zusammen. Und doch ist es möglich und absolut erlaubt, auch kreativ zu sein, wenn man nicht nur nicht weiß, wie es „richtig“ geht, sondern schlicht gar nichts weiß.

Ja. Das ist erlaubt.

Mit jedem Schritt den ich gehe, komme ich ein Stückchen voran.

Mit jedem Tun lerne ich.

Ich tue es, also kann ich es!

Das nährt das eigene Selbstbewusstsein und den Mut für den nächsten Schritt und den nächsten und den nächsten. Die Schritte mögen sich unbeholfen und ungelenk anfühlen. Aber sie zwingen uns, wirklich unseren eigenen Weg zu finden und nach und nach kann unser Tanz geschmeidiger und runder werden.

Das ist einer der Gründe, warum ich so viel mit Improvisation arbeite. Oh nein, Improvisieren kann ich nicht! Klar kannst Du. Weil es kein richtig oder falsch gibt. Weil Du es einfach nur tun musst. Ein Schritt nach dem anderen. Ein Ton nach dem anderen.
Und schon singst Du. Ob Du es kannst oder nicht.

Es kann sich glücklich schätzen, wer Vorbilder hat, an denen er sich orientieren kann und von denen er auf seiner Reise begleitet wird. Und ab und an dürfen diese Vorbilder auch mal anmerken, dass man „die“ mit ie schreibt. Aber wehe darunter leidet die eigene Abenteuerlust. Dann sollte man sich schleunigst andere Reisegefährten suchen.

In diesem Sinne wünsche ich einen fröhlich ungelenken Tag!

Anna

*Nia ist übrigens eine Sportart, die verschiedene Aspekte aus Tanz, Kampfkunst, Tai-Chi, Yoga und Körper-Awareness miteinander verbindet und sehr viel Freude macht. Wenn Du gerne tanzt, solltest Du das unbedingt mal ausprobieren.