Innere Arbeit und Stimme

Ich habe mich immer schon gern mit mir selber beschäftigt. Als Kind habe ich es genossen allein in meinem Zimmer zu sitzen und in meinen Gedanken spazieren zu gehen. Mir Dinge auszudenken und innere Zusammenhänge zu erforschen. Diese Innenwelten waren für mich schon immer genauso real und vertraut, wie das, was um mich herum stattfand.

Als Teenager merkte ich dann, dass sich innerlich auch Dinge und Angelegenheiten „verknoten“ können. Und dass meine inneren Strukturen direkte Auswirkungen darauf haben, wie ich mit der Außenwelt in Kontakt gehe. Es faszinierte mich, dass ich durch die Aufmerksamkeit nach innen meine Gedanken und Gefühle erforschen und dadurch Dinge in Bewegung bringen konnte.

Irgendwann als Studentin fiel mir das Buch „Der Weg des Künstlers“ in die Hände und ich begann jeden Morgen meine Gedanken zu Papier zu bringen. Vor allem in den herausfordernden Zeiten meines Studentenlebens (so ein Musikstudium bringt einen doch ziemlich oft an die eigenen Grenzen) war mir das Schreiben ein wichtiges Werkzeug um mich innerlich immer wieder zusammenzupuzzlen, mir selbst Mut zuzusprechen, mich auf das Wesentliche zu besinnen und neu auszurichten.

Öffne Dein Herz und singe!

Durch einen Workshop mit dem Titel „Öffne Dein Herz und singe!“ bei Nicole Nagel schlug sich für mich dann erstmals die Brücke zur Stimmarbeit. Die Kombination aus Emotionsarbeit, Körperarbeit und tschechischer Gypsymusik ließ mich sehr eindrücklich spüren, wie direkt diese Aspekte miteinander verknüpft sind. Stimme war nicht mehr nur musikalisches Mittel und Ausdruck meiner Emotionen, sondern wurde auch zum „Kontaktinstrument“ zu mir selbst. Übers Tönen konnte ich meine Emotionen vertiefen. Eintauchen in mein eigenes Unterbewusstsein. Emotionen wurden plötzlich körperlich erlebbar und die wunderbare Musik öffnete mir einen tieferen Zugang zu mir selbst.

Stimmbildung ist Persönlichkeitsbildung

Innere Arbeit und Stimmarbeit sind für mich seitdem untrennbar verbunden. Stimmentwicklung ist Persönlichkeitsentwicklung. Und die Beschäftigung mit den eigenen „inneren Baustellen“ bringt auch immer die Stimme voran. Wie oft hatte ich schon das Gefühl, dass ich gerade „stimmlich nicht auf der Höhe“ war. Es lief nicht rund, war mühsam, die Geschmeidigkeit fehlte. Und dann verbrachte ich die ein oder andere Stunde mit meiner wunderbaren Lehrerin (Sängerin, Schauspielerin, Rolferin, Traumatherapeutin) und schwupps, war meine Stimme wieder da. In vielen Stunden redeten wir hauptsächlich, spürten viel nach Innen, erforschten den Körper (und ich heulte eine Menge…) und am Ende war das Singen eine wahre Freude. Wie als wäre der Schleier, der vorher über der Stimme gelegen hatte, weggezogen. Alles konnte wieder in Resonanz gehen. Ich war wieder ganz und das zeigte sich auch in der Stimme.

Ebenen in Beziehung

Auch in meiner Ausbildung zum „natural voice – teacher“ (nach Renate Schulze-Schindler) und in der daraus erwachsenen Arbeitsweise mit meinen Schülern, spielt die Verknüpfung von Körperarbeit, innerer Arbeit und Stimme eine wichtige Rolle. Die Körperarbeit spiegelt unsere inneren Knackpunkte. Über die atemtypischen Körperübungen erleben wir innere Themen wie „Loslassen“, „Freiheit“ oder „Fokussierung“ ganz körperlich auf Muskel-, Faszien- und Gelenkebene. In den atemtypischen Massagen öffnet uns die Stimme den Weg zum Körper. Aus dem „Körper“ wird auf diese Weise nach und nach ein „Körper-Zuhause“.

Der Körper wird zum Gefäß für die inneren Bewegungen und Emotionen, die gefühlt und ausgedrückt werden möchten und für die vorher noch nicht ausreichend innerer Raum zur Verfügung stand. Der innere Fortschritt – das Gefühl immer wieder über sich hinaus zu wachsen und selbstbewusster zu werden – wirkt sich auf die Stimme aus. Die Stimme wiederum bringt die feinsten inneren Strukturen (körperlich und noch viel feiner) in Bewegung und ermöglicht uns den Zugang zu einem zutiefst erfüllenden Gefühl von Lebendigkeit. Alles steht in wechselseitiger Beziehung.

Lehrer oder Psychologe?

Im Gespräch mit Kolleg*innen ging es schon oft um die Frage: Wieviel Psychologe müssen wir als Gesangslehrer*in eigentlich sein? Inwieweit ist es unsere Aufgabe, unsere Schüler und Kursteilnehmer auch in ihrem inneren Wachstum zu unterstützen? Wie kann das gehen und wo bekomme ich als Gesangspädagoge mein Handwerkszeug her um das auch kompetent tun zu können? Wie können wir als Lehrer*innen einen sicheren Rahmen schaffen, in dem auch innere Themen angesprochen und bearbeitet werden können, ohne dass die Schüler*innen das Gefühl haben „therapiert“ zu werden? Welche Rolle spielt Körperarbeit dabei? Gibt es Stimmbildung ohne innere Arbeit?

Über diese Fragen streiten sich Gesangspädagogen immer wieder. Als Instrumentallehrer ist es etwas einfacher, sich von den inneren Prozessen der eigenen Schüler zu distanzieren. Das Instrument schafft einen gewissen Abstand und es scheint durchaus möglich, Musikunterricht am Instrument zu erteilen, ohne allzu viel innere Arbeit oder Körperarbeit zu tun. (Ob das sinnvoll ist und ob da nicht großes Entwicklungspotenzial verschenkt wird, sei mal dahingestellt.)

Stimme ist direkt

In der Arbeit mit der Stimme ist es schwieriger. Beim Singen sind wir das Instrument. Durch und durch. Und wenn unser Instrument verstimmt ist, nicht in Stimmung ist oder sich unfrei fühlt, werden wir auch so klingen. Der Kontakt von Person und Stimme ist ganz direkt. Und deswegen ist für mich persönlich ist ganz klar, dass stimmliche Entfaltung immer auch mit persönlicher Entfaltung einhergehen muss. Nicht alle Kollegen teilen da meine Ansicht. Es gibt durchaus die Ansicht, das innere Wachstum würde schon hinterherkommen, wenn erstmal die Technik läuft.

Und natürlich gibt es zwischen den zwei Extremen: „Ich bin Gesangslehrer*in. Wie Du Dich beim Singen und im Leben fühlst, geht mich nichts an.“ und „Alles Singen kommt von innen. Ich begleite Dich bei dem Prozess, Dir selber nah zu kommen und die Stimme wird folgen.“ mannigfaltige Abstufungen.

Jeder ist anders und braucht etwas anderes

Und jeder gute und einfühlsame Lehrer wird auch nicht jeden Schüler gleich behandeln. Der eine hat von allein einen guten Kontakt zu sich selbst und ihm fehlt eigentlich nur das Handwerkszeug, das was innen ist, im Außen hörbar zu machen. Die Andere hat vielleicht gar keinen Zugang zu sich selbst. Ist sich selbst, ihrem Körper und ihrer Stimme fremd und wundert sich, dass es in der Stimme starke Brüche, Anstrengung und Heiserkeit gibt.

Die eine geht permanent über ihre (stimmlichen) Grenzen, der andere traut sich auch im Leben nicht, seine eigene Stimme wirklich zu erheben und sich zu zeigen. Manchmal ist es sinnvoll dann die technischen Möglichkeiten zu erarbeiten sich auszudrücken um überhaupt ein Gespür dafür zu bekommen, wie es sein könnte, sich Gehör zu verschaffen. Und manchmal geht es darum, die eigenen Grenzen ganz allgemein erstmal wahrzunehmen und zu bemerken, dass es nicht nur beim Singen darum geht, die eigenen Ressourcen ökonomischer einzusetzen.

Den Werkzeugkoffer bestücken

Genau wie es auch auf der stimmtechnischen Seite viele verschiedene Ansätze gibt und ein Gesangslehrer individueller und flexibler unterrichten kann, je vielseitiger sein Werkzeugkoffer bestückt ist, so halte ich es für sinnvoll, wenn wir als Lehrer auch unsere Kenntnisse im Bereich Psychologie und innere Arbeit erweitern. Das ermöglicht uns, unsere Schüler wirklich dort abzuholen, wo sie sind. Und auch als Schüler, als Student, als Lernender macht es Sinn, nicht nur ein Repertoire an Gesangsübungen aufzubauen, sondern auch Handwerkszeug im Umgang mit sich selbst zu erwerben.

So wie mir als Studentin das Schreiben und später die atemtypischen Körperübungen die wichtigsten Tools zur Kontaktaufnahme mit mir selbst geworden sind, sollte jeder, der sich auf die Suche nach seiner eigenen Stimme macht, die Chance haben, auch seine eigenen Werkzeuge zu entdecken. Lehrer, Coaches, Meditation, Kurse, Bücher. Es gibt so viele Möglichkeiten der Inspiration. All diese Anregungen sind für die Stimmarbeit höchst wertvoll und der eigenen Entwicklung ohne Zweifel förderlich.

Tiefer

Schon seit einiger Zeit habe ich bemerkt, dass die Arbeit mit meinen Schülern und Kursteilnehmern immer tiefer geht. Das freut mich sehr, denn ich liebe es, in der Tiefe zu gründeln. Ganz egal in welchem Bereich. Ich genieße es, Räume zu öffnen, in denen Menschen sich selbst wirklich nah kommen und sich dann auch noch so sicher fühlen können, dass sie sich damit in einer Gruppe oder im Unterricht (stimmlich) zeigen können. In diesen Momenten bin ich selber sprachlos und zutiefst dankbar, dass mir offensichtlich dieses Talent geschenkt wurde, einen solchen Rahmen zu geben.

Am Anfang meiner Unterrichtstätigkeit war ich manchmal noch ängstlich. Kann ich das halten? Was soll ich tun oder sagen, wenn Menschen, die 20 Jahre älter sind als ich, plötzlich mit Emotionen konfrontiert werden, die sie sonst nur selten zulassen. Eine meiner Lehrerinnen sagte mir damals: „Mach Dir keine Sorgen. Du öffnest den Raum. Es wird sich nur das zeigen, was Du halten kannst.“ Das hat mir Mut gemacht, diesen Weg weiter zu verfolgen. Eigene Erfahrungen mit tiefgehender innerer Arbeit (u.a. SE (Somatic Experience) und ISP (Integrale Somatische Psychologie)) haben mich ermutigt, dass sich dieser Weg unbedingt lohnt und ich auch meinen Schülern immer mehr Zugang zu sich selbst ermöglichen möchte.

ISP (Integrale Somatische Psychologie)

Deswegen habe ich mich Anfang 2020 entschieden eine zusätzliche Ausbildung in ISP zu machen. Im Dezember ist diese Fortbildung nun endlich gestartet und wird sich über ein ganzes Jahr erstrecken. Frei übersetzt bedeutet ISP sowas wie „ganzheitliche, körperorientierte Psychologie“ und schon nach den ersten vier Ausbildungstagen weiß ich: Ich bin da sowas von goldrichtig! Nicht, weil ich umsatteln und nun rein therapeutisch arbeiten möchte. Nein, mein Zuhause ist die Arbeit mit den Stimmen und der Musik und das wird auch so bleiben.

Während der Fortbildung konnte ich feststellen, dass ich bereits intuitiv in ganz vielen Aspekten so mit den Menschen arbeite. Nun zusätzlich auch die wissenschaftlichen Hintergründe zu kennen und weitere Handlungsmöglichkeiten zu bekommen, fühlt sich wunderbar an.

Im Wesentlichen geht es im ISP um Emotionsarbeit. Unter Emotion verstehen wir dabei all das, was wir innerlich wahrnehmen, wenn wir mit der Welt in Kontakt gehen. Es sind alle Arten von inneren, körperlich wahrnehmbaren Bewegungen, die ausgelöst werden, weil wir bestimmte Dinge erleben. Es ist das, was die Welt mit uns macht.

Der innere Raum darf wachsen

Diese Emotionen wahrzunehmen, wirklich zu durchfühlen und nach und nach unsere Kapazität zu erweitern, diese auszuhalten und damit umzugehen, darum geht es. Ob es sich dabei um Emotionen handelt, die jetzt gerade mit der Situation, die wir erleben, zusammenhängen oder alte, nicht vollständig gefühlte Emotionen sind, die immer wieder Auswirkungen auf unser Leben haben, spielt dabei keine Rolle. Wir arbeiten immer im Jetzt. In diesem Moment. Und wir arbeiten mit dem, was sich allein durch unsere nach innen und auf den Körper gelenkte Aufmerksamkeit zeigt.

Vieles im ISP erinnert mich an die „natural voice“ – Arbeit, aber eben von ganz anderer Seite betrachtet. In den vergangenen Wochen konnte ich schon sehr beglückend mit meinen Schülern auf diese Weise arbeiten. Alle Arten von „Singängsten“ sind natürlich das naheliegendste, aber auch in der interpretatorischen Arbeit mit konkreten Songs und auch bei aktuellem Stress, der dem eigenen Singgenuss im Wege steht, konnte ich die ISP-Ideen anwenden. Wunderbar!

Schönheit von innen

Und am wunderbarsten ist es, dass die Stimmen so klar zeigen, wann wir mit uns selbst verbunden sind. Das war für mich in der Fortbildung fast befremdlich ?. Alle möglichen Therapeuten (Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Heilpraktiker und Osteopathen) und Coaches sind Teilnehmer der Fortbildung. Und nie ging es ums Singen. Dabei erlebe ich es so eindrucksvoll mit meinen Schülern. Wenn wir uns selbst nah sind, ist das Singen schön. Klingt die Stimme schön. Oder besser gesagt: Es ist einfach völlig egal, wie es klingt. Es spielt keine Rolle. Die Stimme klingt, wie sie klingt und das ist wunderschön.

Wenn wir uns selbst nah sind und uns wirklich zeigen, können wir unsere Zuhörer berühren. Ganz egal, ob wir Profisänger sind und eine schwere Arie singen oder Anfänger und unser liebstes Weihnachtslied vortragen. Es geht um den Kontakt mit unserem inneren Wesenskern. Wenn wir dort mit der Stimme andocken können, macht das glücklich. Alle Beteiligten.

STIMMSINN kann auch Spaß machen ?

Nun soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass es in meinem Unterricht oder in meinen Kursen immer nur ernst und tief zugeht und wir permanent Probleme wälzen, Emotionen heraufbeschwören oder weinen. Wir suchen auch nicht permanent nach Problemlösungen und analysieren uns selbst. Überhaupt nicht. Das werden alle meine Schüler*innen bestätigen. Ich arbeite sehr spielerisch. Im Spiel zeigt sich der Mensch. Wir lachen viel. Vor allem auch über uns selbst. Manchmal lachen und weinen wir gleichzeitig. Aber alles in allem gibt es immer genug Raum für Dinge, die durchfühlt und gesehen werden möchten. Und ganz selten arbeiten wir nur im Kopf. Immer gehört das Verkörpern des Erlebten dazu, steht sogar mehr im Fokus als das rationale Verstehen. Das ist mir ganz wichtig.

Stimme ist mehr

Als ich im Januar 2020 meinen Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ herausgebracht habe, war mir klar, dass es in diesem Kurs nicht nur um reine Stimmübungen gehen sollte. Dafür gibt es meinen Youtubekanal und überhaupt gibt es da genug Material von großartigen Kolleg*innen.  Ich habe mir gewünscht, die Menschen wirklich auf die Reise zu ihrer eigenen Stimme mitzunehmen. Und dazu gehört für mich eben die Verbindung von Körperarbeit, Stimmarbeit und innerer Arbeit. Dazu kommt noch das Anknüpfen an unsere eigene innere Musik, unsere eigenen Rhythmen und unseren eigenen inneren Klang. So ergaben sich schnell die drei Themenbereiche:

1. Atem-, Stimm- und Körperarbeit

2. Musik in mir

3. Kopfgekreisel.

Alle drei Bereiche greifen ineinander und bedingen sich gegenseitig.

Das ist für mich – auch wenn schon damals 2008, als ich meine Examensarbeit mit eben diesem Titel „Stimme ist mehr…“ geschrieben habe, mein Professor mich vor dem Begriff warnte, weil er einfach zu abgegriffen ist – wirklich ganzheitliche Stimmbildung. Stimmbildung die alle Ebenen menschlichen Seins einbezieht. Die den Menschen mithilfe aller und auf allen Ebenen bildet. Die tief geht und Freude macht und die insgesamt sehr viel mehr ist, als die Summe der Einzelteile.

In diesem Sinne wünsche ich Dir viel Neugier auf das eigene Innenleben!

Anna

P.S. Mein Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ startet wieder im September.