Was ist eine schöne Stimme?
Die eigene Stimme ist persönlich. So persönlich, dass fast jeder von uns sich noch an einzelne Sätze aus der eigenen Kindheit oder Teenagerzeit erinnern kann. „Du hast aber eine schöne Stimme!“ „Ich finde, Du kannst nicht so schön Singen!“ „Du solltest lieber ein Instrument spielen lernen…“ Diese und andere Sätze prägen sich tief in unser Bewusstsein und beeinflussen oft noch Jahre später unser Verhältnis zur eigenen Stimme. Manche Menschen trauen sich aufgrund solcher Urteile gar nicht oder erst im späten Erwachsenenalter ihre Lust am Singen wieder aufzunehmen. Und selbst professionellen Sängern hängen unachtsam ausgesprochene Urteile und Geschmacksbekundungen manchmal lange nach und nähren immer wieder deren Zweifel.
Sätze die sitzen
Als Kind habe ich immer gerne gesungen. Alte Aufnahmen beweisen, mit welcher Leidenschaft und gleichzeitig abseits jeder Tonalität ich meine Lieder gesungen habe. Im Grundschulalter durfte ich bei Schulfesten oder im Krippenspiel solistisch auftreten. Doch mit dem Eintritt in die weiterführende Schule und die stimmliche Mutation, die zwar meine Singlust nicht bremsen konnte, aber durchaus für Verwirrung sorgte, kamen auch die Kommentare der Mitschüler. „Kannst Du eigentlich auch ganz normal singen?“ „Du bist zu laut!“ usw. Später trug man an mich heran, ob ich denn im Schulmusical nicht lieber Posaune in der Band spielen wollte, anstatt beim Vorsingen für die Hauptrollen mein Glück zu versuchen. So ging es weiter und mein sängerisches Selbstbewusstsein wurde kleiner und kleiner. Ich nahm Gesangsunterricht, denn der Gegenwind verstärkte meine Sehnsucht nach stimmlichem Ausdruck. Als ich mich auf die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vorbereitete, nahm meine Mutter mich ernsthaft beiseite und fragte, ob ich denn denken würde, dass das reichen könnte. „So von der Stimme her. Du bist doch eher so ein Mickey-Maus-Sopran.“ Ich bestand die Prüfung und hörte in meiner ersten Gesangsstunde: „Du hast aber auch Glück gehabt in der Aufnahmeprüfung.“
Ich singe, also bin ich
Die Stimme ist der Spiegel unserer Person. Der Wunsch, sich durch die eigene Stimme auszudrücken, gehört zu den absolut elementaren menschlichen Bedürfnissen. Vom Moment unserer Geburt transportiert die Stimme unsere Emotionen, ermöglicht Kommunikation mit uns selbst und anderen und ist gleichzeitig die ursprünglichste Form des Musizierens. Singen macht Freude, ist Therapie und für den kulturellen Zusammenhalt einer Gesellschaft immens wichtig.
Doch wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wir möchten in allem besser und erfolgreicher sein und tun kaum noch Dinge einfach aus dem Grund, weil wir sie gern tun. Wir werden bewertet und bewerten auch die Stimmen unserer Mitmenschen. „Ich habe keine so schöne Stimme!“ Diesen Satz höre ich manchmal von Menschen in der ersten Gesangstunde. Puh, was für ein Urteil über sich selbst.
Geschmack hin oder her
Natürlich ist es legitim, einen persönlichen Geschmack bezüglich einer Stimme zu haben. Wir finden auch nicht alle Menschen sympatisch und verstehen uns nicht mit jedem gleichermaßen gut. Manche Stimme klingt klar und mühelos, manche nicht. Manche scheint außergewöhnlich, manche passt besonders gut zu einer ganz bestimmten Stilistik. Mancher beherrscht sein Stimm-Handwerk geradezu kunstvoll, ein anderer hat Mühe, eine Melodie sauber nachzusingen oder einen längeren Ton auszuhalten.
Und trotzdem gibt es Momente, da geht uns eine Stimme besonders zu Herzen. Egal ob schön nach den gerade angesagten gesellschaftlichen Maßstäben oder nicht, manchmal trifft uns ein Ton oder eine Phrase so direkt und unvermittelt, dass wir eine Gänsehaut bekommen oder weinen müssen. Oder wir haben nach einem Konzert das Gefühl, ein bißchen in den Sänger verliebt zu sein, weil er uns für einige Momente erlaubt hat, wirklich etwas von ihm zu sehen.
Ganzheit ist Schönheit
Eine Stimme ist für mich immer dann schön, wenn sie in dem Moment wirklich die Person durchklingen lässt (per-sonare = durch-klingen). Dann ist die Stimme mit dem Menschen und dem Klang-Körper stimmig und eine Frage der Bewertung stellt sich nicht mehr. Wie ein besonders charismatischer Mensch steht diese Stimme für sich, erfährt ihren Wert aus sich selbst heraus.
Aber ist es möglich das überhaupt zu lernen? Hat nicht der eine das „gewisse Etwas“ und der andere nicht? Ich glaube diese Tür steht jedem offen. Und es gibt unzählige verschiedene Möglichkeiten, den Sänger dabei zu unterstützen. Orientieren wir uns an den Grundlagen der Persönlickeitsentwicklung nach C.G. Jung, so ist es das Ziel der inneren Entwicklung, immer mehr Anteile der eigenen Persönlichkeit zu integrieren und somit immer vollständiger zu werden. Die Bewusstseinsfelder, die im Schatten liegen, also noch unbewusst sind, sollen ans Licht kommen und den Mensch als Ganzes bereichern.
Für mich verhält es sich mit der Stimme genauso. Dabei sind Körper und Seele des Menschen gleichermaßen an der Stimmentwicklung beteiligt. Unerforschte Bereiche können erforscht werden. Stimmliche Anteile, die wir bewusst oder unbewusst ablehnen oder einfach noch nicht kennen, möchten integriert werden. Wir betreiben aktive Forschungsarbeit in uns selbst, anstatt uns an einem vorgegebenen Ideal oder stilistischem Geschmack zu orientieren. Die Ganzheit und damit die vollkommene Schönheit einer Stimme wird dabei niemals erreicht werden, bildet aber den Motor für eine stetige Weiterentwicklung.
Verantwortung als Gesangspädagogen
Egal ob wir mit Profis oder mit Laien arbeiten, mit Anfängern oder Fortgeschrittenen, wir sollten uns der Tragweite und der seelischen Komponente der Stimmarbeit bewusst sein. Natürlich gilt es, bei der Vorbereitung für Aufnahmeprüfungen oder der Entscheidung, ob ein Schüler das Singen zum Beruf machen kann oder nicht, eine ehrliche Einschätzung zu geben. Doch eine Bewertung ob jemand schön singt oder nicht, ob er es wert ist gehört zu werden, liegt für mich außerhalb meines Kompetenzbereiches. Ich sehe es als meine Aufgabe, die Menschen, die zu mir kommen, darin zu unterstützen, ihren ganz persönlichen Zugang zu ihrer Stimme zu finden und diese als echtes Mittel des Ausdrucks kennen und lieben zu lernen.
Im Laufe der Arbeit wird die Stimme immer freier und freier. Körperliche Hilfsspannungen können weichen, der Atemfluss wird immer organischer und der Sänger kann mit der Zeit immer mehr zu dem stehen, was er ist und wie er klingt. Die Stimme lernt, sich ihre Klangressourcen selbst aus dem perfekten Zusammenspiel von Körper und Atem zu holen und kann ihr eigenes Timbre mehr und mehr entfalten. Die Lust am Klingen und Entdecken spielt dabei eine wesentliche Rolle. Der Sänger muss nicht mehr gestalten und kontrollieren, sondern tritt beiseite und kann geschehen lassen.
Wenn jeder sein Eigenes findet, ist für alle Platz
In meinem eigenen Singen und auch in der Arbeit mit Schülern habe häufig das Gefühl, dass die Stimme durch diese Arbeit immer selbstverständlicher und auch ein stückweit unaufgeregter und harmloser wird. Wobei das nicht zu verwechseln ist mit Belanglosigkeit. Ich empfinde es als Gelassenheit. So wie ein gelassener Mensch, der mit beiden Beinen im Leben steht, handlungsfähiger ist, als jemand, der mit sich und der Welt hadert, so wird auch die Stimme ge-“lassen“.
Natürlich macht das auch Angst. Angst, zu wenig zu sein, Angst mit dem, was ich bin, nicht genug zu sein. Sich nicht genug anzustrengen, nicht hart genug zu arbeiten. Aber es ist auch gleichermaßen entlastend und erfüllend. Eine freie Stimme muss nicht ackern. Sie ist, wie eine Blume auf einem Feldweg, einfach nur da und erfreut sich ihrer selbst. Kommt jemand vorbei, nennt der Betrachter sie womöglich „schön“. Schön aus sich selbst heraus. Wohl proportioniert, strahlend, dynamisch und vielleicht von kräftiger Farbgebung. Jede Blume ist anders. Kommen viele Blumen zusammen, entsteht eine noch größere Schönheit, die durch die Vielfalt und das Zusammenkommen vieler Einzigartigkeiten entsteht. Auch unter Sängern tritt die sonst so häufig vorhandene Konkurrenz in der Hintergrund, wenn jeder sich auf die Suche nach seiner ganz eigenen Stimmschönheit macht. Schönheit, die durch die Freude am Tun, am Klang, am körperlichen Erleben und an der Musik entsteht.
Vor einigen Jahren sagte bei einem Meisterkurs ein namhafter Lehrer mit einem herrlich breiten amerikanischem Akzent zu mir: „Ich verstehe nicht genau, was Du mit Deiner Stimme machst. Es ist so „eigenartig“.“ Wunderbar! Und erst vor ein paar Wochen sagte mir nach einem Konzert mit Kinderliedern – unspektakulärer geht es wohl kaum – der Veranstalter, meine Stimme sei „sensationell“. Solche Sätze machen mich nicht eitel. Zum Glück. Ich schmunzel in mich hinein und gehe den begonnenen Weg weiter.
Ich wünsche viel Mut zur Eigenheit und vor allem Freude, Freude, Freude am Singen!
Anna Stijohann