STIMMSINN-Online – Ein Erfahrungsbericht

Als ich 2016 meinen ersten Blogbeitrag veröffentlichte, hätte ich jedem einen Vogel gezeigt, der behauptet hätte, dass Mitte 2020 drei Viertel meiner Arbeit online bzw. über indirekten digitalen Kontakt mit meinen Schülern stattfinden würde. Einzel- und Gruppenunterricht über ZOOM, ein Onlinekurs und ein YouTube-Kanal, der u.a. von Hochschulprofessoren in Zeiten virtuellen Fachdidaktikunterrichts als besonders vorbildlich empfohlen wird – das letzte halbe Jahr war eine ziemliche Achterbahnfahrt – wunderschön, total ätzend, herausfordernd, leichter als gedacht, überraschend – und diese Erfahrungen möchte ich mit euch teilen.

STIMMSINN-Gedanken – Erste Schritte online

Anfang 2016 veröffentlichte ich meine allerersten Blogbeiträge. Ich hatte das dringende Bedürfnis meine Gedanken und Erfahrungen rund um meine Arbeit mit mehr Menschen zu teilen, als nur mit denjenigen, denen ich regelmäßig von Angesicht zu Angesicht begegnete. Die Rückmeldungen kamen prompt und plötzlich hatte mein pädagogisches Wirken eine neue Dimension. Menschen, denen ich nie zuvor begegnet war, schrieben mir Emails, dass sie meine Ideen für ihren Unterricht oder für ihr eigenes Singen benutzten. Das war der Beginn meiner „Fernwirkungs“-Arbeit.

Singen lernen über Youtube – Wie kann das gehen?

Nun war ich „lesbar“. Immer und überall. Bis ich mit meinem Youtube-Kanal auch „sichtbar“ werden sollte, dauerte es aber noch eine ganze Weile. Zu schwierig erschien es mir Gesangstutorials und Übungsvideos zu gestalten, die für jeden sinnvoll und gleichzeitig nicht völlig oberflächlich daher kamen.
Doch dann begegnete mir das Onlineprogramm „Sing with freedom“ von Per Bristow. In vier einfachen Lektionen geht es um einen mühelosen Zugang zur Stimme und das auf eine Art und Weise, bei der man absolut nichts falsch machen kann, weil es im Wesentlichen um die Schulung der Selbstwahrnehmung geht. Mir wurde klar, dass das genau die Art und Weise ist, wie ich sowieso schon unterrichte und so startete ich im Dezember 2018 den ersten STIMMSINN-Adventskalender. Noch nicht öffentlich für alle, sondern nur mit vorheriger Anmeldung, konnte man in 24 kleinen Übungsvideos meine Lieblingsstimmbildungsübungen kennenlernen.

Die Menschen erreichen

Die Resonanz war umwerfend. Von überall her kamen Emails mit Rückmeldungen und die Links für die „Türchen“ wurden an den Freund, die Kollegin, den Bruder in Übersee oder sogar den ganzen Chor weitergeleitet. Die Erkenntnis:
Singen lernen ohne direkten Kontakt. Es funktioniert!

Jede Woche veröffentlichte ich von da an eines meiner Übungsvideos auf YouTube. Mittlerweile haben knapp 650 Menschen meinen Kanal abonniert und manche Videos wurden über 2000mal angeschaut. Regelmäßig bekomme ich Rückmeldungen wie diese hier:

(…) welch wunderbare Übungen Du präsentierst, ich habe mir fast alle schon angesehen. Endlich jemand, der meine Lücke füllt. Vor vielen Jahren hatte ich mal Gesangsunterricht, so lustig wie in Deinen Lektionen war da nichts. Ich habe dann drei Jahrzehnte nicht mehr gesungen und vermisse es nun und es klappt nichts mehr so, wie ich es gern hätte. Ich versuchte noch einmal Gesangsunterricht und brach es ab, es gab mir nicht, was ich suchte. Hier habe ich ganz viel gefunden. Sehr nachvollziehbar, ich kann mich spüren dabei. Herzlichen Dank dafür, ich werde immer wieder reinschauen.“

(…) ich möchte dir nur zurückmelden, dass ich deine Videos dankbar anschaue und sehr froh bin, die Möglichkeit zu haben, meine erst vor kurzem entdeckte Singstimme damit vorsichtig wachsen zu lassen, um im Chor nicht so völlig naiv aufzufallen.
Vielen lieben Dank!“

Stimme ist mehr…“ – Der Onlinekurs

Ende 2019 dann die Entscheidung. Ich werde einen eigenen Onlinekurs herausbringen. Ich möchte die Menschen kennenlernen, die meine Videos anschauen. Ich möchte mit ihnen interagieren und ihnen die Möglichkeit geben, sich mit mir auszutauschen. Ich möchte der Welt mein Wissen nicht mehr ausschließlich gratis zur Verfügung stellen, sondern mich wirklich intensiv engangieren und dafür dann auch bezahlt werden.

Die positiven Rückmeldungen bestärkten mich, dass meine Art des Unterrichtens auch über die Distanz wunderbar funktioniert und ergänzt durch den Austausch mit mir und anderen gleichgesinnten Teilnehmer*innen sollte daraus ein 3-monatiger Onlinekurs werden. Wie das gehen könnte, klärte sich nach und nach.

Das Abenteuer beginnt

Ich hatte in anderem Kontext erste Begegnungen über ZOOM, mein Mann (Webentwickler) hatte andere Kunden für die er digitale Produkte aufsetzte und ich schaute mir mit großer Begeisterung freie Videos im Internet zum Thema „Onlinekurse aufbauen“ an. Ich hatte Feuer gefangen und dann ging alles ziemlich schnell. Die Leidenschaft meiner Kindheit – für andere Menschen Bastelanleitungen zu entwerfen und zu verkaufen (damals 2 Mark im Monatsabo ;-)) – flammte wieder auf und so erstellte ich meinen Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ und konnte ihn im Rahmen des STIMMSINN-Adventskalenders 2019 vorstellen und bewerben. Hui, wie aufregend! Im Januar 2020 startete ich mit den ersten elf Teilnehmerinnen (aus ganz Deutschland, Österreich und Italien) auf eine Reise zu ihrer eigenen Stimme und für mich selbst auf zu unbekannten Ufern.

Und dann kam Corona

Mitten in der ersten Runde von „Stimme ist mehr…“ veränderte sich plötzlich alles. Das Coronavirus tauchte auf und das komplette gesellschaftliche Leben wurde plötzlich eingefroren. Ich erinnere mich noch sehr gut an die neunte Kurslektion zum Thema “Stille“. Wie passend, wie berührend, wie intensiv. Plötzlich probte keine der Teilnehmerinnen mehr mit ihren Chören, kein Gesangsunterricht, keine Bandproben. Nur der STIMMSINN-Onlinekurs. Plötzlich war der Kontakt über ZOOM wichtig. Essentiell. Die wöchentlichen Treffen für einige von uns die einzige persönliche Begegnung mit anderen Menschen. Das hat mich zutiefst bewegt und meinen Blick auf die Onlinearbeit komplett verändert.

Begegnung in Zeiten von Social Distancing

Nachdem ich mir vorher immer wieder Gedanken darüber gemacht hatte, ob und wie es möglich sein könnte, über Onlinearbeit ein wirkliches Gruppengefühl aufzubauen, war es mir plötzlich klar. Es geht um den Kontakt. Und dieser Kontakt entsteht, wenn jeder mit sich selber, mit seinem Wesen, seinen Sehnsüchten und Fragen in Berührung kommt. Die Inhalte des Kurses hatten in Kombination mit der Lockdown-Situation genau das ermöglicht. Ein Begegnungsraum war entstanden. Virtuell und doch ganz klar greif- und spürbar. Gerade in den ersten Wochen der ungewohnten Situation war mir das unendlich wertvoll. Im Gegensatz zu einigen Kolleg*innen, die völlig ihrer Lebensgrundlage beraubt schienen, konnte ich weiterhin auf meine, mir ganz eigene Art, sinnstiftend arbeiten. Das hat mir enorm viel Kraft gegeben.

Alle wollen jetzt Online-Unterricht – sofort

Nach Ostern startete nach einem kostenlosen Online-Schnupperwochenende die zweite Kursrunde von „Stimme ist mehr…“ mit diesmal 18 festen Teilnehmer*innen.

In dieser Situation war das ein Geschenk des Himmels. Auf diese Weise konnte ich mir ein bisschen (auch finanzielle) Luft verschaffen und mich in aller Ruhe an die Gegebenheiten gewöhnen. Meinen Einzelunterricht von jetzt auf gleich auch auf ZOOM oder Skype umzustellen, kam für mich nicht infrage. Ich fühlte mich damit nicht wohl und brauchte Zeit und Raum, auch dafür Wege zu finden, die Begegnung mit den Schülern lebendig und eben auf meine Weise zu gestalten. Alles machen wie vorher, nur eben in zwei getrennten Räumen und über den Bildschirm verbunden, schien mir nicht der richtige Weg und teilweise unmöglich (z.B. körperlicher Kontakt) zu sein. Erst ganz langsam tastete ich mich nach einigen Probestunden an den ZOOM-Unterricht heran und ich muss zugeben, ich war erstmal ziemlich frustriert.

Drei Räume

Klar, es braucht auch eine gewisse Eingewöhnungszeit. Sich mit den technischen Möglichkeiten vertraut machen, herausfinden was geht und was nicht usw. Aber im Grunde war es ein Gedanke meiner Lehrerin Renate Schulze-Schindler, der dazu geführt hat, dass sich meine Einstellung zum digitalen Einzelunterricht auch verändern konnte. In einem Gruppentreffen mit meinen natural voice – teacher Kolleg*innen und Renate (verrückt eigentlich, niemals jemals hätte man sie für so eine Aktion noch vor einem Jahr begeistern können) sagte sie die entscheidenen Sätze:

Wir bewegen uns hier im Grunde in und zwischen drei Räumen. Jeder befindet sich in dem Raum, in dem er gerade ist. Das Wohnzimmer, die Küche, das Arbeitszimmer. Aber jeder ist auch in seinem eigenen Innenraum anwesend. Der Körper, die Gedanken, die Gefühle. Und es gibt einen dritten Raum. Der Raum, der uns alle hier verbindet. Sichtbar auf dem Bildschirm, aber viel wichtiger spürbar für jeden von uns.“

Neue Perspektiven

Diese Sichtweise hat mein digitales Unterrichten komplett verändert. Sich diese drei Räume immer wieder bewusst zu machen und ein geschmeidiges Hin und Her zwischen Innen und Außen zu ermöglichen, hat mich sehr beglückt und mich Frieden finden lassen mit der aktuellen Situation. Bereits seit Ende April darf ich meine Privatschüler wieder „in echt“ unterrichten, aber meine Studierenden habe ich in diesem Semester kein einziges Mal wirklich getroffen. Einige meiner Privatschüler waren teilweise nicht vor Ort und haben mich gebeten Zoom-Stunden zu ermöglichen. Und ja, die Online-Stunden kosten mich etwas mehr Kraft. Ich brauche mehr Pausen zwischendurch. Aber beide Medien können mittlerweile gut nebeneinander stehen. Und ergänzen sich in positiver Weise.

Studieren digital

Überhaupt komme ich immer mehr zu der Überzeugung, dass die unterschiedlichen Unterrichtsformen sich wunderbar bereichern. So habe ich z.B. Anfang des Semesters meine Studierenden zur (natürlich kostenlosen) Teilnahme an meinem Onlinekurs verpflichtet. Eine interne wöchentliche Videokonferenz hat dafür gesorgt, dass der Kontakt als Gruppe lebendig geblieben ist und die Inhalte des Onlinekurses haben den Einzelunterricht vertieft und ergänzt. Auf meine Frage hin, wie die Studierenden den Kurs erlebt haben und ob sie es für sinnvoll halten, den kommenden Studierendengenerationen auch Zugang zu den Inhalten des Kurses zu geben, kam ein eindeutiges JA! UNBEDINGT!

Mehrwert

„Am besten direkt im ersten Semester. Sonst denkt man hinterher immer: Mann, hätte ich das mal vorher gewusst!“ Die unterschiedlichen Aufgaben und Themen des Kurses konnten den Studierenden Input geben, der sonst im normalen Einzelunterricht keinen Platz gehabt hätte.

Die eigene innere Einstellung beim Üben, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, die Schulung der Körperwahrnehmung, allgemeine Hintergründe zum Thema Lernen – diese Inhalte und auch die Tatsache, dass man die Aufgaben machen konnte, wann man wollte und sich dann in der Videokonferenz darüber austauscht, haben definitv einen Mehrwert für das Singen und das sängerische Selbstbewusstsein der jungen Leute gestiftet. Für jeden der sieben Studis war etwas anderes besonders wertvoll, aber alle waren sich einig. Das war eine tolle Möglichkeit!

Neue Möglichkeiten

Wie wunderbar! So eine tolle Rückmeldung. Das ermutigt mich ungemein, weiterhin nach neuen Wegen zu suchen und mutig Dinge auszuprobieren. Wie wohltuend zu wissen, dass die wesentlichen Faktoren meiner Arbeit sich nicht nur im direkten Kontakt, sondern auch auf ganz anderen Wegen zeigen. Klar, eine lebendige Improvisation oder ein klangstarker Chorsatz in der Gruppe lassen sich durch nichts ersetzen. Die Intensität eines Gespräches zwischen Menschen aus ganz Europa, die sich in aller Ruhe alle mit dem gleichen Thema auseinandergesetzt haben und sich anschließend in der sicheren Umgebung ihres jeweiligen eigenen Zuhauses darüber austauschen, aber auch nicht.

Wir können und sollten dringend die Möglichkeiten sehen und nicht die Grenzen. Dann kann Überraschendes und Bereicherndes geschehen. Ganz egal auf welchem Themengebiet.

Allzeit gute Sicht durch die Möglichkeiten-Brille wünscht

Anna Stijohann

P.S. Am 4.9.2020 startet mein Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ wieder mit einer neuen Gruppe. Bis zum 29.08. ist die Anmeldung für diesen 12-wöchigen Kurs noch möglich.
Gelegenheit zum unverbindlichen Reinschnuppern bietet sich im Rahmen der STIMMSINN-SommerSummse vom 20.-23.08.2020. Dafür könnt ihr euch ab sofort kostenlos anmelden.