Es könnte so einfach sein
Man stelle sich vor, Singen wäre einfach. Kinderleicht, ein Spaziergang. Kein Druck, keine komplizierte Technik, die es in vielen Stunden zu erlernen gilt, keine stimmliche Ermüdung, der pure Genuss. Die Töne purzeln gut geölt und wie von selbst aus der Kehle und je mehr und je länger ich singe, desto mehr Freude macht es und desto leichter geht es. Meine Stimme verbindet sich leicht und wohlklingend mit anderen Stimmen und ich kann mich ganz einfach am Miteinander erfreuen. Klingt gut, oder?
Eine andere Sichtweise
Ich bin davon überzeugt, dass das möglich ist. Und ich sehe es als unsere wichtigste Aufgabe als Gesangspädagogen, Menschen zu helfen, diese Leichtigkeit zu finden. Warum das nicht alle Menschen und Sänger so sehen, weiß ich nicht. Möglicherweise liegt es daran, dass sie es einfach nicht gewohnt sind und das wirklich mühelose Singen bisher nur selten oder gar nicht erlebt haben. Und in diese Einschätzung schließe ich sowohl Profis als auch Hobbysänger mit ein. Für viele Menschen scheint es ganz normal zu sein, dass nach der Chorprobe der Hals kratzt oder nach einem Liederabend oder einer Opernaufführung stimmliche Ermüdung eintritt. Für viele Sänger ist das Singen mit „harter Arbeit“ verbunden. Sowohl körperlich, als auch direkt stimmlich. Die richtige Klangeinstellung zu finden ist immer wieder Thema und die Frage „Wie Singen denn nun richtig geht“ stets präsent. Der Eine sagt dieses, der Andere sagt jenes. Der Eine sagt, Du musst dies tun, der Andere sagt „um Gottes Willen, das ist Gift für die Stimme“. Orientierungslosigkeit und ein hoher innerer Druck verbunden mit der Idee, nicht (gut) genug zu sein sind der Preis. Was auf der Strecke bleibt, ist der Genuss.
Ist Singen Arbeit?
In der Kolumne einer namhaften Kollegin, die sich vor allem an Laiensänger im Chor wandte, stand vor einiger Zeit, dass das Erlernen der „korrekten Stütze eine sehr schwierige Angelegenheit sei und nur sehr fleißiges, jahrelanges Üben schließlich zum Erfolg führe“. Da fehlten mir glatt die Worte. Das verdirbt doch jedem ganz normalen Chorsänger – und nicht nur dem – die Lust aufs Singen und die Neugier, sich stimmlich weiterzuentwickeln.
Und es widerspricht ganz klar dem, was ich in meiner Arbeit erlebe. Natürlich gibt es keine Patentrezepte und natürlich hat die eine Stimme es schwerer zu ihrem vollen Potential zu finden und die andere leichter. Nichtsdestotrotz gibt es vielerlei Möglichkeiten, diesen Prozess zu unterstützen, in denen weder Druck (innerlich, äußerlich, stimmlich-muskulär) noch das „Ausmerzen von Fehlern“ eine Rolle spielt. (vgl. Das magische Knistern, Spielzeug zum Singen, Singen und Saugen, Anlehnen an den Atem, Singen im freien Fall, Improvisation)
Es kann auch einfach sein
Jeder Mensch kann singen. Jede Stimme bringt ihr ganz eigenes Potential mit und jeder Sänger hat das Recht sich beim Singen wohl zu fühlen. (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit, Was ist eine schöne Stimme?)
Wie schrieb mir neulich eine Workshopteilnehmerin: „(…) ich muss zugeben, dass sich meine Stimme mit dieser Art zu Singen sauwohl gefühlt hat.“
Verrückt, dass wir fast das Gefühl haben, uns dafür entschuldigen zu müssen, wenn es beim Singen mal richtig gut läuft. Gesellschaftlich tief verankert ist das Gefühl in uns, dass nur das von Wert ist, was hart erarbeitet ist. Wir sind es nicht mehr gewohnt Geschenke anzunehmen. Lieber ackern wir uns ab und verheddern uns in Details, die alles nur komplizierter machen.
Warum eigentlich? Warum müssen wir, wenn beim Singen alles wie geschmiert läuft, hinterfragen, ob das wirklich so sein kann / darf. Ob denn nun auch der Ton alle Kriterien erfüllt um ein guter Ton zu sein. Ob der Klang auch voll und rund genug ist, die Höhe strahlend genug ist und der Ton gut sitzt.
Wir könnten uns auch einfach mal auf unser Gefühl verlassen. Denn wenn wir ganz ehrlich sind, wissen wir in dem Moment, wo alles wirklich zusammenpasst, eigentlich genau: Es ist ganz einfach.
Nie wieder Üben?
Natürlich heißt das nicht, dass wir uns einfach auf die faule Haut legen können. Das Sprichwort „Ohne Fleiß keinen Preis“ bleibt aktuell, aber die Art und Weise, wie wir üben und wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken, ist eine ganz andere. Der Schlüssel zum mühelosen Singen und leichten Lernen ist unsere Wahrnehmung. Nicht mehr und nicht weniger. Wahrnehmung, die keine Bewertung mit einschließt, sondern erlebt. (vgl. Wie viel muss ich üben? oder Bewusstsein als Tür)
Und auch Wahrnehmung gilt es zu lernen und zu üben. Denn wir sind, gerade was unseren Körper angeht, kaum mehr gewohnt, neutral zu spüren, ohne daraus direkt eine Konsequenz zu ziehen was wir als nächstes tun sollten. Wir möchten aktiv tun und manipulieren, weil wir denken, dass sonst nichts oder nicht genug passiert. Aber damit kommen wir beim Singen in Teufels Küche. Oder zumindest nicht zu einer echten Leichtigkeit.
Der Stimme Raum zum Entfalten geben
Die Stimme organisiert sich ganz wunderbar selbst (vgl. Stimmliche Selbstorganisation, Singen ist nicht kompliziert!) und alles was wir dazu brauchen ist innere Wachheit. Alles ist schon da und will nur ans Licht gebracht werden. Eine Schülerin berichtete mir nach meiner viermonatigen Mamapause von einer tollen Entdeckung. Sie ist eine erfahrene Chor- und Ensemblesängerin und war selbst total überrascht.
„Ich saß da so vor dem Computer und habe mir ein Übungsfile für das neue Chorstück angehört. Ich saß ein bisschen vornübergelehnt und habe einfach so vor mich hingesungen. Und auf einmal ging es ganz leicht. Irgendwie hab ich gemerkt, dass ich in der Mitte meines Körpers etwas loslassen kann und dann ist der Ton voll und ganz leicht. Ich dachte immer, ich muss hier oder dort irgendwas tun oder anspannen, aber es war genau das Gegenteil der Fall. Verrückt!“
In einem Moment, in dem es überhaupt nicht darum ging, etwas richtig zu machen, hat sie plötzlich etwas ganz Wichtiges verstanden. Und ich als Lehrerin hab mich natürlich gefreut „wie Bolle“ 🙂
Warum dann noch Gesangsunterricht?
Gesangsunterrichtwird damit keineswegs überflüssig. Gerade wenn es darum geht, sich aus der eigenen Komfortzone heraus aufs Glatteis zu begeben (vgl. Kontrollverlust -Ja bitte!) ist eine kundige Begleitung wichtig. Außerdem weiß mein/e LehrerIn im Idealfall, wie sie/er mich in einen Zustand bringt, in dem Selbstorganisation möglich ist und hat in vielen Situationen einfach mehr Erfahrung, ein gutes Ohr und kann gut zureden, wenn das Zutrauen ins eigene Gefühl nicht ausreichend geübt ist. Von uns Lehrern erfordert das eine ganz andere Art des Unterrichtens. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf Fehler hinzuweisen, sondern Erlebnisräume zu schaffen. Denn die entscheidende Arbeit findet im Schüler statt. Nur dort, wohin er seine Aufmerksamkeit lenkt, kann Entwicklung stattfinden. Lenkt er sie auf die Probleme, die Enge, die Brüche und sonstige Unzulänglichkeiten, wird er genau davon mehr bekommen. Lenkt er seine Aufmerksamkeit auf das, was – im Rahmen seiner Möglichkeiten – leicht geht und das, was ihn neugierig macht, werden sich immer mehr Räume der Leichtigkeit auftun.
Man lernt nie aus
Ich selbst hatte vor einiger Zeit ein Erlebnis dieser Art, das mir gezeigt hat, dass der Leichtigkeit des Singens keine Grenzen gesetzt sind. Im Rahmen einer kleinen kollegialen Fortbildung arbeitete eine Kollegin nur etwa zehn Minuten mit mir. Nichts wildes. Aufmerksamkeitsübungen für die kleinste überflüssige Zungenspannung, ein bisschen [ng], ein bisschen [a] mit der Intention, keinen „schönen, gesanglichen“ Klang machen zu wollen, sondern ganz dem fließenden, wohligen Gefühl zu trauen und einfach ein „Geräusch“ zu machen.
Und ich muss sagen, ich war platt. Eigentlich dachte ich, mein Singen sei schon sehr spannungsfrei und mühelos, aber das war nochmal ein andere Liga. Tagelang habe ich danach diesem Gefühl einfach nur nachgespürt und mein Klang hat sich seitdem nachhaltig verändert. Alles, was es brauchte, war meine Aufmerksamkeit. Natürlich kamen auch in mir die üblichen Fragen auf. Klingt das wirklich gut? Taugt der Klang für alle Genres? Wie verbinden sich eigentlich Mühelosigkeit und Kraft? Hab ich noch genug Power, wenn es so leicht geht?
Mühelosigkeit und Kraft
Doch die Leichtigkeit des Klangs und vor allem der pure Genuss beim Singen, haben die Fragen nach einigen Tagen verblassen lassen. Sie wurden einfach weniger wichtig. Und „Ja!“ ich hab genug Power. Denn ich habe durch diesen kleinen Ausflug die inneren Zusammenhänge von Kraftaufwand und Kraft im Klang noch einmal besser verstanden. Oft denken wir, wir haben Kraft, sind aber eigentlich nur damit beschäftigt, kräftig gegen unsere eigenen Widerstände (innerlich, äußerlich, muskulär) anzusingen. Ähnlich, wie wenn wir versuchen eine Tür aufzudrücken, die von der anderen Seite zugehalten wird. Wir fühlen uns möglicherweise sehr stark dabei, aber wir kommen doch nicht vom Fleck. Der Zuhörer hört nicht Kraft, sondern Mühe. Das ist ein großer Unterschied. Wenn wir frei und anstrengungslos singen, kann unsere Kraft, unser volles Potential dagegen wirklich nach außen hörbar werden. Wir treten durch die Tür hinaus und zeigen uns in voller Größe. Das erfordert Mut, ist aber ungleich lustvoller. (vgl. Nackt)
Feinmotorik
Singen ohne Mühe ist ein Balanceakt. Das organische Singen lebt – wie z.B. das Tanzen oder Wellenreiten – von der filigranen Koordination, den ganz feinen Unterschieden und der Tatsache, dass es nicht darum geht „etwas zu tun“. Viel mehr geht es darum, einen Schwung zu nutzen, mit der Welle zu schwimmen. Dann ergibt sich eins aus dem anderen. Wichtig ist ein sensibler innerer Kontakt von Stimme und Körper, der uns aber meistens schon nach kurzem Üben vertraut ist. Das Wahrnehmen der Schwerkraft oder ein spürender Kontakt mit den Händen oder das obertönige Hören und Lauschen helfen der Stimme ihren Raum und ihre Fokussierung fein auszubalancieren. Ein beweglicher Klang mit vielen Facetten ist das Ergebnis des inneren Zusammenspiels. An dieser Stelle möchte ich eine – sonst mit sich selbst eher kritische – Schülerin zitieren: „Ich bin ganz verblüfft, wie schön das klingt, wenn die Anstrengung weg ist.“
Und zum Schluss soll noch mein ehemaliger Posaunenprofessor zu Wort kommen:
„Wenn’s einfach wär, würd’s jeder machen.“ – Na, das wär doch mal was! 🙂
Unbeschwerte Singlust und sommerleichten Klanggenuss wünscht
Anna Stijohann