Nackt

Es ist soweit. Der Karneval ist da. Wer an Weiberfastnacht in Köln auf die Straße geht, kann sich dem kaum entziehen. Sich zu verkleiden, jemand ganz anderer zu sein und den Mitmenschen von einem ganz anderen Standpunkt zu begegnen als sonst, kann sehr wohltuend sein. Wir sind wie wir sind, denken wir, doch durch das karnevalistische Rollenspiel können wir die Grenzen dessen, was wir sind und was andere von uns glauben das wir sind, ausdehnen.
Und genau deswegen möchte ich den karnevalistischen Gedanken heute vom Standpunkt Stimme her untersuchen.

Was wir sein möchten

Wenn wir Singen, zeigen wir uns. Keine Frage. Ob und wie wir uns zeigen, hängt an uns selbst. Es ist eine Mischung aus unseren Fähigkeiten und angelernter ästhetischer „Stimm-Kostümierung“. Genau wie bei unserm äußeren Auftreten gibt es große Unterschiede darin, wie wir uns präsentieren. Der Eine geht nie ungeschminkt aus dem Haus, der Andere am liebsten in Jogginghose. Dem einen ist die 50er Jahre Tolle mittlerweile zum Markenzeichen geworden, der andere liebt es öko mit Wollpullover. Aufs Singen übertragen könnte das folgendes heißen: Mancher versteckt sich hinter gängigen Klang- und Phrasierungsklischees. Pop- oder Klassikattitüde? Jeder wählt das, was ihm nahliegt. Jazzgesäusel oder penetrantes Musical“gebelte“ um jeden Preis? All das kann Markenzeichen und gleichzeitig Maskierung der eigenen Person und damit des eigenen Klangs sein. Wir zeigen uns nach außen so, wie wir möchten, dass unser Umfeld uns sieht.

Es kommt auf den Kontext an

Nicht, dass mich jemand falsch versteht. Ich habe nichts gegen Klischees und genre- und kontextangemessenen Klang. Aber genauso wenig, wie ich in Jeans in die Oper oder im kleinen Schwarzen zu einem Rockkonzert oder zur Arbeit gehen würde, hat jedes Stimm“outfit“ seinen Platz und seine Berechtigung. Das Outfit sollte im Idealfall gut passen und die Persönlichkeit des Trägers unterstreichen und nicht wie eine Verkleidung wirken. Wer seine „Popschlenker“ auch nicht bei einem schlichten Volkslied ablegen kann, wird kaum ein stimmiges Gesamtbild abgeben. Die niedlich-harmlose Kuschelstimme bei einer dramatischen Opernarie ist genauso fehl am Platz, wie schallerndes Vibrato in einem kleinen Raum bis die Wände wackeln. Um jedoch zu einem stimmigen und persönlichen Klang zu kommen und sich egal in welchem musikalischen Kontext angemessen ausdrücken zu können (vgl. Singen ist Singen), braucht es einiges an Erfahrung und Reife.

Ganz werden

Genau wie eine menschliche Persönlichkeit sich im Laufe des Lebens im Idealfall immer weiter vervollständigt und unabhängig vom Außen immer mehr so sein kann, wie sie wirklich ist, wird auch die Stimme einen solchen Prozess durchlaufen. Der Psychoforscher C.G. Jung vertritt die Auffassung, dass wir alle Anteile unseres Selbst integrieren müssen um „Ganz“ zu werden. Je mehr – vor allem verborgene oder ungeliebte Persönlichkeitsanteile – wir kennenlernen und akzeptieren können, desto reicher und vielschichtiger wird unser Charakter sich zeigen. Für die Stimme gilt das Gleiche. (vgl. Was ist eine schöne Stimme?) Stimmfarben, unterschiedliche Stilistiken, archetypische Klänge, Höhe und Tiefe, Register, die uns bisher fremd sind. All diese Stimmanteile gilt es zu erforschen um zum „ganzen Klang“ zu kommen – der wie auch im Persönlichkeitsmodell von Jung, jedoch immer ein unerreichbares Ideal bleiben wird.

Karneval der Stimmen

Das Schlüpfen in andere Rollen kann – ähnlich wie im Karneval – sehr viel Spaß machen und sehr befreiend sein. Jenseits des gängigen Schönheitsideals kann ich alles ausprobieren. Kann der sein, der ich sonst vermeintlich nicht bin. Kann mich im Schutze der Maskerade mehr trauen oder mich innerlich entspannen und zu größerer Ruhe finden. Ich kann anders mit anderen Stimmen in Kontakt treten. Anders als ich das von mir selbst kenne und vielleicht auch anders, als die Anderen es von mir erwarten. Ich darf Mann oder Frau sein, edel oder roh, elegant oder derb. Ich darf sexy sein oder reserviert, darf die große Diva spielen, von der ich mir vielleicht heimlich wünsche, ich wäre sie.

Natürlich darf ich das alles auch im richtigen Leben. Im Grunde schreibt mir ja niemand vor, wie ich zu sein und mich (stimmlich) zu geben habe. Dennoch fällt es schwer, sich in ernstem Rahmen – oder was wir als solchen empfinden – zu trauen etwas Neues zu wagen (vgl. Seufzen auf Krankenschein). Im Schutze des „Stimm-Karnevals“ fällt es möglicherweise leichter.

Wer bin ich und wie klinge ich?

Und möglicherweise bin ich am Ende des „Karnevals“ meiner eigenen Person ein wenig mehr auf die Schliche gekommen. Stimmlich kann ich vielleicht Ängste ablegen und meine angelernten ästhetischen Konventionen hinterfragen. Ist das wirklich meins? Verstecke ich mich hinter dem, was ich denke, dass es so sein müsste? Oder schaffe ich es, meiner Persönlichkeit und meiner ganz eigenen Stimme wirklich Ausdruck zu verleihen? Wo bediene ich notwendigerweise eine bestimmte Kunstform und wie schaffe ich es, trotzdem mein eigenes Timbre und meinen Charakter hindurchscheinen zu lassen? Wo kann ich den musikalischen Kontext vielleicht sogar benutzen um meinen sonst eher verborgenen Stimm- und Persönlichkeitsanteilen Raum zu geben?

Und wenn ich mir selbst ein Stückchen näher gerückt bin, habe ich auch die Chance, dem Publikum anders zu begegnen. Ich zeige mich und lade das Publikum ein, mit mir wirklich in Kontakt zu gehen. Es entsteht das Band der Intimät zwischen Sänger und Zuhörer, das Gänsehaut auslöst, Tränen der Berührung kullern oder das Publikum aus tiefstem Bedürfnis her mitgrooven lässt.

Nackt

Wie nah ich jemanden oder ein Publikum an mich heranlasse, liegt ganz bei mir. Und es ist völlig legitim, sich nicht immer und überall ganz und gar zeigen zu wollen. Gutes Handwerk und situationsangemessenes Verhalten ist nicht zu unterschätzen. Ich werfe auch nicht meinem Bankberater mein ganzes Sein vor die Füße. Dennnoch ist Kontakt ein menschliches und im speziellen sängerisches Grundbedürfnis. Die Sehnsucht nach direkter Begegnung ohne Maske ist einer der wichtigsten Gründe zu Singen. (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit) Man kann es niemandem verübeln, wenn er niemals unfrisiert vor die Türe geht oder sich beim Singen hinter Popfloskeln versteckt. Derjenige sollte sich bloß darüber im klaren darüber sein, was der Preis der Maskerade ist. Denn die intensivsten und intimsten Momente erleben wir meist nicht kostümiert sondern – seelisch oder körperlich – nackt.

Intimität

Intimität ist etwas sehr kostbares und zerbrechliches. Das gilt natürlich auch für stimmliche und musikalische Intimität. Natürlich kann ich mir mit einem Schwung die (Stimm-)Kleider vom Leib reißen. Das wirkt jedoch sicher nicht bei jedem stimmig und einladend. Wahre Intimität braucht Raum und Zeit zur Begegnung, auch im Konzert oder im Theater. Es ist ein Vortasten und Suchen nach dem Gegenüber. Ein Sich-Vertraut-Machen mit dem Auftrittsort, mit dem Klang im Raum, mit den Mitmusikern, mit den Zuhörern. In meinem ersten Semester an der Musikhochschule kam eine bekannte Jazzsängerin für einen Meisterkurs zu uns in die Gesangsklasse. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, aber einen ganz wichtigen Satz werde ich wohl niemals vergessen: „Totally unzip yourself!“. Ungeschminkte, unmaskierte Stimmen, Musik, die direkt unter die Haut geht. Das ist das, wonach sich Zuhörer und Sänger gleichermaßen sehnen. (vgl. Was ist eine schöne Stimme?)

Nackt vor dem Spiegel

Damit ich mich trauen kann, mich so zu zeigen, wie ich bin, muss ich mich vor allem selbst akzeptieren, wie ich bin. Das klingt leichter als es ist und erfordert vom Sänger großen Fleiß und einen starken Willen, nicht immer den einfachsten Weg zu gehen.  Je öfter ich mich selbst „nackt im Spiegel“ betrachtet habe, desto vertrauter bin ich mir selbst. Je besser ich mich selbst kenne, desto eher kann ich mich ungefiltert ausdrücken. (vgl. Was ist Präsenz?) Je öfter es mir gelungen ist, mich „stimmlich nackig zu machen“, desto leichter wird es mir fallen und desto mehr Authentizität gewinnt mein Vortrag. Und trotzdem bleibt das Singen vor Publikum – wenn ich den Mut und den Willen habe das Risiko der Begegnung einzugehen – ein Wagnis (vgl. Kontrollverlust – Ja Bitte!)

Junge Stimmen

Neulich war ich seit langer Zeit mal wieder als Zuhörer bei einem Konzert. Ein junger motivierter Chor mit vielseitigem Programm. Mit dabei auch drei Solisten. Studenten, die bereits Auftrittserfahrung hatten, aber denen man trotzdem die Aufregung anmerkte. Nach den ersten paar wunderbaren Tönen – alle drei SängerInnen wirklich hörenswert und teilweise sogar mit eigenen Songs – bekam ich eine Gänsehaut. Was für mutige junge Menschen, dachte ich! Sich hier vor einem Publikum so zu zeigen. Sich mit allen Unsicherheiten pur und ohne Sicherheitsnetz zu präsentieren.

Menschen wie ich, die viel Singen und viel mit singenden Menschen zu tun haben, vergessen manchmal, welche Überwindung es kostet und wie gefährlich das Auftreten vor Publikum ist. Gerade den jungen Stimmen gilt deswegen mein größter Respekt.

Nackt heißt nicht unbedingt „perfekt“

Gleichzeitig musste ich schmunzelnd an meine ersten Auftritte in der Musikhochschule denken. Damals war ich mir des Risikos nicht bewusst und hatte auch keinerlei besondere Ansprüche an mich. Ich wollte einfach singen, weil es mir Freude machte. Wenn ich mir die Aufnahmen von damals anhöre, kann ich mich selbst als Studentin durch die Töne hindurchschimmern hören. Die Angst, die Sehnsucht, die Freude und die jugendliche Unbekümmertheit. Alles da. Und das freut mich ungemein. Denn im Rahmen meiner damaligen Möglichkeiten habe ich mich vor dem Publikum wirklich gezeigt, wie ich zu dem Zeitpunkt meines Lebens und meiner sängerischen Ausbildung war. Der Mut, sich stimmlich „nackig zu machen“ hat meiner Einschätzung nach, dabei kaum mit den sängerischen oder musikalischen Fähigkeiten an sich zu tun. Ein unausgebildeter Laie kann, vielleicht gerade wegen seiner Unsicherheit und Unvollkommenheit, mit seinem Gesang unglaublich berührend sein. Manchmal sogar so direkt berühren, dass wir seine Scham und alle Zweifel am eigenen Leib mitspüren. Manch ausgebildeter Sänger weiß sich klug hinter Technik und Manierismen zu verstecken und gibt allenfalls eine „beeindruckende“ Performance ab. Je größer meine Verkleidungskiste, desto dicker kann die Schutzmaskerade ausfallen. Aber jeder Kostümfilm bleibt eine Materialschlacht, wenn er nicht berührt.

In diesem Sinne- Stimmen Alaaf! (okay und Helau ;-))

Anna Stijohann