Was ist Präsenz?
Jeder Sänger und jeder Chor wird mit dem Thema „Präsenz“ spätestens dann konfrontiert, wenn es ums Auftreten geht. Mancher Mensch hat eine natürliche Präsenz und kann diese auch auf der Bühne behalten, andere müssen sich jene erst mühsam erarbeiten. Aber geht das überhaupt? Hat man nicht einfach das „gewisse Etwas“ oder eben nicht? Natürlich gibt es da Unterschiede, aber wenn es um eine natürliche Präsenz geht, können wir uns wieder an Kindern orientieren. „Stelle niemals Kinder oder Tiere auf die Bühne, sie werden alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen“, das ist eine alte Theaterweisheit. Nicht ohne Grund.
Präsenz hat mit Gegenwart zu tun
Präsenz und Präsens (= Gegenwart) liegen im Deutschen nah beeinander. Präsenz hat für mich ausgesprochen viel mit der Fähigkeit zu tun, im jetzigen Augenblick anwesend zu sein. „Hier und Jetzt“, „Im Moment sein“ und „Achtsamkeit“ sind derzeit die Schlagworte, um Menschen in unserer schnellen Gesellschaft – weg von Burn-Out, Erschöpfung und Sinnlosigkeit – wieder in ihre Lebensfreude und Leichtigkeit zu bringen.
Aber was bedeutet das konkret? Wahrnehmung und Bewusstsein sind für mich die Schlüsselworte. Wenn ich etwas ganz bewusst wahrnehme, z.B. meinen Körper, meine Atmung oder meine Gedanken bin ich ganz und gar mit dem jetzigen Augenblick beschäftigt. Ich spüre Wärme, Kälte, Bewegung, Raum, Enge, Schwingung, Vibration. Ich schenke meine gesamte Aufmerksamkeit dem, was sich gerade jetzt zeigt. Vielleicht spüre ich sogar darüber hinaus, wie die Dinge zusammenhängen. Meinen Atem und die zugehörige Atembewegung, meine Töne und ihre Schwingungen, meine eigene Bewegung im Raum und die der anderen Menschen um mich herum. Präsenz üben hat viel damit zu tun, sich im Wahrnehmen im jetzigen Augenblick zu üben.
Den Wahrnehmungsradius erweitern
Je mehr Dinge ich gleichzeitig wahrnehmen kann, desto größer ist mein Aufmerksamkeitsradius. Natürlich kann ich nicht alle Details in voller Schärfe wahrnehmen. Je mehr Aspekte hinzukommen, desto unschärfer, aber auch weiter und offener wird meine Wahrnehmung. Je mehr ich meinen Körper in seiner Ganzheit spüren kann, desto unwichtiger werden seine Einzelteile. Je mehr ich meinen Gesang im Bezug zum Rest der Musik – Reibung, Rhythmus, Klangstruktur – erlebe, desto mehr kann ich mich öffnen. Sich nicht im großen Ganzen zu verlieren, sondern trotzdem aufmerksam und wach bei sich zu bleiben bedarf einiger Übung. Immer wieder den Bogen von den Einzelteilen zum größeren Zusammenhang herzustellen, ist in diesem Falle wichtig. Nach und nach entsteht so im Sänger, im Musiker ein Wahrnehmungsnetz. Atem und Bewegung verschmelzen zu einer Einheit, Stimmansatz und Körperlichkeit werden zu einem Ereignis, Klang und Resonanzgefühl kommen zusammen.
Wahrnehmung ist drinnen, Präsenz ist draußen
Achtsamkeit ist vor allem ein inneres Phänomen. Wahrnehmung geht von mir selbst aus und geschieht von außen kaum sichtbar. Eine hohe innere Aufmerksamkeit alleine reicht demnach nicht aus, um wirklich „präsent“ zu sein. Zwei Aspekte scheinen mir besonders wichtig zu sein, damit der Transfer nach Außen gelingen kann. Das Eine ist der Genuss an dem, was ich erlebe. Meine eigene Neugier, meine Lust am Entdecken und die Freude an dem, was ich wahrnehmen kann. Die Qualität einer Bewegung zu erleben und als freudvoll, spielerisch, spaßig und genussvoll zu spüren, lässt die Intensität der Bewegung auch äußerlich wirken. Vibrationen zu spüren und sich im „Klang zu baden“, bewirkt das Gleiche. Sich in die Musik fallen zu lassen, sich mit ihr durch die Freude am Tun zu verbinden, lässt die Zuhörer mitschwingen.
Innere Abwehr, Scham oder Unmotiviertheit unterbrechen diese Verbindung von Innen nach Außen.
Eine innere Entscheidung ist nötig
Und genau das ist der zweite Punkt, der mir wichtig scheint, wenn wir von der inneren Wahrnehmung zu einer äußeren Präsenz kommen möchten. Es braucht eine aktive Entscheidung das Erlebte und den Genuss daran mit der Außenwelt teilen zu wollen. Scham und Überwindung, die immer wieder im Zusammenhang mit Präsenz auftauchen, ist hier für viele Menschen der Knackpunkt. Ich kann mich ganz bewusst entscheiden, inwieweit ich dem Publikum Einblick in meine Wahrnehmungswelt gestatte. Ich kann mich bewusst entscheiden, das Unwohlsein, das Ungewohnte, die Scham, das Herzklopfen, die zweifelnden Gedanken auszuhalten, weder innerlich noch äußerlich zu kommentieren und so meine eigenen Grenzen ausloten. Je mehr ich mich öffne, je mehr ich riskiere wirklich gesehen zu werden, desto größer ist meine Präsenz.
Gesehen werden
Im Bühnenpräsenzunterricht während meines Studiums war eine der ersten Übungen, sich vor den Kommilitonen auf eine Bühne zu stellen und sich anschauen zu lassen. Eine sehr einfache und doch wirkungsvolle und gleichzeitig schwierige Aufgabe. Nichts weiter tun, als sich anschauen zu lassen – so kommt man dem eigenen Schamgefühl schnell auf die Schliche. Aber auch der eigenen Lust an der Präsentation, die die andere Seite der Medaille darstellt. Als Künstler und vielleicht überhaupt als Menschen bewegen wir uns permanent genau in diesem Spannungsfeld. Es ist unser großer Wunsch gesehen zu werden und gleichzeit haben wir Angst davor. Je öfter wir uns bewusst in solche Situationen begeben, desto vertrauter sind sie uns. So üben wir unseren Mut und trainieren den inneren Schalter, der uns erlaubt präsent im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
Inneres Zuhause finden
Unsicherheit und Scham können durch viele verschiedene Techniken, Übungen, Methoden und Aufgaben, die das Selbstbewusstsein stärken, immer unwichtiger werden. Welcher Weg für mich der Richtige ist, kann ich nur selber entscheiden. Meditation, Körperarbeit, innere Arbeit, Gespräche mit Freunden und Lehrern, Therapiesitzungen oder auch positive, freudvolle Erlebnisse z.B. beim Singen und Musizieren können enorm viel in Bewegung bringen. Präsenz hat immer auch mit innerer Reife zu tun. Innere Reife, d.h. für mich, zu dem stehen zu können, wer ich bin, was ich tue, was ich kann und was ich nicht kann. Als Kinder kennen wir kaum Schamgefühle, bis wir von unserer Außenwelt ganz klar gezeigt bekommen, wo die Grenzen sind. Was sich gehört und was sich nicht gehört, was richtig und was falsch ist, und dass eine pure, überschwengliche Freude an dem, was wir gerne tun, uns von außen angreifbar macht. Uns von diesen Einschränkungen zu befreien und wieder – nun mit dem Wissen um die möglichen Konsequenzen, aber deswegen nicht weniger lustvoll – voll und ganz in dem aufzugehen was wir tun, ist für mich die zentrale Aufgabe jedes Künstlers, Musikers und eines reifen, charismatischen Menschen überhaupt.
Präsenz beim Singen und Musizieren
Beim Singen und Musizieren gibt es ganz verschiedene konkrete Ebenen, denen ich meine Aufmerksamkeit widmen kann um meine Präsenz zu üben. Zum einen kann ich mich auf meinen Körper konzentrieren. Das liegt beim Singen noch näher als beim Spielen eines Instruments, weil der Körper eben genau das Instrument darstellt. Aber auch beim Spiel eines Instrumentes kann die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper und seine Zusammenhänge die Präsenz des Klangs und des musikalischen Vortrags enorm verändern.
Was spüre ich? Wie tue ich was? Was tut mein Rücken, mein Brustkorb, was kann ich in meinem Becken wahrnehmen? Kann ich mein eigenes Körpergewicht spüren? Wo liegt meine Zunge, was machen meine Lippen oder meine Finger usw.? Dabei wird es im Sinne einer echten Präsenz (und auch im Sinne einer selbstregulativen Stimmentfaltung) nicht um ein richtig oder falsch oder gar eine Manipulation, sondern vor allem um eine geschärfte Wahrnehmung gehen. Durch die erhöhte Aufmerksamkeit kann die „Anstrengung“, das „Versuchen“, das „Bemühen“ ersetzt werden durch echte innere Anwesenheit. (vgl. Inner Game).
Weitere Ebenen der Wahrnehmung können z.B. das aktive Lauschen (vgl. Ohren auf!), das Tasten und Spüren von Resonanz, meine direkte Umgebung (Gegenstände, Atmosphäre, Dynamik in Raum und Gruppe) oder die emotionale Information des Musikstücks sein und sogar einige Spielarten des Denkens (vgl. Analoges Denken und Intuition) und der Imagination können gegenwärtige Aufmerksamkeitspunkte bieten.
Wichtig ist es, bei all dem zu verstehen, dass das Wahrnehmen oder die gewählte Art des Denkens mit einer Bewertung der Situation nichts zu tun hat. Aufmerksamkeit ist zunächst mal neutral; betrachtend, erlebend, akzeptierend. Trotzdem ist mir das, was ich erlebe keinesfalls egal. Ich bin hochgradig wach für das was geschieht, was ich tue, was ich erlebe. Ich greife jedoch nicht aktiv ein, um etwas zu „optimieren“, mehr „Ausdruck“ zu geben, mehr „Emotionen zu senden“ oder was auch immer. Ich kann nur meine Aufmerksamkeit bündeln und intensivieren (vgl. Bewusstsein als Tür), meine Freude am Tun voll auskosten und mutig mein Herz öffnen und das Publikum teilhaben lassen.
Bewusste Genussmomente im Großen wie im Kleinen wünscht,
Anna Stijohann
P.S. Am Sa, den 23.09.2017 von 15-18 Uhr wird es im STIMMSINN einen Miniworkshop zum Thema „Stimme – Körper – Präsenz“ geben. Eine praktische Möglichkeit, die eigene Präsenz und ihre Wirkung kennenzulernen und auszuloten.