Tiefer gehen

Neulich fragte mich eine Kollegin, was eigentlich meinen Unterricht und meine Arbeit mit Menschen und Stimmen von anderen unterscheide. Darüber musste ich ein wenig nachdenken. Was ist mir wichtig? Was sollen die Menschen mitnehmen, wenn sie aus meinem Unterricht und meinen Kursen herausgehen?
Natürlich gibt es da viele Aspekte. Aber vor allem Eines hat sich bei meinen Überlegungen herauskristallisiert. Ich möchte, dass die Menschen tiefer gehen und Genuss erleben. Beim Singen, Tönen, Atmen, Bewegen, Musizieren und Mensch sein.

Allerlei Ziele

Klar, als Lehrer wünscht man sich vieles für seine Schüler. Dass die Stimme es leicht hat, dass das Singen immer stimmiger wird, dass Stimme und Körper immer mehr zueinander finden oder dass Klangfarben und musikalische „Manöver“ möglich werden, die vorher noch nicht drin waren. All das sind Dinge, die als Wünsche und Ziele in meiner Arbeit vorkommen. Egal ob jemand Anfänger, fortgeschritten oder Profisänger ist, für mich geht es immer um die persönliche Weiterentwicklung. Ausgehend vom Jetzt suchen wir gemeinsam etwas Neues, etwas Spannendes, Überraschendes. Und so tun wir vor allem eins. Tiefer graben. Immer wieder.

Wie tief willst Du gehen?

Tiefer gehen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Im großen Zusammenhang geht es meiner Meinung nach darum erfüllt zu sein, von dem was man tut. Im Singen, wie im Leben. Wir möchten gesehen werden, uns zeigen, berühren und berührt werden. Wir sind immer auf der Suche. Und es ist schön, einen Lehrer oder musikalischen Begleiter zu haben, der diesen Weg mitgeht. Jeder Mensch, jeder Sänger – ob er es zugibt oder nicht – sehnt sich danach. Jeder? Vielleicht nicht. Mancher Sänger möchte einfach nur ein bisschen „singen“. Oder ein bisschen „schöner singen“. Oder ein bisschen „lauter singen“. Das ist absolut legitim, aber mir macht es am allermeisten Spaß, wenn meine Schüler ihre innere Forschungslust entdecken.

Tiefgang für alle

Dabei ist es völlig unerheblich, auf welchem Level jemand gerade arbeitet. Es gibt Anfänger, die neugierig und offen jedes Stimm- und Körpererlebnis wie ein Weltereignis feiern und es gibt Profis, die zwar sagen, dass sie sich verändern möchten, aber eigentlich viel zu große Angst haben, etwas wirklich Neues zu wagen. Nein – ich sage das nochmal – das kann man sicher niemandem verübeln, aber je tiefer ich grabe, desto tiefer wird auch mein Erleben. Desto mehr Genuss stellt sich ein, desto intensiver gehe ich in Kontakt mit mir selbst, mit meiner Stimme, mit meinen Mitmusikern. Intensität bringt immer einen höheren Wert mit sich. Für den, der es tut und für den, der das Glück hat, zuzuhören oder zuzuschauen.

Süchtig nach Intensität

Ich war schon immer auf der Suche nach der Intensität. Vielleicht liegt es daran, dass mich nie jemand für besonders begabt oder talentiert gehalten hat, aber genau deswegen hatte ich immer ein großes inneres Bedürfnis, wirklich aus mir selbst heraus zu singen und zu klingen. Ich wollte keine Tricks damit es endlich „funktioniert“ (na gut, ich geb’s zu, ab und an schon ;-)), sondern ich wollte das, was ich tue, wirklich durchdringen. Zu meinem Eigenen machen. Mit meiner eigenen Stimme singen, genau hinspüren und nicht nur oberflächlich wissen, was ich tue, sondern durch und durch erleben und genießen. Das war und ist sicher nicht der leichteste und schnellste Weg zum Sängerglück, aber für mich persönlich der einzig mögliche.

Begeisterung steckt an

Auf meiner Reise haben mich stets diejenigen Lehrer und Künstler fasziniert, die ihren ganz eigenen Zugang zu dem, was sie tun, gefunden haben. Egal ob es um emotionale Tiefe ging, intensives Körpererleben, musikalische Detailarbeit oder die Leidenschaften eines Anatomiefreaks – ich wollte nie einfach nur schön singen. Und ich hoffe sehr, dass ich meine Schüler und Studenten und auch die Menschen in den Chören mit denen ich regelmäßig oder unregelmäßig arbeite, ein bisschen mit meiner Begeisterung anstecken kann. Da halte ich es mit dem Singen, wie mit einem guten Essen. Es kann so viel mehr sein, als nur Mittel zum Zweck.

Stimmliche Tiefen erspüren

Wie kann Lernen, das tiefer geht, nun beim Singen und allgemeiner in der Arbeit mit der Stimme konkret aussehen? In jedem Fall bedeutet es, sich selbst und sein Instrument immer besser und genauer kennen zu lernen. Das Schulen der Eigenwahrnehmung (Propriozeption und Interozeption) durch Körperarbeit ist für mich elementar. Es gilt genau hinzuspüren in Muskeln, Knochen und Faszien, Resonanz bewusst zu erleben und Vibrationen wahrzunehmen. Darüber hinaus ist es wichtig immer wieder zu schauen: Was macht das mit mir? Wo und auf welche Weise berührt mich etwas, wo sind Widerstände, wo kommt etwas ins Fließen?

Auf Entdeckungsreise gehen

Auch die Verknüpfung von rationalem Wissen und praktischem Tun schafft Tiefe und Verständnis. Das kann auf körperlich-funktionaler, aber z.B. auch auf musikalischer Ebene sein. Rhythmus körperlich zu erleben (z.B. wie fühlt sich eine Synkope körperlich an?) ist nur ein Beispiel dafür. Stimmliche Tiefen auszuloten kann auch bedeuten, sich mit Klängen auseinander zu setzen, die uns erstmal fremd sind. Tierische Laute, brummen, summen, quietschen und krächzen sprengen allzu enge stimmliche Grenzen und öffnen auch für die „schöne Stimme“ neue Türen.

Verbindung schaffen

Auch für die Interpretation von Stücken, können Schüler hier profitieren. Muss es immer schön sein? Was erzählt mir ein Lied wirklich? Wo gibt es ganz persönliche Berührungspunkte? Wo bin ich berührt, wo scheue ich mich, wo erlaube ich mir echten Genuss? Sich einen Song wirklich zueigen zu machen, ermöglicht nicht nur tiefere Einsichten in die Musik an sich, sondern manchmal auch in die eigenen menschlichen Tiefen und Abgründe. Im Zusammenklang mit anderen, z.B. im Chor oder im Ensemble, ist es sinnvoll Akkorde und Klänge wirklich auszukosten und ästhetisch zu durchdringen. Wo bin ich, wo sind die anderen, in welcher Beziehung stehen unsere Stimmen?

Einzeln und mit anderen

Um das persönliche Verständnis auf möglichst vielen Ebenen zu vertiefen, halte ich eine Kombination aus Einzelarbeit mit einem Lehrer und Gruppenarbeit ideal. Im Einzelunterricht kann der Lehrer ganz auf meine Bedürfnisse eingehen. Mir Mut machen, wenn mir das Neue noch zu fremd ist und mich bestärken, dass ich auf dem richtige Weg bin. In der Gruppe kann ich von Anderen lernen, mich im Schutz der Gruppe aufgehoben fühlen und Klänge und Musik erleben, die allein nicht möglich sind. Hinzu kommt darüber hinaus natürlich noch das eigene Forschen im stillen Kämmerlein oder im Alltag.

Individuelle Wege

Insgesamt möchte ich betonen, dass jeder Suchende die Zusammenhänge, die ihn interessieren und die individuellen Wege zum Ziel selber herausfinden muss. Tiefe kann man sich nicht abschauen, nicht erlernen. Nur entdecken. Neulich kam eine Schülerin, die noch relativ am Anfang steht, in meinen Unterricht und verkündete mir, dass sie fortan nur vierzehntägig statt wöchentlich kommen wolle. Sie bräuchte mehr Zeit um das Gelernte und Erlebte zu integrieren. Ja! Genau! Super! Da jubelt mein Forscherherz 🙂

Tiefe braucht Zeit

Zeit spielt auf dem Weg zu stimmlicher Tiefe und tiefgreifendem Verständnis eine wesentliche Rolle. Ich merke, dass ich in meinen Kursen immer langsamer werde. Immer weniger Inhalte „schaffe“. Manchmal nur die Hälfte dessen, was ich mir zurechtgelegt hatte. Wenn es so kommt, liegt das meist daran, dass die Gruppe wirklich Lust hatte, sich auf die Übungen einzulassen und intensiv zu spüren, zu schmecken und zu erleben. Früher hatte ich dann manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, dass die Menschen dann vielleicht „nicht genug mitnehmen“, aber mittlerweile sehe und erlebe ich es anders. Sich die Zeit und den Raum für die Dinge zu nehmen, die sie wirklich brauchen, ermöglicht ganz andere Einsichten. Auch der Kontakt untereinander bekommen eine andere Qualität. Erkenntnisse und Lernerfolge speichern sich innerlich ganz anders ab. Das Gespräch bei der gemeinsamen Tasse Tee bringt manches Mal Überraschendes und Wertvolles ans Licht. Auch wenn die Zeit dafür „von der Unterrichtszeit abgeht“.

Aha-Erlebnisse

Tiefe entsteht nach meiner Erfahrung im Wesentlichen auf zwei Arten. Zum einen gibt es die Aha-Erlebnisse. Ist der Raum und die Zeit da, können sich (z.B. durch die bipolare Atemarbeit) überraschende Momente ergeben, in denen der Schüler etwas so einprägsames erlebt, dass hinterher nichts mehr sein wird wie früher. So ging es mir z.B. bei meinem ersten Kurs mit Renate Schulze-Schindler. „Ach krass. Das bin ich. So klingt meine Stimme. Das ist das, wonach ich immer gesucht habe…“ Manchmal sind diese Wendepunkte groß und gewichtig, manchmal klein und subtil, dadurch aber nicht unbedingt weniger bedeutsam.

Anfängergeist

Manchmal ist es aber auch der Alltag, das achtsame Üben und das Immer-und-immer-wieder-Tun, das neue Tiefen und Einsichten ermöglicht. Wenn ich Tag für Tag das Gleiche tue (z.B. die gleichen Übungen) und es schaffe, immer wieder neugierig zu bleiben, kristallisiert sich eine immer klarere Form dessen was ich tue, heraus. Mit diesem „Anfängergeist“ kann ich die gleiche Situation immer wieder aus einer neuen Perspektive sehen und erleben. Das bringt Genuss schon beim Tun, aber auch immer wieder eine neue Tiefe in dem, was ich übe.

Es ist meine Entscheidung

Ob ich offen für Neues bin und bleiben kann, ist vor allem eine Einstellungssache. Kann ich auch bei der hundertsten Vorstellung des gleichen Stücks noch die kleinen Veränderungen wahrnehmen? Kann ich immer wieder Überraschendes sehen? Das ist ein bisschen wie eine Brille mit einer speziellen Vergrößerung. Manchmal kann es da helfen, sich selbst jedes Mal wieder eine neue Aufgabe zu stellen. Eine Forschungsfrage, an der ich mich dann entlanghangeln kann und die mir hilft, wach zu bleiben. Eine Perspektive, aus der ich noch nie geschaut habe. Eine Erfahrungsebene, die mir sonst vielleicht gar nicht bewusst ist.

Tiefgang braucht Mut

Insgesamt braucht das Graben in der Tiefe immer eine gute Portion Mut. Niemals weiß ich, was ich dort vorfinde. Gefällt es mir? Macht es mir Angst? Erschüttert es mein bisheriges (sängerisches) Welt- und Selbstbild? Aber ohne den Mut zur Verletzlichkeit bleiben wir immer unter unseren eigentlichen Möglichkeiten. Ja, wir sehnen uns nach Echtheit und danach unseren eigenen Weg zu gehen, egal was die anderen denken oder sagen. Aber damit ist auch immer das Risiko verbunden, dass wir abgelehnt oder belächelt werden. Der Spagat zwischen dem „Eigenen“ und dem „Dazugehören“ ist nicht immer leicht. Es braucht viel Vertrauen und ein starkes inneres Gefühl von Sicherheit um sich zu trauen, die eigenen Grenzen zu erweitern und sein volles Potential auszuschöpfen.

Aber je tiefer wir graben, desto mehr von uns selbst zeigt sich. Je feiner wir unsere Stimme und unseren Körper wahrnehmen, desto mehr von uns kann ins Schwingen kommen. Je mehr wir werden, wer wir eigentlich sind, je mehr wir uns erlauben so zu klingen wie wir eben klingen, desto größer zeigt sich unsere innere Stärke und auch unsere stimmliche Ausdruckskraft.

Genussvolle Spatenstiche Richtung Innenwelt wünscht,

Anna

P.S. Eine Möglichkeit mit der eigenen Stimme in die Tiefe zu gehen, ist die STIMMSINN-Jahresgruppe. Im letzten Jahr durfte ich zum ersten Mal vier Menschen über insgesamt 11 Monate begleiten und ich fand es ganz wunderbar! Einzelunterricht und Gruppenworkshops, viele verschiedene Themen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln – alle Höhen und Tiefen der STIMMSINN-Palette. Ab Januar 2020 startet ein neue Jahresgruppe. Es gibt noch 2 freie Plätze!