Singenlernen ist nicht linear

Manchmal fragen mich Menschen, wie viele Stunden Gesangsunterricht man denn so „nehmen müsse“. Oder ob ein bestimmter Kurs auch was für Fortgeschrittene sei; man „habe ja schon Erfahrung“. Vielleicht liegt es an meiner ganz persönlichen Einstellung zum Singenlernen, aber ich muss dann immer ein wenig ausholen. Als Gesangspädagogin gibt es für mich keinen „Fahrplan“ nachdem ich meinen Unterricht aufbaue und meine Kurse sind fast immer offen für alle Menschen. Vom Anfänger bis zum Profi. Je heterogener die Gruppe, desto schöner. Je verschiedener die Menschen und Stimmen, desto breiter und vielseitiger das Lernpotential.

Bestandsaufnahme

Natürlich habe ich soetwas wie „eine erste Stunde“ parat. Wenn ein Schüler ganz neu zu mir kommt, biete ich meist etwas an, das mir leicht fällt, nicht unbedingt voraussetzt, dass man die Baustellen des Schülers schon gut kennt und am Ende den Schüler mit einem positiven Stimmerlebnis nach Hause gehen lässt. Doch ich werde immer wieder dort beginnen müssen, wo der Schüler gerade ist. Und das kann so unterschiedlich sein, wie Menschen eben unterschiedlich sind. Mancher ist ehrgeizig und dabei vielleicht verkrampft, ein anderer locker und neugierig, ein Dritter ängstlich oder skeptisch. Das Lernergebnis ist nicht vorhersehbar.

Wie lange dauert’s noch?

Jeder Schüler bringt andere Voraussetzungen mit. Wenn man mich fragt, wie lange es denn dauert, bis man „merkt“, dass der Gesangsunterricht „etwas bringt“, antworte ich meist: „Das ist sehr individuell verschieden. Es hängt natürlich davon ab, wie intensiv sich jemand auch außerhalb der Stunde mit seiner Stimme beschäftigt. (vgl. Wieviel muss ich üben?) Dazu kommen die Vorerfahrungen, sowie persönliche Ziele und Begabungen. Auch Ängste und Zweifel spielen eine Rolle. Im Durchschnitt spürt oder hört der Schüler nach fünf Stunden selber einen deutlichen Unterschied. Nach etwa zehn Stunden nehmen das auch die Menschen der Umgebung wahr. Bei dem einen geht es schneller, bei dem anderen langsamer.“

Singen ist komplex

Deswegen passiert im Gesangsunterricht mal viel und mal fast nichts. Manchmal biete ich eine Übung an, die genau ins Schwarze trifft und ein echtes Aha-Erlebnis ermöglicht. Und manchmal passiert eben – nichts. Zumindest scheint es so. Denn keine Stunde ist umsonst. Irgendetwas wird immer im Schüler nachklingen und allein darum geht es. Es ist im Gesangsunterricht wenig sinnvoll, ein Thema nach dem anderen „abzuhaken“. Alles hängt mit allem zusammen und ist zudem höchst persönlich. So viele Faktoren beeinflussen unser Singen, dass wir nicht davon ausgehen können, dass jemand anderer als der Schüler selbst, den nächsten Schritt gehen kann. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)

Lass dich überraschen

Manchmal gehe ich deswegen unzufrieden oder frustriert aus einer Stunde, weil ich das Gefühl habe, nichts von dem, was wir gemacht haben, sei angekommen. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass es immer wieder auch Stunden gibt, in denen ich überrascht werde. Dann entwickelt sich aus einer Situation, einer scheinbar banalen Schülerfrage oder einer gemeinsam entwickelten Übungsidee wahre Sternstunden. (vgl. Intuition) Und aus solchen Momenten entstehen dann wiederum meine „Wochenthemen“. Übungen, Ideen, Fragen, Blickwinkel, die sich durch mehrere Stunden mit ganz unterschiedlichen Schülern ziehen. Und die sich allein dadurch wandeln, dass verschiedene Menschen sich damit beschäftigen. So lerne auch ich durch das Unterrichten immer wieder neu und vertiefe meine Erfahrungen.

Lernen in Kreisen

Genauso ist es auf der Schülerseite. Manchmal greife ich nach einer ganzen Weile, manchmal nach Monaten oder Jahren, eine Übung wieder auf. Und siehe da, der Schüler erlebt diese nun ganz anders als beim ersten Mal. Singen lernen geschieht – wie das Leben selber 😉 – in Kreisen. Bestimmte Themen müssen immer wieder serviert werden, bis sich etwas im Schüler setzt. Die gleiche Übung mit einem anderen Aufmerksamkeitsschwerpunkt oder mit anderen Worten beschrieben, ermöglicht eine ganz andere Erfahrung oder einen neuen Blickwinkel auf ein Problem oder Phänomen. Und im Idealfall kommen die Schüler dann ganz von allein zu einem Ergebnis, das man schon hundertmal angesprochen hat und für das die Zeit einfach noch nicht reif war.

Was ist dann (Lern-)Erfolg?

Erfolgreicher Unterricht findet immer dann statt, wenn der Schüler für sich das Gefühl des Fortschritts erlebt. Etwas wird im Laufe der Zeit leichter, geschmeidiger, intensiver. Ob ein Schüler nach drei Jahren Unterricht dieses oder jenes Stück singen kann und den einen hohen Ton erreicht, ist für mich überhaupt nicht wichtig. Natürlich freue mich, wenn ich bemerke, dass sich Grenzen verschieben und plötzlich Dinge möglich sind, die vorher nicht in Reichweite waren. Aber im Endeffekt geht es mir ganz allein darum, dem Schüler ein Gefühl des persönlichen Voranschreitens zu ermöglichen und das, was wir tun, als wertvoll zu erleben. Es geht darum, dem eigenen Potential immer mehr auf die Spur zukommen. Jeder in seinem Tempo, jeder auf seine Weise.

Die Wirklichkeit ist der beste Lehrer

Wie ein Kind, das Laufen oder Radfahren lernt, geht es auch beim Singen und allgemein in der Arbeit mit der Stimme um das Tun selber. Nur durch das Tun, durch das Entdecken und Probieren kommt etwas in Bewegung. Meine Aufgabe als Lehrerin ist es zu motivieren und neue Impulse zu geben. (vgl. Über den Tellerrand) Und sobald sich Sicherheit oder Routine eingestellt hat, sucht sich der Stimmschüler – genau wie das radfahrende Kind – von ganz allein neue Herausforderungen. Die „musikalische Wirklichkeit“ ist dabei der beste Lehrer. Eine Band, ein Chor oder das Ausprobieren einer ganz neuen Stilrichtung im altbekannten Vokalensemble bieten guten Grund zu Üben und reichlich Anlass Neues auszuprobieren.

Und in der Gruppe?

Meine Kurse sind stets offen für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis. Jeder kann mitmachen und jeder arbeitet auf seiner eigenen Baustelle. Unterschiedliche Vorerfahrungen ermöglichen unterschiedlich tiefe Erlebnisse. Wer viel Erfahrung im Spüren und wachen Erleben hat, wird mehr Details wahrnehmen oder die Relevanz des Erlebten für sich selber besser einschätzen können. Nichtsdestotrotz benutzt manchmal ein Anfänger Worte, die dem Profi nie eingefallen wären und doch den Nagel auf den Kopf treffen. Dem Fortgeschrittenen tut möglicherweise der frische Anfängergeist gut, der schüchterne Chorsänger kann vielleicht auf der Welle eines erfahrenen Solisten mutig mitschwimmen. Meine Aufgabe als Kursleitung kann und muss es sein, eine positive Atmosphäre und einen bewertungsfreien Raum zum Experimentieren zu schaffen.

Am Ende suchen alle das Gleiche

Unabhängig von den Vorerfahrungen sind es immer wieder die gleichen Themen, die auftauchen. Es geht um Freiheit und Sicherheit (vgl. Kontrollverlust – Ja bitte!), um das Erweitern der persönlichen Ausdruckmöglichkeiten, darum, gesehen werden (vgl. Was ist eine schöne Stimme?), um Anerkennung, Freude am Tun und um Lebendigkeit (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit). Je heterogener die Gruppe, desto schwieriger scheint es auf den ersten Blick, alle inhaltlich unter einen Hut zu bekommen. Aber wenn am Ende klar wird, dass es gar nicht ums „höher-schneller-weiter“ geht, sondern um das, was jedem einzelnen Schüler Zufriedenheit schenkt und seine Freude am Tun nährt, begegnet man sich auf Augenhöhe. Und das kann sehr berührend sein.

Weniger Üben und Unterrichten nach Plan und mehr menschliche Begegnungen wünscht,

Anna Stijohann