Wachsen und Lernen

Jeder Sänger möchte besser werden. Klar. Wir möchten mehr Freiheit gewinnen um uns auszudrücken, mehr Umfang, einen ausgewogeneren Klang, mehr Tragfähigkeit entwickeln usw. Aber woher nehmen wir die Motivation für unseren Drang zu lernen und uns zu verbessern? Folgen wir wirklich einem eigenen inneren Bedürfnis oder messen wir uns am Außen? Möchten wir unser eigenes Potential entfalten und es zu unserer eigenen Freude nutzen oder denken wir, wir müssten uns optimieren um unsern eigenen Ansprüchen oder denen der anderen gerecht zu werden?

Eine leichte Übung

Seit einiger Zeit biete ich einen Onlinekurs an. Neben spielerischen Körper- und Stimmübungen geht es in diesem Kurs auch immer wieder um die eigene innere Einstellung zu unserer Stimme, zu unserem Singen und auch zum Üben. Im Gespräch mit einer Teilnehmerin kam das Thema auf den Begriff „Selbstoptimierungswahn“. Aufhänger für den Austausch war eine kleine, leichte Übung, die in den Teilnehmern vor allem Freude und Neugier ausgelöst hatte. Als nun die Frage kam, wie denn jetzt konkret die eigene Stimme davon profitieren könnte, sagte ich soetwas wie: „Du kannst das dann zum Singen benutzen. Du wendest es auf ein Stück oder eine Phrase an und dann schaust Du, was mit Deinem Singen passiert.“

Freude benutzen?

Eine andere Teilnehmerin widersprach dem vehement. „Das hat mir so große Freude gemacht. Ich möchte das gar nicht „benutzen“. Ich möchte das gar nicht als „Übung sehen“. Das, was ich da erlebt habe, ist mir viel zu wichtig, als dass ich es nutzen wollen würde. Das fällt für mich unter „Selbstoptimierungwahn“.“ Zugegeben, diese Teilnehmerin ist keine Sängerin und ist nicht darauf angewiesen, dass man sich manchmal einfach durch die Anwendung von Handwerkszeug in einen anderen Zustand bringen muss, weil man z.B. ein Konzert hat. Aber ihr Einwand hat in mir noch lange nachgewirkt.

Müssen wir uns verbessern?

In vielen verschiedenen Zusammenhängen begegnet es mir, dass Menschen meinen, sie müssten sich selbst verbessern. Unsere ganze Welt suggeriert uns das. Wir sollen schöner, schlanker, selbstbewusster, erleuchteter oder erfolgreicher werden. Überall tun sich Möglichkeiten auf, wie wir an uns selber arbeiten können und dabei stellt sich mir vor allem eine Frage. Warum tun wir das?

Ja, es ist sicher erstrebenswert, an sich zu arbeiten. Natürlich macht es Sinn, zu Üben um freier zu singen. Aber was ist meine Motivation dahinter?

Mangelhaft

Für mich gibt es zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Nämlich erstens: Ich tue das, weil ich mich unzulänglich fühle. Weil ich finde, ich müsste etwas an mir verbessern. Die Grundstimmung dieser Motivation ist immer der Mangel. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, an sich arbeiten zu müssen, kann ein starker Antrieb sein. Aber in den seltensten Fällen kommen wir jemals auf ein Level, das uns zufriedenstellt. Wir werden – solange Mangel unser Grundgefühl ist – immer etwas finden, was noch verbessert werden sollte. Werden immer noch etwas finden, mit dem wir nicht zufrieden sind, werden immer einen Kollegen finden, der die Dinge noch besser kann. An dieser Stelle halte ich den Begriff Selbstoptimierungswahn für sehr passend.

Freudvoll

Und was ist die andere Antwort? Der Motor für unser Lernen ist der Wunsch nach freiem Ausdruck, nach Freiheit im Allgemeinen und vor allem die Freude am Tun. Dieser Aspekt ist in unserer Gesellschaft bisher noch kaum akzeptiert und viel zu selten erlauben wir uns, diese Art der Motivation als unsere Triebfeder zu nutzen. Wenn wir unserer inneren Freude folgen, sind wir in einem ganz anderen Zustand, als wenn wir uns mangelhaft fühlen. Wir brauchen uns nicht permanent selbst kritisieren.

Natürlich hat jeder von uns ungenutztes Potential. Aber wenn wir der Freude und unserer persönlichen Neugier folgen, werden wir uns nicht bestrafen, sondern mutig und motivert vorangehen. Das ist für mich eine völlig andere Spur.

Brückenschlag

Und dann machen wir eine Übung auch aus ganz anderen Gründen, als wenn wir uns vor allem auf die Lösung eines Problems konzentrieren. Wir forschen, wir erleben, wir experimentieren offen mit unserer Stimme. Und ich finde es dann mehr als legitim, den Brückenschlag zwischen einer spielerischen Übung und einer „ernsthaften“ Singsituation zu versuchen. Vielleicht hat mir die Übung oder die Improvisation einfach unglaublich viel Freude bereitet. Freude, die mir bisher beim Singen fern ist. Vielleicht bin ich einfach gerne in diesem Zustand der spielerisch-leichten Stimmbenutzung. Und mein innerster Wunsch ist es, diese Freiheit, dieses Glück auch beim Singen von Literatur zu empfinden. Dann sehe ich das Ganze ganz und gar nicht als Selbstoptimierungswahn.

Warum?

Jeder von uns möchte sein Potential entfalten. Jeder sehnt sich danach, sich in seiner vollen Größe zu zeigen. Die Frage ist immer, ob ich das tun möchte, weil ich mich eigentlich mangelhaft und klein fühle oder weil ich eine Begeisterung für etwas empfinde. Weil die Welt das von mir erwartet oder weil ich diese Größe in mir schon erahne und ich es kaum erwarten kann, das was in mir ist, nach Außen zu bringen.

Ist das nicht reine Gedankenspielerei? Ja, vielleicht. Aber in mir und in vielen Menschen, mit denen ich arbeite, macht das definitiv einen großen Unterschied.

Wie soll das gehen?

Der ein oder andere wird jetzt fragen: „Wie kann das denn in der Praxis aussehen? „Ich kann doch nicht immer nur meiner inneren Freude folgen? Wo führt das denn hin? Wenn ich etwas nicht kann, muss ich das doch üben? Wenn mein Lehrer oder mein Chorleiter mir sagt, ich solle das beim nächsten Mal endlich auswendig können, muss ich doch diszipliniert sein und an mir arbeiten? Oder?

Ja und nein. Die Neurowissenschaft weiß längst, dass wir schneller, effektiver und nachhaltiger lernen, wenn wir eine innere Motivation haben. Kinder lernen bevor sie in die Schule kommen fast nur so. Und ich möchte sagen, es funktioniert.

Probleme und Bedürfnisse

Und auf jeden Fall kommt es auf einen Versuch an. Natürlich ertappe ich mich selbst auch immer wieder dabei, dass ich bei mir oder meinen Schülern oder Studenten ein Problem erkenne und es am liebsten sofort „beseitigen“ möchte. Der Stimmschluss ist nicht gut, der Atem schiebt, die Töne sind intonatorisch nicht sauber. Klar. Das kennt jeder Gesangspädagoge und jeder Chorleiter. Und es ist ganz sicher gut und wichtig, die Probleme zu erkennen und eine Lösung im Hinterkopf zu haben. Aber ich kann aus Erfahrung sagen, die Lösung des Problems wird nur auf fruchtbaren Boden fallen, wenn wir an ein inneres Bedürfnis des Lernenden anknüpfen können.

Die Suche beginnt mit Freude

Wenn wir dem Schüler durch eine Übung zeigen können, wie leicht sich singen anfühlen kann (und dazu kann z.B. auch ein verbesserter Stimmschluss gehören), dann wird er in seine Freude und Neugier gelockt. Dann wird er im besten Fall beginnen, sich selber weiter auf die Suche zu machen. Und manchmal führt diese Suche ganz und gar nicht zu dem Ziel, das wir als nächstes anvisiert haben, sondern ganz woanders hin. Auch wenn mich das im Unterrichten immer wieder einen kurzen Moment irritiert, habe ich doch über die Zeit gelernt, wie sehr es sich lohnt. Und ich glaube ganz fest daran, dass sich nur auf diesem Wege wirklich das stimmliche, musikalische und menschliche Potential eines Sängers entfalten kann.

Fehler machen

Als ich vor ein paar Tagen mit einem befreundeten Pianist darüber sprach und ihm erklärte, wie mein Unterrichten funktioniert und warum ich glaube, dass es ein Umdenken in der Gesangs-, Instrumental-, Musik-, und allgemeinen Pädagogik geben muss, brachte er noch einen ganz wichtigen weiteren Gedanken an. Er sagte: „Aber, dann musst Du den Leuten ja erlauben Fehler zu machen. Das will keine Hochschule. Das will kein Profi.“

Ja, genau! Genau das ist es. Das versuchen die meisten von uns mit allen Mitteln zu vermeiden. Da hat der Kollege wahre Worte gesprochen.

Gefährliche Fehler

Solange wir uns im Mangeldenken befinden, sind Fehler gefährlich. Fehler gefährden unser wackliges Selbstbewusstsein und verdeutlichen uns ein weiteres Mal, dass wir mangelhaft und unzureichend sind. Aber wenn wir uns nicht gestatten „Fehler zu machen“ oder nennen wir es mal „unerwartete und zunächst augenscheinlich nicht zielführende Ereignisse“ zuzulassen, werden wir uns nicht wirklich weiterentwickeln. Wir werden vielleicht besser im Vermeiden von Fehlern, aber wir werden nicht unser ganzes Potential ausschöpfen.

Wachstum

Erst wenn wir aus dem Mangeldenken aussteigen und nicht mehr aus einem Selbstoptimierungswahn heraus beginnen zu üben und voranzugehen, sondern aus Begeisterung, Neugier und Freude, können wir jede Erfahrung nutzen und uns von unserer Entdeckerlust leiten lassen. Und dann werden wir lernen. Es geht gar nicht anders.

Erst wenn wir von einem echten, großen (oder auch kleinen) inneren Bedürnis angetrieben werden, geschieht wirklich Wachstum. Wachstum ist etwas anderes als Optimierung. Etwas ganz anderes.

Ich wünsche eine Zeit voll freudiger unvorhergesehener Ereignisse

Anna Stijohann