Übungen machen den Meister?!

Brauchen wir Gesangsübungen um Singen zu lernen? Manche Lehrer schwören auf ihre Übungen. „Wenn Du die regelmäßig machst, wirst Du Erfolg haben.“ Andere sagen: „Wir brauchen keine Übungen, keine Tonleitern, kein „Training“. Alles ist schon da, es gilt nur die Dinge zu entdecken. Für mich persönlich ist in allem ein Körnchen Wahrheit zu finden. Aber das Wichtigste für mich ist, mit welcher inneren Einstellung wir üben und Übungen machen.

Allerhand Übungen

Es gibt Intervallübungen, Muskelkräftigungsübungen, Isolations- und Integrationsübungen, Dynamikübungen, Vokalausgleichsübungen und noch so viele mehr. Einige finden auf einem Ton statt, andere bedienen sich kleiner Phrasen oder Skalen. Manche nutzen bestimmte Vokale, andere Konsonanten, einige bewegen sich in der Mittellage, andere loten Grenzen aus. Aber was ist eigentlich der Sinn all dieser Übungen? Nicht im konkreten, sondern im übergeordneten Sinne?

Was wir erreichen möchten

Wir möchten uns verbessern, aber was bedeutet das eigentlich? Wir möchten unser Instrument immer besser und sicherer beherrschen lernen, es mühelos benutzen und vor allem – das ist mir persönlich das Wichtigste – immer weniger denken und aktiv steuern müssen beim Singen. Wir möchten uns „auskennen“ mit unserer Stimme. Wie in einer Stadt, die wir wie unsere Westentasche kennen, möchten wir uns dort frei bewegen können, Augen und Ohren frei haben für Begegnungen und feinste Veränderungsnuancen. Dazu kann es hilfreich sein zu wissen, wie wir von Ort A zu Ort B gelangen, in welchem Takt der Bus kommt und wann die Geschäfte geöffnet sind.

Orientierung schaffen durch Erfahrungen

Um im Bild zu bleiben; es gibt verschiedene Möglichkeiten sich mit einem Ort oder einer Tätigkeit vertraut zu machen. Ich kann wieder und wieder den Stadtplan und die alphabetische Liste aller Straßennamen studieren. Ich kann immer wieder üben, mich an den Himmelrichtungen zu orientieren und klar – lesen zu können kann bei der Orientierung nicht schaden. Aber wirklich vertraut machen, kann ich mich nur durch Erlebnisse. Das Gefühl zuhause zu sein, sich wohl und sicher bewegen zu können und eine gute Zeit ohne zu große Orientierungslosigkeit zu haben auch wenn ich an einem Ort bin, den ich noch nicht lange kenne, stellt sich vor allem dann ein, wenn ich Erfahrungen mache. Je mehr und je vielfältiger desto besser.

In wie weit bin ich innerlich beteiligt?

Zurück zu den Übungen. Nahezu jede Art von Übungen hat also meines Erachtens nach seine Berechtigung. Allerdings macht es einen großen Unterschied, mit welcher inneren Wachheit ich diese ausführe. Wo liegt meine Aufmerksamkeit? Führe ich die Übungen aus, weil sie eben „zu meinem täglichen Übeprogramm gehören“ oder weil das Aufwärmen im Chor eben immer genauso abläuft? Dann besteht die Gefahr, dass ich nicht mit voller Aufmerksamkeit anwesend bin. Dass ich automatisch ein Programm abspule und mich so um die Möglichkeit bringe, wirklich etwas zu lernen. Denn nur wenn wir wach sind, können wir neue Erfahrungen machen oder vorhandene vertiefen und somit lernen.

Die Erlaubnis Fehler zu machen

Manchmal ist dieses „Wach-Sein“ einfacher, wenn wir nicht eine bestimmte Übung machen, sondern frei experimentieren. Bei einer Übung haben wir oft das Gefühl, wir müssten es richtig und gut machen und alleine das kann schon hinderlich sein auf unserem Lernweg zu mehr Freiheit. Denn die Erlaubnis Fehler zu machen und selber einen Weg zu finden sind dafür unerlässlich. Treffe ich die Töne? Singe ich die richtigen Vokale? Führe ich die Übung genauso aus, wie mein Lehrer es von mir fordert? Ist der Klang schön? Diese Fragen sind gerade für Anfänger sehr wichtig und gleichzeitig hinderlich, weil ein großer Teil der Aufmerksamkeit genau dadurch gebunden wird.

Freiheit schaffen

Aus diesem Grund bevorzuge ich in vielen Fällen das freie Tönen. Viele Dinge können so ebensogut geübt werden, wie auf festgelegter Tonhöhe. Resonanz, stimmliche Beweglichkeit, verschiedene Vokale und ihre Übergänge sowie die Anbindung der Stimme an den Körper können so oft viel direkter erlebt werden. Und eine Kombination aus freiem Tönen und einer festgelegten Tonfolge kann dann ein Schritt in Richtung Anwendung des Erlebten in der Musik sein.

Ich lasse z.B. meine Schüler häufig ein wenig auf dem Klinger ng (nicht „singend“, sondern als harmloses „Geräusch“) herumtönen. „Krickellakrack auf ng“ nenne ich es meist. Mit diesem Glissando taste ich mich an einen bestimmten Ton heran, der dann wiederum als Startton für eine Übung oder eine Phrase in einem Lied fungieren kann. Was bleibt aus dem ng? Die Resonanz? Der Stimmsitz? Die Leichtigkeit im Hals?

Vom natürlichen Gebrauch der Stimme lernen

Meist können Menschen, wenn sie keine vorgegebene Tonhöhe haben, erstaunlich flexibel mit ihrer Stimme umgehen. Brüche sind in den wenigsten Fällen ein Thema und der Stimmklang lehnt sich an den natürlichen Klang des Sprechens an. Und sobald es ums „echte Singen“ geht, verschwindet diese Selbstverständlichkeit wieder. Schade. Zwischen dem natürlichen, spielerischen Gebrauch der Stimme und dem Singen gilt es dann, wieder Brücken zu bauen. Und diese ergeben sich vor allem durch waches Wahrnehmen und Erleben.

Das Wichtige sind die Fragen

Wie fühlt sich die Stimme an, wenn ich klangvoll spreche? Was kann ich davon mitnehmen ins Singen? Wo resoniert ein bestimmter Vokal, wenn ich mit ihm spielerisch verschiedenen Höhe, Tiefen und Klangnuancen auslote? Wie kann ich das wiederum mitnehmen in die Literatur? Wie fühlt sich der Zugriff der Stimme an, wenn ich z.B. Kratteltöne mache, lache, jubel oder rufe? Wie sucht sich mein Körper seine unterstützende Ausgleichaktivität wenn ich niese, die Lippen flattern lasse, in einen Silikonschlauch blubbere oder mit einer bestimmten oder frei gewählten Bewegung töne?

Vielschichtig wahrnehmen statt bewerten

Welche Fragen ich mir stelle ist entscheidend für das Ergebnis meines Übens. Frage ich mich lediglich: Mache ich das richtig oder falsch? Oder finde ich immer wieder neue spannenden Aspekte meiner Aufmerksamkeit? Immer feiner und differenzierter, vielschichtiger und somit tiefer kann mein Verständnis nur werden, wenn ich neugierig bleibe und ergebnisoffen übe. Was nicht bedeutet, dass ich nicht auch Koordinationsübungen, Kräftigungsübungen oder Übungen zu ganz spezifischen stimmlichen Aktivitäten machen sollte. Das Wichtigste dabei bleibt aber die Frage: Was erlebe ich dabei?

Routine vermeiden

So kann ich auch altbekannte Übungen frisch halten. Jedes Mal mit einer neuen Aufmerksamkeitsaufgabe versehene Einsingübungen ermöglichen, dass ein Schüler oder der Chor nicht in Routine verfällt. Die Erlaubnis zu experimentieren und vor allem Fehler zu machen hilft, den Druck auf ein Minimum zu reduzieren und die Lernlust zu steigern. Hilfreiche Fragen neben gezieltem Lenken der Aufmerksamkeit auf z.B. körperliche Empfindungen können sein: Gab es etwas, das sich neu oder interessant angefühlt hat? Hast Du etwas erlebt, das Dich überrascht hat oder war alles wie immer? Kannst Du mit Deinen eigenen Worten beschreiben, was Du erlebt hast?

Übungen als Richtschnur

Ein wichtiger Aspekt kleiner, überschaubarer Übungen, die sich z.B. ganz auf einen Aspekt der Stimmgebung konzentrieren oder nur mit wenig Tonmaterial auskommen, ist die Chance, Dinge quasi mit der „Lupe“ zu betrachten. Mehr Zeit als in einem Song, höhere Genauigkeit in der Aufmerksamkeit, ein begrenzter Raum um etwas auszuprobieren, ohne dass ich einen bestimmten musikalischen Anspruch haben muss. Im Gegensatz zum freien Tönen kann mich der Lehrer auch mal gezielt in Regionen meiner Stimme locken, die mir sonst fremd sind. Er hilft mir sozusagen, „mit der Taschenlampe in Ecken zu leuchten“, die mir bisher unbekannt oder unbehaglich waren.

Das Übelied

Ein sehr wichtiger Aspekt für mich persönlich, aber auch mit meinen Einzelschülern und in meinen Kursen, ist das Übelied. Jeder sollte eines oder mehrere haben 🙂

Ein leichtes Lied mit einer schönen Melodie, das Freude macht und dass man auch nach dem hundertsten Mal noch gern singt – ein Volkslied vielleicht. Ein Stück, das erstmal keinem bestimmten Gestaltungsideal unterworfen ist und das weder rhythmisch noch vom Umfang her zu komplex wäre um es einfach so a capella vor sich hinzusingen. Dieses Lied sollte mir außerdem nicht zu „heilig“ sein, um damit herumzuexperimentieren. Klänge oder Resonanz testen, körperliche Übungen ausführen, mit Spielzeugen spielen, Artikulation üben (z.B. Die Haferflocke) usw.

Singlust

Das Übelied stellt für mich die Brücke zwischen dem Üben und dem eigentlichen Musizieren dar. Und es kann auch für mich selbst immer wieder ein Spiegel, eine Referenz sein. Wie geht es meiner Stimme heute? Was brauche ich? Wie steht es um meine innere Singlust? Denn die sollte – auch bei den Übungen – immer vorhanden sein, gepflegt oder hervorgekitzelt werden. Denn was ist Singen ohne Freude? Sinnlos meines Erachtens. Wahre Meisterschaft braucht in jedem Fall Begeisterung für das, was ich tue. Ob mit oder ohne Übungen.

In diesem Sinne wünsche ich fröhliches Üben,

Anna Stijohann