Wieviel muss ich üben?

Jeder Musiklehrer kennt diese Frage. Wieviel muss ich denn üben? Oder ein Schüler kommt am Anfang einer Stunde und beichtet: „Ich habe mal wieder nicht geübt.“ Manche kokettieren fast damit. „Ich üb ja nicht, aber …“ oder „Wenn ich üben würde, wäre das wahrscheinlich anders.“ In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bietet diese Frage auf jeden Fall reichlich Konfliktpotential. Das weiß ich noch gut aus eigener Erfahrung. In meiner Arbeit im STIMMSINN und auch als Chorleiterin habe ich aber vor allem mit Erwachsenen zu tun und wundere mich doch das ein oder andere Mal, wenn mir Menschen diese Frage stellen. Meine Antwort ist stets die gleiche. Niemand muss üben, aber, ja, es hilft voran zu kommen.

Woher kommt der Druck?

In unserer Leistungsgesellschaft tun wir die allerwenigsten Dinge einfach, weil sie Freude machen. Wir beschäftigen uns vor allem mit „sinnvollen“ Dingen und betreiben Daueroptimierung. Natürlich ist mir das klar und natürlich ist das Lernen eines Instruments – und dazu zähle ich auch den Gesang – mit Übung verbunden. Dennoch versuche ich meine Schüler auf eine andere „Übeschiene“ zu locken. Ich arbeite im Unterricht sehr spielerisch und versuche die Entdeckungslust und Experimentierfreude der Menschen wieder zu wecken. Denn nur so kann wirklich nachhaltiges Üben stattfinden. Wenn ich mir meinen knapp dreijährigen Sohn anschaue, kann ich viel übers Üben lernen. Er übt allerhand Dinge jeden Tag. Mit einigen Dingen beschäftigt er sich, weil er sie gerne können möchte. Zum Beispiel selber Saft einschenken, Kaffee kochen, den Computer bedienen. Aber egal was er übt, eine Bedingung muss immer erfüllt sein. Das, was er tut, muss interessant genug sein, sich damit zu beschäftigen und vor allem Spaß machen.

Wenn mich etwas interessiert, beschäftige ich mich damit

Genau diesen Grundsatz versuche ich meinen Schülern nahezulegen. Habt Vertrauen! Wenn wir etwas im Unterricht machen, einen Stein anstoßen, ein neues Singgefühl erkunden oder ein neues Musikstück anfangen, dann werdet ihr schon üben. Und wenn nicht, dann ist das, was wir gemacht haben, noch nicht interessant genug. Dann braucht es vielleicht noch eine andere Anregung oder der Moment ist einfach nicht der richtige. Irgendwann siegt die persönliche Neugier. Neulich kam z.B. eine meiner Anfängerinnen in den Unterricht und erzählte total begeistert davon, wie sie „so richtig lange“ zuhause mit einem Ball im Rücken an die Wand gelehnt und in Bewegung gesungen hatte und dabei „ganz tolle Sachen“ entdeckt hat. So ähnlich hatten wir es im Unterricht auch gemacht und offensichtlich hatte der Sog der Neugier sie gepackt.

Üben heißt nicht nur Tonleitern rauf und runter singen

Manchmal fragen mich Schüler nach einer tollen, experimentellen und spielerischen Stunde, „was sie denn jetzt üben sollten?“. Menschen können sich kaum vorstellen, dass Gesang-Üben nicht notwendigerweise mit dem Singen von Tonleitern oder anderen Übungen, die schwierig sind und harter Arbeit bedürfen, verknüpft ist. Die „Spielchen“, die wir im Unterricht machen, nehmen Schüler, die mich und meine Arbeitsweise noch nicht so gut kennen, manchmal gar nicht so ernst, als dass es sich lohnen würde, diese Dinge zuhause zu „Üben“.

Üben darf leicht gehen und Freude machen. Denn sonst kann ich es mir gleich sparen. Wir möchten mit Freude Singen, warum sollten wir nicht mit Freude üben?

Die Dauer ist nicht entscheidend

Meine Lehrerin in der Musikhochschule hat mir zu Beginn meines Studiums gesagt, ich solle bloß nicht zu viel üben. Das hat mich verwundert. Sie wollte mich damit vor zu verbissenem Üben warnen. Aber auch vor unbedachtem, zeitabsitzendem Üben, stupidem Tonleiterjodeln und Tönebimsen. Die Zeit in der ich übe ist nicht entscheidend. Ich kann eine Stunde üben und es bringt überhaupt nichts, oder ich kann fünf Minuten üben und ich entdecke etwas Elementares, das mich in meinem Singen wirklich voran bringt. Wichtig ist, mit welcher Aufmerksamkeit ich bei der Sache bin. Wenn ich wirklich eintauche in ein Spiel oder eine Übung und das Wesentliche erlebe und es mir wichtig und einprägsam erscheint, reicht das häufig schon als Anstoß für Veränderung und Weiterentwicklung. Neu und interessant sind dabei Schlüsselworte, die uns zeigen können, wohin der Weg weitergeht. Dieses Neue ganz intensiv wahrzunehmen und in eigene Worte zu fassen hilft dem Körper, der Stimme und dem Verstand die Dinge zu begreifen, die dann beim nächsten Mal als Anknüpfungspunkt dienen, das Verständnis noch weiter zu vertiefen.

Auch Wahrnehmen kann man üben

Die wichtigste Voraussetzung für ein Lernen, das aus dem Schüler selbst passiert, ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung. Das kann die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner inneren Zusammenhänge oder Schwingungsfähigkeit sein, aber auch das Lauschen auf die feinen hörbaren Unterschiede der Stimme im Raum oder in ihrer inneren Resonanz. Auch das Wahrnehmen der eigenen Denk- und Lernmuster kann man üben. Je genauer wir lernen die Dinge wahrzunehmen, wie sie sind, desto feiner und effektiver können wir üben. Wer seine eigenen Verspannungen wahrnimmt, hat eine größere Chance sie zu lösen. Wer merkt, dass das Singen plötzlich weniger anstrengend ist, wird wieder nach dieser Leichtigkeit suchen, wer unterschiedliche Resonanzräume erlebt, kann sich mit seiner Stimme besser orientieren.

Auch Wahrnehmen kann und muss man üben. Das braucht Zeit, ist aber von elementarer Bedeutung. Und das Gute daran: Wahrnehmen üben können wir immer und überall.

Üben im Alltag

Als Sänger haben wir gegenüber den Instrumentalisten einen entscheidenden Vorteil. Wir tragen unser Instrument immer und überall mit uns herum. Somit ist es möglich immer und überall zu üben ohne sich extra Übezeit nehmen zu müssen. Dieses Üben im Alltag wird oft unterschätzt oder gar nicht als solches erlebt. Wie schade, denn genau hierhin bahnen sich die Dinge ihren Weg, die uns bedeutsam erscheinen. Die Erinnerung an eine Übung oder ein Gefühl aus dem Unterricht taucht plötzlich auf und wir können uns ihr direkt widmen. Wir können beim Blumengießen die Unabhängigkeit von Lippen, Zunge und Kiefer üben, können mit dem Fahrrad über Kopfsteinpflaster fahren um die Stimme loszuschütteln (vgl. Geschüttelt nicht gerührt). Wir können in der Straßenbahn auf unseren Atem lauschen oder innerlich den Beckenboden erkunden. Beim Telefonieren können wir unbeobachtet unser Becken oder den Brustkorb in Bewegung bringen (vgl. Bewegung als Schalter) und dabei vielleicht sogar merken, dass wir den Menschen am anderen Ende der Leitung direkter erreichen als vorher.

Singen üben hat viele Ebenen

Üben hat viele verschiedene Facetten und es kann sehr helfen, sich selbst und die Schüler immer wieder daran zu erinnern. Seine Stimme zu erkunden kann losgelöst von einem musikalischen Kontext sinnvoll sein, aber auch mal mitten drin. Mal möchte ich eine Stelle oder ein Problem ganz genau unter die Lupe nehmen, mal suche ich größere Zusammenhänge. Ein Lied können heißt nicht nur zu wissen, wann ich welchen Ton mit welchem Text singen muss. Ich möchte mir auch innere Bilder erschaffen und einen mir passenden Spannungsbogen finden. Das kann ich in Gedanken auch morgens an der Bushaltestelle. Rhythmen lassen sich hervorragend beim Gehen erforschen. Auch das aufmerksame Hören von Musik gehört für mich zum Üben. Solange ich mich irgendwie mit meiner Wahrnehmung oder etwas anderem, das im weitestens Sinne mit meiner Stimme, meinem Körper, meinem Atem, einem Musikstück oder sonstigen musikalischen Phänomenen zu tun hat, beschäftige, übe ich.

Üben in der musikalischen Wirklichkeit

Sobald die allerersten musikalischen Schritte gegangen sind, wird das Üben in der musikalischen Wirklichkeit wichtig. Such Dir einen Chor oder eine Band, sing mit Freunden oder begleite Dich selbst auf der Gitarre! Das rate ich meinen fortgeschrittenen Anfängern. So lernen sie nach und nach, selber die Verantwortung für ihr weiteres Lernen zu übernehmen. Ich als Lehrer werde immer unwichtiger bzw. kann dann im Unterricht viel gezielter auf Dinge eingehen, die der Schüler in anderen Zusammenhängen selber schon erforscht hat. Beim feuchtfröhlichen Rudelsingen mit hundert anderen Sängern kann ich im Schutz der Gruppe meine Scheu überwinden. Im Chor bekomme ich durch den Chorleiter und die musikalischen Anforderungen neue Anregungen. Das, was ich schon gelernt habe, kann sich festigen und neue interessante Fragen tauchen auf. Ich bekomme ein Gefühl dafür, was mir bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist und kann lernen zu dem zu stehen, was gerade ist.

Der eine übt, der andere nicht

Üben heißt für mich, Zusammenhänge erkennen. Habe ich für eine Sache wirklich Feuer gefangen, habe ich auch Lust diese immer wieder aufzusuchen. So kann ich an meinen Aufgaben wachsen. Wer sich nicht immer wieder selber auf diese Suche begibt, kommt nicht voran, denn kein Gesangslehrer, kein Chorleiter, kein Bandleader und auch sonst niemand kann das stellvertretend übernehmen. Natürlich gibt es neugierige Zeiten und weniger neugierige. Ebenso neugierige Menschen und weniger neugierige.

Ich als Lehrer und Chorleiter der äußerst lernhungrigen Spezies muss mir das immer wieder vergegenwärtigen und meine Ungeduld zügeln, wenn ich zum x-ten Mal versuche in einem Schüler oder einem Chor die Übelust zu entfachen.

Jeder muss selber entscheiden, wieviel er üben will. Nichts muss, aber es hilft ungemein.

Neue Übelust und gierigen Lernappetit wünscht,

Anna Stijohann