Stimmbildung und Embodiment

Meine große Leidenschaft ist die Körperarbeit. Dass Körper und Stimme zusammengehören, ist den meisten Menschen bekannt, aber wie und in welchem Maße dies geschieht – das sieht und erlebt jeder ganz anders.

Beziehung zwischen Stimme und Körper

Singen ist eine körperliche Angelegenheit. Für den einen, weil die Stimmgebung durch eine Kooperation von Atem und Stimmmuskulatur geschieht. Für den nächsten, weil der Körper die Stimme unterstützt und für den Dritten, weil der Körper als Resonanzkörper für die, durch die Stimmuskulatur erzeugten, Töne dient. Ich gehe noch weiter. Stimme und Körper sind nicht zu trennen. Und damit meine ich nicht nur den Teil des Körpers, der oberhalb des Bauchnabels liegt, sondern den ganzen Körper. Den ganzen Körper mit all seinen Knochen, Muskeln, Faszien, Organen, Flüssigkeiten, Räumen, Häuten und Zellen. Der gesamte Körper ist das Instrument.

Den Körper bewohnen

In meiner Welt ist der Körper nicht nur das Werkzeug, das uns das Singen ermöglicht. Den wir benutzen „um zu“ singen, der uns unterstützt, der das Singen ergänzt. In meiner Singwelt geht es darum, die Stimme wirklich zu „verkörpern“, den eigenen Körper zu bewohnen und sich dort zuhause zu fühlen. Der englische Begriff Embodiment (ungefähr zu übersetzen mit „Verkörperung“) ist in den vergangenen Jahren ganz langsam immer mehr in den Fokus der Öffenlichkeit gerückt. Aber was bedeutet das eigentlich? Und was sind die Auswirkungen dessen auf unser Singen und unsere Tätigkeit als Gesangspädagogen?

Was ist Embodiment?

Embodiment ist das erlebte Wissen darum, dass Körper, Geist und Psyche nicht voneinander getrennt existieren. Sie stehen in gegenseitiger Wechselwirkung und in der Arbeit mit der Stimme berühren und durchdringen sie sich permanent. Diese Wechselwirkungen zu spüren, sie immer tiefer zu erforschen und sich ihrer mehr und mehr bewusst zu werden, ist ein ganz wichtiger Aspekt meiner Arbeit. Stimme ist ein Phänomen, das ohne Embodiment gar nicht zustande käme.

Stimme zwischen Körper und Kontakt

Phonation ist ein körperlicher Vorgang. Muskulatur und Gewebe unserer Stimmlippen werden durch die Atemluft zum Schwingen gebracht. Die dadurch entstehenden Vibrationen werden durch unsern Resonanz-Körper verstärkt und gelangen schließlich als Klang an das Ohr unseres Gegenübers. Und damit kommt schon der zweite Aspekt der Stimmgebung ins Spiel: Stimme ist Kommunikations- und Kontaktmittel. Diese Funktion der Stimme ist nicht von der muskulären Aktion zu trennen. Wir singen, sprechen und lachen um mit unserer Umwelt in Kontakt zu kommen, Informationen auszutauschen und uns zu verbinden.

Stimme als Ausdruck unserer Gefühle

Stimme ist Ausdruck unserer Geisteshaltung und die einmalige Möglichkeit unsere Gedanken und Gefühle mit der Welt zu teilen. Unser emotionales Innenleben wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Stimme. Etwas verschlägt uns die Sprache, die Stimme versagt, weil ein Gefühl uns übermannt oder wir juchzen, johlen und jubeln, weil uns etwas über die Maßen freut. Ebenso beinflusst jedes Gefühl unsere Körperhaltung und die Funktionen unseres ganzen Körpersystems. Das autonome Nervensystem reagiert völlig selbstständig und ohne unser Zutun auf alles, was wir erleben. Es steuert nicht nur das Maß an Reaktionsbereitschaft unserer gesamten Muskulatur, sondern auch unser Bedürfnis zu kommunizieren. Stimme ist gelebtes Embodiment.

Was ist Stimmbildung?

Wie wirken sich diese Erkenntnisse nun auf meine Arbeit als Gesangspädagogin aus? Am deutlichsten wird es mir, wenn ich Kolleg*innen begegne, die sich im weiten Feld der „Stimmbildung“ tummeln. Auch ich würde mich hier verorten, denn meine Hauptaufgabe ist es in der Regel, den Menschen (wieder) einen Zugang zu ihren vielfältigen stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen und ihnen zu helfen, ihr Instrument besser kennen zu lernen. Und doch stehe ich manchmal völlig verwirrt da, wenn Kollegen und Kolleginnen von ihrer stimmbildernerischen Arbeit berichten oder bei Kongressen darüber gefachsimpelt wird. Stimmbildung ist in den allermeisten Fällen die Beschäftigung mit der Funktion der Stimme, das Kennen- und Beherrschenlernen der beteiligten Muskeln und Räume, sowie das Erforschen und die Optimierung des Schwingungsverhaltens (vgl. Anna wird syng:TRAINER).

Ja, aber wenn das Stimmbildung ist, was mache ich denn dann eigentlich?

Mühelosigkeit stärkt das Selbstvertrauen

Wie schon oben erwähnt, ist es mir ein Anliegen, dass wir unsere Stimme wirklich verkörpern. Die Fähigkeiten zu erwerben, die wir auf dem Weg dahin brauchen, ist meine Art der Stimmbildung. Natürlich gehört die Arbeit mit der Stimme an sich dazu, aber sie macht doch nur einen kleinen Teil der Arbeit aus. Dass Stimme mühelos passiert, mit der Zeit immer mehr Klangfarbenvielfalt entsteht und wir in der Lage sind, die technischen Herausforderungen musikalischer Literatur zu meistern, ist ohne Zweifel wichtig. Eine bewegliche, frei schwingende Stimme lässt unser sängerisches Selbstbewusstsein wachsen und gibt uns Sicherheit.

Nicht nur Können sondern Sein

Und doch wünsche ich mir, dass wir das Singen nicht nur beherrschen, nicht nur können, sondern, dass wir mit unserm ganzen Sein involviert sind. Dazu gehört, dass wir nicht nur Dinge erfüllen können, sondern im Singen wirklichen Genuss und Freude erleben. Dass wir in der Lage sind, uns durch das Singen ehrlich und authentisch auszudrücken. Das was innen ist, möchten wir im Außen zum Klingen zu bringen. Diese Verbindung von innen und außen, die uns als Kind selbstverständlich war, gilt es wieder zu entdecken. Das ist für mich ein zweiter wichtiger Teil von Stimmbildung.

Kinder sind

Bevor wir wussten, was beim Singen und Tönen richtig oder falsch war, lief unsere Stimme von alleine mühelos. Ich staune immer wieder, wie meine Kinder innerhalb von 10 Sekunden rauhe, dunkle Klänge, durchdringendes Schreien und hellste Glocktöne bis in die vierte Oktave, abwechseln können. Die Muskeln wissen was zu tun ist, sind frei von Über- oder Unterspannung und das unmittelbare Erleben des kindlichen Ausdrucks ist für jeden ersichtlich vom Scheitel bis zur Sohle spürbar. Mit dem Erwachsenwerden und der Entdeckung des zivilisierten Verhaltens, verschwindet diese unmittelbare Verbindung zu unserer Stimme. Ist es nicht sinnvoll, diese wieder zu beleben? Wenn wir an unser Ausdrucks- und Kommunikationsbedürfnis anknüpfen, erledigen sich die allermeisten stimmlichen Probleme und Herausforderungen von selbst.
Ist das nicht Stimmbildung?

Embodiment braucht Körperarbeit

Als wichtigste Säule meiner Art der Stimmbildung zeigt sich die Körperarbeit. Unser Körper hat alles erlebt, was wir erlebt haben. Dort sind alle Emotionen gespeichert. Unser Körper ist wie er ist, weil wir erlebt haben, was wir erlebt haben. Die Verknüpfungen unseres Gehirns und die feinen und groben Strukturen unseres Körpers gehen direkt miteinander einher. Wenn man uns als Kind gesagt hat, wir sollten nicht so laut sein, weiß unser Körper darum und wird es weitestgehend vermeiden, sich durch laute oder hohe Töne, bemerkbar zu machen. Die rein kognitive und evtl. noch emotionale Betrachtung dieser inneren Prägung kann helfen ein wenig Klarheit zu schaffen, aber wenn wir nicht lernen eine neue Verkörperung für die neue innere Einstellung „ich darf meine Stimme erheben“ zu finden, wird sich immer wieder ein Widerspruch zwischen unserem Körpergefühl und unserer Absicht etwas zu tun auftun und uns am freien und stimmigen Singen hindern.

Wahrnehmen lernen

Deswegen ist für mich der wichtigste Aspekt der Körperarbeit die Wahrnehmungsschulung. Wenn wir nicht nur unsere inneren Muster, sondern auch unsere Körpermuster besser kennen, öffnet sich die Tür zu echter Veränderung. Allein durch unsere achtsame Hinwendung kann der Körper auf Selbstregulationsmechanismen zurückgreifen und nach und nach bessere Entscheidungen treffen, welche Körpermuster wir noch brauchen und welche nicht. Löst sich ein Körpermuster auf – z.B. weil wir unserm autonomen Nervensystem erlauben, alte, nicht gründlich durchfühlte Emotionen endlich zu verarbeiten – entstehen neue neuronale Vernetzungen, die es uns ermöglichen automatisierte Reaktionen hinter uns zu lassen und spontan genau so zu reagieren, wie es der Situation angemessen ist.

Innere Beweglichkeit

Um unsern Körper in einen Zustand zu bringen, wo genau dies möglich ist, brauchen wir zuallererst innere Beweglichkeit. BENITA CANTIENI beschreibt diesen inneren Zustand folgendermaßen: „Die anatomisch sinnvolle Haltung mit der höchsten Freiheit für Knochen, Gelenke, Muskeln, Sehen, Bänder, Nerven kann bewusst hergestellt werden. (…) Sie ist die Grundhaltung für alle Emotionen, sie ermöglicht es, alle (…) Stimmungen, Gefühlslagen intensiv und bewusst zu erleben, spontan zuhandeln, und anschließend wieder zurückzufinden in die neutrale Grundhaltung. (…) Ein solcherart aufgerichteter Mensch hat immer Ausstrahlung, Charisma: Es ist ihm eine sinnliche Freude, den eigenen Körper zu bewohnen“ (aus: „Embodiment“ von STORCH, TSCHACHER, CANTIENI, HÜTHER, S.115)

Improvisatorische Grundhaltung

Lernen wir diesen Zustand der Spontaneität immer besser kennen, können wir uns auch für Neues öffnen. Je öfter wir uns in diesen flexibeln Raum begeben, desto sicherer werden wir uns auch in unbekannten Situationen fühlen. Wir werden mutiger darin, uns mit Dingen zu beschäftigen, die uns bis dato fremd waren, weil wir lernen uns in der Unsicherheit sicherer zu bewegen. Das eröffnet uns ganz neue Türen zu Wachstum und Lernen. Dieser innere Zustand ermöglicht es uns Dinge zu erleben und zu erreichen, die nicht vorhersehbar sind. Diese „improvisatorische Grundhaltung“ ist für mich die unmittelbare Voraussetzung für die Stimmentwicklung und natürlich für das Singen und Musizieren im Allgemeinen.

Warum nun Embodiment konkret?

Ganz konkret und greifbar, hat die Idee des Embodiment Auswirkungen auf alles was wir tun. Wenn wir uns unserer Körperlichkeit intensiver bewusst sind, steigert das unser Gefühl von Lebendigkeit. Die ganzkörperliche Wahrnehmung führt zu einer besseren inneren Vernetzung. Klareres Erleben unserer eigenen körperlichen Präsenz ermöglicht uns eine andere Kontaktfähigkeit. Wir können tiefer mitfühlen und miterleben – sowohl mit anderen Menschen, als auch mit uns selbst. Unsere Gefühlswelt wird mehr und mehr zu einer Ganzkörperangelegenheit. Wir können intensivere Emotionen aushalten (sowohl positive als auch negative), weil der ganze Körper als „Gefäß“ dient. Das schafft Tiefe in allem was wir tun. Unser Ausdruck beschränkt sich nicht mehr nur auf Äußerlichkeiten wie Mimik und Gestik, und wird auf diese Weise immer persönlicher. Authentisches Auftreten ist ohne Embodiment nicht denkbar.

Körperkunde ist Instrumentenkunde

Beim Singen sage ich oft: Körperarbeit ist Instrumentenkunde. Unseren Körper besser zu verstehen und intensiver wahrzunehmen, bedeutet auch, unsere Stimme besser zu verstehen und anders darauf zugreifen zu lernen. Der Klang der Stimme, also das Mitschwingen des ganzen Instruments, findet nicht nur in den viel beschriebenen Resonanzräumen statt, sondern im ganzen (!) Körper. Stimmschwingung findet auch im Gewebe statt – in den feinsten Verästelungen unseres Muskel- und Fasziensystems. Diese Sichtweise mag für manche Menschen seltsam und neu sein, aber wenn wir den Zustand unseres Körpers mit dem Material und der Konsistenz eines Instruments vergleichen, leuchtet das mehr als ein. Niemand würde bezweifeln, dass der Klang einer Gitarre nicht nur von der Form des Resonanzkörpers, sondern auch von der Beschaffenheit des verwendeten Holzes und darüber hinaus von der Raumtemperatur und der Luftfeuchtigkeit abhängt.

Embodiment erleben

Unser Menschsein, die Tatsache, dass alles mit allem zusammenhängt, dass unser Geist, unsere Gefühle und unser Körper nicht nur verbunden sind, sondern sich ununterbrochen wechselseitig beeinflussen, beeinflusst die Beschaffenheit unseres Instruments Stimme. In jedem Moment, jeden Tag.

Für alle, die sich am liebsten konkret körperlich damit beschäftigen möchten, kann ich nur auf meine absolute Lieblingsübung den Taucheranzug ( und weitere Varianten davon) verweisen. Beim Arbeiten mit dieser äußeren Faszienhülle bekommt jeder – egal ob Profi oder Anfänger – einen ersten kleinen Eindruck davon, was es bedeutet, den ganzen Körper als Gefäß für den Klang zu erleben.

Wachsen ist eine Herausforderung

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass es für mich keine Stimmentwicklung ohne Persönlichkeitsentwicklung geben kann. Keine äußere Singhaltung ohne innere Singhaltung. Keinen stimmigen Klang ohne ein stimmiges Körpererleben.
Dieser Lernweg ist sicher nicht der schnellste und bequemste. Der Eine kommt schnell voran, der andere langsamer. Diese Reise erfordert viel Mut und Entschlossenheit und ganz sicher kann es nicht schaden, sich eine erfahrene Reiseleitung und gleichgesinnte Weggefährten zu suchen.

Ein lohnenswerter Weg

Aber es lohnt sich, denn wir können auf so vielen Ebenen profitieren. Sich mit seiner Stimme zu beschäftigen bedeutet auch, sich immer klarer darüber zu werden, was es eigentlich heißt, in dieser Welt seine Stimme zu erheben. Wenn wir auf bekannten Pfaden bleiben, wird sich keine Veränderung einstellen. Unser volles Potential – ganz gleich ob stimmlich oder einfach als unverwechselbares menschliches Wesen – werden wir nur entfalten, wenn wir uns in unserer ganzen Vielschichtigkeit wahrnehmen lernen. Wachsen ist nur möglich, wenn wir bereit sind für Veränderung. Stimmbildung ist Embodiment.

Reisefieber und Abenteuerlust auf dem Weg zur ganz eigenen Stimme wünscht

Anna Stijohann