Seufzen auf Krankenschein

Seit einiger Zeit biete ich einmal wöchentlich eine Körperklangstunde an. Dabei geht es nicht um schöne Töne oder Singen als Kunstform sondern um das pure Erlebnis. Es geht ums Tönen, Seufzen, Summen, Brummen, Atmen, Singen und vor allem ums Ausprobieren. Ein Experimentierraum für Stimme und Bewegung, ein Wahrnehmungsraum rund um Körper, Klang, Rhythmus und Lebendigkeit. Bei der letzten Körperklangstunde bekam ich eine besonders schöne Rückmeldung einer neuen Teilnehmerin. „Das hier sollte es auf Krankenschein geben!“

Tönen, summen, seufzen

Unser Alltag ist klangarm. Nicht geräuscharm – im Gegenteil – aber wir selbst geben nur wenig Töne ab. Abgesehen vom Sprechen sind menschliche Stimmäußerungen in unserer Gesellschaft fast verschwunden. Selbst im privaten Rahmen seufzen, jammern, jaulen oder juchzen wir nur noch selten. Dabei brauchen wir eben diese stimmlichen Ausdrücke dringend für unser Wohlbefinden. Sich stimmlich zu äußern erlaubt es uns innere Spannungen, Wohl- oder Unwohlsein nach Außen zu bringen und die damit verbundenen Gefühle auf diese Weise zu transformieren. Kinder tun das den ganzen Tag. Es vergeht kaum eine Minute, in der mein kleiner Sohn (2 ½) sich nicht stimmlich äußert. Stimme und Gemüt sind direkt verknüpft und nicht nur durch Schreien oder Quengeln bauen Kinder Spannung ab. Kinder erleben und genießen auch ihre Lust am Töne machen. Sie können stundenlang mit ihrer Stimme herumexperimentieren. Warum haben wir Erwachsene es damit so schwer? Was hält uns davon ab zu fauchen, zu schnauben, zu zischen, zu brummen und zu gackern? Und was passiert, wenn sich plötzlich ein Raum öffnet, in dem all das sein darf, ja sogar erwünscht ist?

Sich stimmlich äußern heißt sich zeigen

Jeder von uns hat das Bedürfnis, sich zu zeigen. Mensch zu sein mit allem, was zu ihm gehört. Wir möchten akzeptiert und geliebt werden wie wir sind. Doch sich zeigen ist mit einem persönlichen Risiko verbunden. Jeder von uns hat in seiner Kindheit und Jugend unzählige Male erlebt, dass er von einem Erwachsenen dafür gerügt wurde, dass er „komische Geräusche“ gemacht hat oder sich sonstwie „schlecht benommen hat“. Zu laut gelacht, zu schrill gequietscht, zu schief gesungen, zu nervig getrommelt, zu penetrant gestampft, zu wild gezappelt. Na klar, manche dieser Situationen hatte einzig und allein das Ziel dem Erwachsenen auf die Nerven zu gehen, aber viele andere sicher nicht. Sie waren Ausdruck unserer inneren Befindlichkeit und Laune oder haben einfach Spaß gemacht. Unsere Gesellschaft akzeptiert solches Verhalten bei erwachsenen Personen jedoch nicht und deswegen haben wir es uns schlicht abgewöhnt. Das Singen an sich ist dabei ein Sonderfall, denn „zivilisiertes Singen“ ist ja durchaus erwünscht. Es sei denn es findet auf der Straße, in der U-Bahn oder in einem Supermarkt statt.(vgl. Was ist eine schöne Stimme?)

Wo bleibt die Lebensfreude?

Dass wir uns kaum mehr gestatten, die Geräusche und Klänge von uns zu geben, die in uns sind und die sich eigentlich ausdrücken möchten, halte ich für äußerst ungesund. Wir schneiden uns ab von einem Teil unserer ureigensten Lebendigkeit und verneinen das, was uns menschlich macht. Ecken und Kanten, Wünsche und Sehnsüchte, Freude und Schmerz und insbesondere auch Körperlichkeit und Lust. Wir erleben Kinder genau aus dem Grund als „lebendig“ oder „lebensfroh“, weil sie sich bewegen, singen, tanzen, Geräusche machen, lachen, hüpfen und spielen. Wir Erwachsenen erleiden im Gegenzug genau deswegen oft einen Mangel an Lebendigkeit und Lebensfreude, weil wir all diese Dinge nicht tun. Und nicht nur auf der Gefühlsebene bleiben wir unter unserem Potential sondern auch körperlich. Unser faszinierender Körper kann viele Dinge selbst regulieren. Unser Nervensystem ist Spezialist darin, mit Stresssituationen umzugehen und im Anschluss daran eine innere Balance wieder herzustellen. Wichtigste Voraussetzung dafür ist unser innerer Kontakt mit dem Körper und uns selbst.

Sprung über die Schwelle

In meiner Körperklangstunde versuche ich einen Raum zu schaffen, in dem für all die oben genannten Dinge Platz ist. Über Bewegungen wird spielerisch die Stimme angeregt (vgl. Bewegung als Schalter) und durch Vorstellungs- und Wahrnehmungsaufgaben wird die Experimentierlust geweckt. Am Anfang der Stunde sind die TeilnehmerInnen meist noch sehr verhalten, aber nach und nach finden sie Freude am Ausprobieren und Erleben der eigenen Stimme. Das innere Kind wird sanft wieder hervorgelockt und es ist ein befreiendes Gefühl, Klänge und Geräusche machen zu dürfen, die man als Erwachsener sonst einfach „nicht macht“. Natürlich wird man – mich eingeschlossen – auf diese Weise auch mit Themen konfrontiert, die die eigene Persönlichkeit betreffen. Bin ich zu laut oder zu leise? Tue ich das Richtige? Wie gehe ich mit einer Anweisung um, die mir total fremd ist? Wie verhalte ich mich, wenn mich etwas begeistert oder nervt? Sich in einer Gruppe, die man vielleicht noch nicht gut oder sogar gar nicht kennt, so pur zu zeigen braucht auf jeden Fall Mut. Ist der Sprung über die Schwelle aber erstmal geschafft, kann die Freude ganz von selbst wirken. Die seelische Gesundheit und das Selbstbewusstsein profitieren alle mal.

Im eigenen Körper lebendig sein

Aber auch das körperliche Wohlbefinden wird durch die Stimmarbeit angeregt. Schon durch eine „normale Chorprobe“ werden Glückshormone u.ä. ausgeschüttet. Darüber haben andere Autoren häufig genug geschrieben. Beim freien Tönen und Singen, bei dem es in keinster Weise um ein Ergebnis sondern ums Erlebnis geht, geht die körperliche Reichweite noch tiefer. Ganz bewusst zu erleben, dass der eigene Körper schwingt, pulsiert und vibriert ist ein intensives Auskosten der eigenen Lebendigkeit. Atemrhythmus und Herzschlag bewusst wahrzunehmen bringt uns direkt in Kontakt mit dem, was uns am Leben hält. Diese Rhythmen als Basis für Improvisation und Rhythmusspiele zu nutzen (vgl. Rhythmusarbeit ist Stimmarbeit) macht nicht nur riesig Spaß, sondern lädt uns mit Energie auf und macht schlicht glücklich.

Vielschichtige Körperarbeit

Besonders auf der Faszienebene findet durch die Verbindung von Körperarbeit und Stimme Anregung statt, die sich ganz konkret in mehr Beweglichkeit und Bewegungsfreude, in müheloserer Aufrichtung und somit ökonomischerer Nutzung unserer Muskulatur äußert. Das fühlt sich gut an und ist definitiv gesund. Wenn ich mich mehr in meinem eigenen Körper zuhause zu fühle, bewege ich mich sicherer durch meinen Alltag und unsere schnelllebige Welt. Ich bin gelassener und gerate nicht so leicht in Stress. Die spürbaren Vibrationen der Stimme durchdringen den ganzen Körper und können so auch auf sehr feinen inneren Ebenen ihre Wirkung entfalten. Durch das Experimentieren ohne Anspruch auf Schönheit oder künstlerische Verwertbarkeit entdecke ich Resonanzen und Zusammenhänge ganz allein aus mir selbst heraus. Auf diese Weise wird gleichzeitig meine Wahrnehmung geschult, die für ein gutes Körpergefühl unerlässlich ist und im Endeffekt dazu führt, dass ich lerne immer genauer zu wissen was ich eigentlich brauche, damit es mir – nicht nur beim Singen – gut geht.

Aufgehoben in der Gruppe

Kann ich eine solche Körperstimmarbeit auch alleine machen? Ja und nein. Sicher ist es besser mit sich allein zu tönen und zu seufzen, als gar nicht. Jedoch ist die Wirkung einer Gruppe Gleichgesinnter nicht zu unterschätzen. Gemeinsam „Dummheiten“ zu machen ist auf jeden Fall leichter, als auf sich allein gestellt zu sein. Macht sich einer „zum Affen“, haben auch alle anderen die Erlaubnis dasselbe zu tun. Lässt einer in der Gruppe seiner Stimme freien Lauf, trauen sich auch die anderen mehr. Das erlebe ich oft in Gruppen, die von ihrer Erfahrung her sehr heterogen sind. Erfahrene Töner und Klinger ermuntern die Unsicheren, auch mehr und mehr loszulassen. Beim gemeinsamen Ausprobieren von Klängen und Improvisieren ist es wohltuend, sich mit den anderen Stimmen zu verzahnen und sich in ein Ganzes einzufügen. Und das entspricht ja auch einer unserer größten Sehnsüchte. Wir möchten dazugehören und unseren Anteil mitgestalten.

Im Sinne einer vielschichtigen, gesundheitsunterstützenden Maßnahme kann uns also nichts Besseres passieren als eine genussvolle Körperklangstunde 🙂

Ich glaube, ich rufe morgen mal bei der Krankenkasse an…

Kindliche Klanglust und tiefgreifende Gesundheit wünscht,

Anna Stijohann