Innen und Außen
Singen bewegt sich ständig zwischen Innen und Außen. Meist sind wir im Außen mit hören beschäftigt. Wie klingt meine Stimme? Treffe ich den Ton? Klingt mein Gesang so, wie ich es mir vorstelle? Im Inneren können wir spüren. Wie fühlt sich ein Ton an? Wie erfüllt der Klang mich mit Resonanz? Wo gibt es Spannung oder Gewicht?
Nur wenn Innen und Außen beide gleichermaßen präsent sind, sind wir und damit unsere Stimmen es auch. Sind wir nur im Außen, wirkt unser Gesang gekünstelt und ist in den allermeisten Fällen viel anstrengender als nötig. Sind wir nur im Innern, mag unser Singen uns selbst erfüllen, ist aber weder bühnen- noch chortauglich. Wenn wir nur in uns selbst klingen, ist es schwer mit anderen – sei es Publikum oder Mitsänger – in Kontakt zu treten. Und das ist es, was wir ja schließlich möchten: Mit dem Außen in Kontakt treten um unser Innerstes mitzuteilen. Ja vielleicht sogar, in einen echten beiderseitigen Austausch zu geraten.
Nach innen lauschen
Vielen Menschen ist es mittlerweile fremd geworden, wirklich nach innen zu lauschen. Weil unsere Welt soviel Aufmerksamkeit im Außen einfordert, aber auch weil wir in uns selbst nicht immer nur Frieden vorfinden, sondern möglicherweise auf Zweifel, Widersprüche und Ängste stoßen. Meine Lieblingsübung um den Kontakt nach innen aufzunehmen ist das „Ohren zu halten“. (vgl. Ohren auf!) Auf diese Weise kann ich mich für einen Moment von der Außenwelt abschirmen und mich ganz auf mich selbst konzentrieren. Wie geht mein Atem? Höre ich meinen Herzschlag? Wie klingt es innen in mir, wenn ich ganz sanft und suchend beginne Töne zu machen? Verschiedenene Töne, verschiedene Vokale und Klinger, kurze und lange Töne. Wie wohltuend ist es, wenn ich mich einmal ganz ohne äußere Kontrolle nur auf mein Inneres beziehen kann. Wie klingt mein Lieblingslied, wenn ich es nur für mich allein in meinem Kopf singe? Wie klingt der Text eines Liedes, wenn ich die Worte in mich hinein spreche?
Innenraum erkunden
Spannend finde ich es auch, mit den Händen kleine Schalen zu formen und diese wie Kopfhörer auf die Ohren zu setzen, so dass die Handkanten und der Daumen Kontakt mit den Schädelknochen haben. Wie kleine Muscheln, in denen man das Meer rauschen hören kann, kann ich, wenn ich nun töne, eine starke Resonanz im Kopf wahrnehmen. Auf dem Vokal u geht das besonders gut und schnell gesellen sich zur Grundtonresonanz Obertöne (vgl. Das magische Knistern) hinzu, bis sich der ganze Schädel nach und nach mit Klang füllt. Die Aufmerksamkeit einmal so intensiv auf das innere Hören und Resonanzempfinden zu lenken, ist fast meditativ. Eine Schülerin sagte neulich, sie fühle sich wie in einem Vakuum. Ganz und gar in einem geschützten Raum.
Dann kann ich nach und nach die Hände von den Ohren nehmen. Kann meine Konzentration beim Innenklang bleiben? Kann ich die Obertönigkeit des Klanges auch im Außen wiederfinden?
Außenraum wahrnehmen
Das Außen ist uns meist viel vertrauter. Doch auch hier können wir achtsam Kontakt aufnehmen. Wie klingt ein leerer Raum? Was für Geräusche sind da, obwohl wir sie im Alltag gar nicht bewusst wahrnehmen. Und wie klingt meine Stimme, wenn ich ihr ganz bewusst im Raum nachlausche? Wie klingen meine Töne an verschiedenen Orten im Raum? Nah an der Wand? Wie klingen die Stimmen meiner Mitsänger im Raum? Kann ich ganz neutral ohne Wertung darauf lauschen? Und wie klingt die Stille im Raum nachdem gesungen wurde?
Außen heißt für uns meist Kontrolle, Bewertung und auch Kritik vom Lehrer oder Korrepetitor. Was geschieht, wenn wir dem Außen zwar Aufmerksamkeit schenken, die Bewertung aber zunächst außen vor lassen?
Innen und Außen im Wechsel
Durch den Fokus unserer Aufmerksamkeit können wir steuern, ob wir mit dem Innen oder dem Außen in Kontakt treten. Allein diese innere Entscheidung kann Klänge, Töne, Lieder und das komplette Singgefühl verändern. Besonders in der Gruppe ist es reizvoll damit zu spielen. Man singt, tönt oder improvisiert und lenkt abwechselnd das Bewusstsein nach innen und nach außen. Vielleicht jeder in seinem Tempo, vielleicht auch alle gleichzeitig. So können wir unsere „Innen-Außen-Achse“ ausdehnen und den Wechsel üben.
Auch körperlich können wir mit den beiden Polen Innen und Außen spielen. Ich kann mich ganz und gar nach innen zusammenknautschen – Hände, Brustkorb, Gesicht – kann mich zu einem winzigen Paket zusammenfalten. Im Gegenzug kann ich mich ausdehnen im Raum. Große Bewegungen machen, mich dehnen und strecken und auch meinen Blick für den Raum öffnen. In diesen Wechsel kann ich auch meine Stimme einbeziehen. Wieder kann ich nur empfehlen, dieses Experiment in einer Gruppe zu erleben.
Atem als Schwingtür
Der ständige Wechsel zwischen Ausdehnung und Zusammenziehen ist uns angeboren, denn unser Atem tut genau das immer wieder. Mit jedem Einatemzug dehnen wir uns aus, mit jedem Ausatemzug kommen wir wieder zurück zu uns selbst. Jedes Einströmen ist ein Hineinholen des Außens nach Innen, mit jedem Ausatem geben wir etwas von uns hinaus in die Welt. Dieses Hin- und Herschwingen ist es, das uns im Singen und auch sonst eine Dynamik ermöglicht. Das stetige Wechselspiel der Pole Innen und Außen sorgt dafür, dass die Stimme sich mit dem Singen und durch das Tönen frei entfalten kann und sich aus sich selbst heraus nährt und immer intensiver wird (vgl. Tun und Lösen). Je gewohnter uns dieses Schwingen ist – im Atem, in der Aufmerksamkeit, im Lauschen oder körperlich – desto mehr verschwimmen die Grenzen. Nach und nach durchdringen sich Innen und Außen.
Ich stelle mir statt einer festen Tür, die mal geöffnet und mal geschlossen ist, eine Schwingtür vor. Sie federt leicht in beide Richtungen, verbindet beide Räume miteinander und trennt sie gleichermaßen, damit wir nicht die Orientierung verlieren.
Innere Öffnung
Diese innere Öffnung ermöglicht uns das Erlebnis von Verbindung. Verbindung mit dem Raum um uns, Verbindung mit Mitsängern, aber auch Verbindung zu uns selbst, zu unseren Emotionen und zu unserer ganz eigenen, persönlichen Stimme. Sie erlaubt dem Publikum einen tiefen Einblick in uns hinein und im Idealfall verschmelzen in der Konzertsituation Sänger und Zuhörer zu einer Einheit. Sie sind ein Organismus. Die Musik wird für alle zum Erlebnis.
Das ist auch im Chor äußerst wichtig. Jeder Chorsänger sollte gut mit sich in Kontakt sein, aber eben auch offen nach außen zu den Mitsängern und auch zum Chorleiter. Der gemeinsame Klang ist das verbindende Element. Eine gute Balance zwischen Innen und Außen ermöglicht der ganzen Gruppe das Gefühl der Teilhabe und des Aufgehobenseins.
Traue ich mich, die innere Schwingtür gut geölt in beide Richtungen schwingen zu lassen, kann Geben und Nehmen sich abwechseln. So kann echte Dynamik und Lebendigkeit entstehen. Planung und Absprachen werden weniger wichtig, der Moment des Tuns entscheidet, was genau passiert. Musik, die aus einer Gruppe entsteht, die in dieser Art der inneren Offenheit geübt ist, wird eine völlig andere Intensität und Kraft entwickeln. Impulse können aufgegriffen und eingebracht werden, (Klang-)Entwicklung geschieht organisch und damit stimmig.
Das ist aufregend für Sänger, Musiker und Publikum! Lasset die Spiele beginnen…
Ich wünsche allen eine fröhliche Osterzeit,
Anna Stijohann