Was ist STIMMSINN?
Ich arbeite seit knapp zehn Jahren mit Menschen und Stimmen. Ganz egal auf welchem technischen oder künstlerischen Niveau die Arbeit stattfindet, es begegnen mir stets ähnliche Bedürfnisse und Sehnsüchte. Bei Amateuren genau wie bei Profis, bei erfahrenen Sänger genau wie bei Anfängern. Es gibt Menschen, die „eigentlich schon ganz gut sind, aber noch besser werden möchten“ oder die endlich „belten lernen möchten“. Andere kriegen ihre „Atemtechnik nicht in den Griff“ und wieder andere kommen wegen ihres Vibratos in meinen Unterricht. Doch immer wieder erlebe ich, dass die Menschen genau dann glücklich und erfüllt nach der Stunde durch die Tür gehen, wenn sie sich ganz und gar in dem, was sie tun, in ihrer Stimme und ihrem Gesang, wiedergefunden haben. Manches Mal vergessen sie darüber gar, mit welchem Problem sie eigentlich gekommen waren.
Als Konsequenz dieses Phänomens hat sich für mich im Laufe der Zeit der Begriff „STIMMSINN“ ergeben. Er beschreibt auf mannigfaltigen Ebenen, was mein Verständnis einer lebendigen Stimmbildung ausmacht.
Die Beschäftigung mit der eigenen Stimme ist zweifelsohne sinnvoll, sinnstiftend und sinnlich.
Damit sich eine Stimme lebendig entwickeln kann und der Schüler die Möglichkeit hat, sein volles Potential zu entfalten, ist die Beschäftigung mit den Sinnen elementar. Die eigene Wahrnehmung – denn das ist es ja, was wir mit unseren Sinnesorganen tun: „für wahr annehmen“ – immer weiter zu verfeinern, ist vielleicht wichtigster Bestandteil meines Unterrichts und auch meines eigenen Stimmweges.
Das Hören spielt dabei nicht nur eine Rolle, wenn es um „richtige Töne“ oder musikalische Zusammenhänge geht. Vielmehr dient das Hören oder besser gesagt, das Lauschen, der direkten Klangentwicklung (vgl. z.B. Funktionale Methode nach G. Rohmert). Unsere Welt ist eine visuelle Welt, da dürfen wir das Lauschen ruhig immer wieder üben. Eine meiner Lieblingsübungen ist z.B. sich während des Gehens – egal ob auf der Straße, im Gesangsunterricht oder in der Chorprobe – mal eine Weile auf das Sehen und dann mal auf das Lauschen zu konzentrieren. Was macht das mit dem Gehen? Mit der Raumwahrnehmung? Wie töne oder singe ich, wenn ich mich aufs Sehen konzentriere, wie ist es im „Lauschmodus“?
Neben dem Hören ist der „Körpersinn“ (Propriozeption, vgl. Wikipedia) für mich wichtigster Bestandteil der ganzheitlichen Arbeit. Bin ich wahrnehmend in meinem Körper anwesend, hat die Stimme die Chance sich selbstreguliert zu entwicklen. Ich lerne auf ganz anderer, tieferer Ebene und entwickle ein intensives und völlig individuelles und daher nachhaltiges Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Körper und Stimme. Auf ähnliche Weise, wie ein Kleinkind durch das Sprechen selbst nach und nach Sprachgefühl entwickelt, entsteht in mir ein inneres Gefühl von Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit meiner Stimme. Ich entwickle STIMMSINN.
Auch das Sehen und Tasten kommen in meinen Stunden vor, allein die Brücke vom Singen zum Riechen und Schmecken hat sich mir noch nicht voll erschlossen. Wobei die beteiligten Organe ja unmittelbar am Vorgang der Lautgebung beteiligt sind…
Nicht zuletzt dient mir der STIMMSINN auch zur Auskunft über mich selbst. Anhand der Arbeit mit meiner Stimme, lerne ich mich kennen, kenne meine Stimmung, meinen körperlichen Zustand und kann mir, in dem ich meinem STIMMSINN Anregung gebe, Gutes tun.
Ich kann mich und andere inspirieren, indem ich töne und meine Stimme erhebe. Ich kann mich dabei als (un)stimmig oder (un)sinnig erleben.
Ich kann mich mit mir selbst und anderen Wesen über meinen STIMMSINN verbinden. Ganz genau wie übers Schauen und Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und über meine Körper- und Raumwahrnehmung kann ich in Kontakt treten und mich selbst in Beziehung zur Welt erleben.
Das Wort „Sinn“ hat übrigens seinen Ursprung im alt- bzw. mittelhochdeutschen sin: Weg, Reise, Gang. Der Weg zur Stimme, der Weg mit der Stimme, den ich als Stimmpädagogin begleite. STIMMSINN hat keine Patentrezepte, löst keine Probleme durch Zauberei oder gut katalogisierte methodische Regeln. STIMMSINN ist die Entscheidung für einen lebendigen Weg mit offenem Ausgang. Ein Weg, der sich, meiner Meinung nach, lohnt, weil er die Menschen glücklich macht und in Kontakt mit ihrer Lebensfreude bringt.
Ich wünsche viel Freude beim stimmig, sinnigen Singen!
Anna Stijohann