Singen im freien Fall

Die Achterbahn bringt sich auf Position. Alle Insassen sind aufs Höchste gespannt und konzentriert. Angst trifft Abenteuerlust, es riecht nach Freiheit und Adrenalin. Die Fahrt beginnt und die Stimme … Schreeeeiiiiiiiiiiiit!

In den höchsten Tönen, mit vollem Körpereinsatz und aus purer Lust. Das Kribbeln in der Magengrube ist dem einen mehr, dem anderen weniger vertraut, aber jeder, der schonmal auf einer Schaukel gesessen oder Karussel gefahren ist, weiß wovon ich spreche. Genau dieses Gefühl können wir uns beim Singen zunutze machen. Es ist der ideale Zustand um voll und ganz aus sich selbst heraus zu klingen.

„Du musst einfach Loslassen beim Singen!“. Dieser Satz ist ein Klassiker. Oft gesagt, oft gehört. Aber was ist es, dieses „Loslassen“? Wie kann ich soetwas Abstraktes beschreiben, geschweige denn erlernen?

Loslassen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Innerlich kann es bedeuten sich von vorgefertigten Klangvorstellungen oder dem eingeprägten sängerischen Selbstbild frei zu machen. Körperlich bedeutet es, dem Körper die Kontrolle zu übergeben, die Stimme nicht „führen“ zu wollen, sondern voll und ganz der Beweglichkeit des Körpers zu vertrauen. Ist die Stimme wirklich „losgelassen“, so kann sie sich an die Schwerkraft und die Dynamik der Körperbewegung koppeln und somit ihre Selbstregulationsmechanismen voll ausschöpfen.

Aber wie kann ich diese Art des „Loslassens“ lernen und was hat das mit der Achterbahnfahrt zu tun?

Ich kann mich zum Beispiel hinstellen und langsam nach vorne oder nach hinten fallen lassen um mit einem Schritt los zu gehen. Dabei kann ich sehr fein den Augenblick erspüren, an dem mein Körper aus seinem Lot kommt und für einen Moment ganz der Schwerkraft überlassen ist. Ein winziges Kitzeln in der Magengrube ist zu spüren. Diesen Moment kann ich ein paar Mal wiederholen um das Gefühl genauer kennenzulernen, um dann meine Stimme an dieses Gefühl dranzuhängen. Genau wie in der Achterbahn. Ich kann juchzen oder seufzen, ein „hui“ oder „aah“ ausrufen. Und ich kann spüren, wie ich die Stimme ganz dem Moment des Fallens überlasse. Ich lasse los.

Später kann ich auf diese Weise einzelne Töne oder Gesangsübungen an das „Loslassen“ anbinden. Und in einem noch weiteren Schritt kann ich das Loslassen mit einzelnen Körperteilen üben. Je genauer ich das Gefühl der Schwerkraft nicht nur in der Magengegend sondern im ganzen Körper erspüren kann, desto feiner können die Bewegungen werden.

Aber warum befreit sich die Stimme eigentlich im Moment des Fallens?

Im Moment des freien Falls ist unser Körper aufs Feinste koordiniert. Die ideale Muskelspannung liegt vor. Mit zuviel oder zu wenig Spannung könnten wir nicht ideal landen und würden uns verletzen. Wir befinden uns in absoluter Bewegungs- und Reaktionsbereitschaft. Wach und angeschlossen an die unmittelbaren Reflexe des Körpers.

Unsere Aufmerksamkeit ist ganz im Spüren. Bei unserem Körper, im Reagieren und nicht im aktiven Tun.

Der perfekte Zustand um zu singen… Die Stimme koordiniert sich ebenso fein wie der Rest des Körpers, damit sie sich im Falle des Falles lautstark äußern kann. Die wach, gespannte Muskulatur ist schwingungsfähig und durchlässig.

Wenn wir dieses Loslassen, das Fallen, das Erleben der Schwerkraft immer wieder üben, verändert sich nicht nur unsere körpereigene Wahrnehmungsfähigkeit. Auch werden unsere Faszien – als Hauptorgan der Propriozeption – (wieder) elastisch und tragen somit erheblich zur Schwingungsfähig des Ganzkörperinstruments „Stimme“ bei. Das Erleben der Schwerkraft kann uns stimmlich, emotional und persönlich erden. Aus dem Erleben des Fallens kann eine neue innere Aufrichtung entstehen. Die Angst vor dem Fallen wird zur Abenteuerlust. Die dabei freiwerdende Energie kann in Klang und musikalische Inspiration umgesetzt werden.

Und irgendwann ist es möglich quasi „in Zeitlupe“ zu fallen oder sich rein innerlich fallen zu lassen. Nach dem konkreten Erleben der Schwerkraft anhand von großen Bewegungen ist dann plötzlich der Satz „Du musst einfach loslassen beim Singen!“ erstaunlich wenig abstrakt, sondern tatsächlich greifbar.

Viel Spaß bei der stimmlichen Achterbahnfahrt wünscht,

Anna Stijohann