Was der Mensch braucht

Die Frage, was der Mensch eigentlich wirklich braucht, treibt mich um. Klar, ich bin Musikerin. Künstlerin. Es ist unser Job, uns mit den Dingen zu befassen, die über das, was man kaufen kann, hinausgehen. Es ist unsere Aufgabe, die menschlichen Bedürfnisse aufzudecken, die unter der Oberfläche liegen. Dafür ist Kunst da. Wir Künstler*innen öffnen und halten Räume, die andere Menschen alleine meist gar nicht sehen oder zumindest nicht allein betreten können. Wir ermöglichen unseren Konzertbesuchern, den Hörern unserer Musik, aber auch denen, mit denen wir musikpädagogisch arbeiten, jetzt hier und in diesem Augenblick mit ihren eigenen inneren Welten in Kontakt zu treten.

Picknickplätze

Im Jahr 2018 hatte ich mir einen Kalender mit weisen Zitaten zugelegt. Jeden Tag ein Sprüchlein. Die meisten habe ich längst vergessen, aber ein Zitat des bildenden Künstlers François Morellet begleitet mich seit dem 18.Juni 2018 quasi täglich.

Kunstwerke sind Picknickplätze, wo man das verzehrt, was man selber mitgebracht hat.“

Musikstücke, Konzerte, Theateraufführungen, Chorproben, Gesangstunden sind solche Picknickplätze, wo wir die Gelegenheit haben, uns selber zu spüren. Uns berühren zu lassen, unsere Seele zu nähren und aufzutanken. Musik und Klang öffnen Welten, die uns in unserem echten, blanken Menschsein, zum Vorschein bringen. Eine Melodie bringt uns in Verbindung mit einer Sehnsucht, die wir nicht in Worte fassen können. Ein Lied kann uns – wie ein guter Freund – Spiegel sein und uns Trost, Mut oder ein herzhaftes Lachen schenken.

All das sind Dinge, die für uns als menschliche Wesen überlebenswichtig sind. Und das meine ich ganz wortwörtlich.

Leben kann man nicht kaufen

Ich kann mir mein Leben weder bei amazon bestellen noch im h&m auf der Fußgängerzone kaufen. Lebendigkeit passiert in mir und im Zusammentreffen mit anderen menschlichen Wesen. Ohne Freude, Zusammengehörigkeitsgefühl und Kontakt ist mein Leben sinnlos oder zumindest – wenn es nur vorübergehend ist – extrem fade.

Klar, Kunst aus der Konserve ist besser als nichts. Sich zuhause Musik anzuhören, sich auf Youtube ein aufgezeichnetes Livekonzert oder einen guten Film anzuschauen, ist schon viel Wert. Und es überbrückt eine Weile, wenn alles andere gerade nicht möglich ist. Aber es ist nicht das gleiche. Keine Zoomprobe der Welt kann den gemeinsamen Klang einer Chorprobe, geschweige denn eines Konzertes, ersetzen.

Was die Menschen brauchen

Nach den Entbehrungen und Kompromissen der letzten Monate sind die Menschen hungrig. Sehr hungrig. Hungrig nach Berührung, hungrig nach Austausch, hungrig nach echter Begegnung. Ich erlebe das aktuell täglich in meinem Unterricht.

Da ist Silke*, die als Lehrerin in der Schulleitung tätig ist und sich wirklich den A… abarbeitet. Durch die neuen Maßnahmen ist ihr vorerst alles gestrichen, was sie sonst zum Auftanken nutzt. Essen gehen mit Freunden, Konzerte und die Proben mit ihrem Frauenquartett.

Oder Ulrike*, mit der ich seit 3 Jahren vorwiegend evangelische Kirchenlieder singe und die mir in der letzten Stunde sagte: „Unseren Kirchenchor gibt es nicht mehr so richtig. In der Kirche sitzen wir mit drei Meter Abstand und alle mit Maske und singen darf man eh nicht… da geh ich gar nicht mehr hin. Zum Glück kann ich noch zu Dir kommen.“

Oder Monika* (alle Namen geändert), die mit schweren Vorerkrankungen in Frührente ist und deren ein und alles eigentlich die Proben ihrer Amateur-Musicalgruppe (natürlich mit Hygienekonzept) sind. „Wie gut, dass Du da bist, Anna.“

Diese Geschichten berühren mich sehr und mir stand in den vergangenen Wochen mehr als einmal das Wasser in den Augen. Und als dann auch noch die Nachricht kam, dass nun wieder alles geschlossen wird, war meine erste spontane Reaktion: „Ich kann den Laden nicht zumachen. Das geht gar nicht.“

Verantwortung

Und ich hatte sofort die Worte einer lieben Kollegin aus dem Kreis der natural voice – teacher im Ohr, die ich Ende September für einen Austausch getroffen hatte: „Ja klar haben wir eine Verantwortung in Bezug auf Corona und natürlich ist es wichtig, dass wir uns an die Maßnahmen halten und nicht einfach alles machen wie zuvor. Aber wir haben auch eine Verantwortung für unsere Arbeit. Eine Verantwortung, dass unsere Arbeit, die Menschen erreicht, die sie jetzt – ganz besonders jetzt – brauchen.“

Und ich kenne viele wunderbare Kollegen und Kolleginnen (Musiker*innen, Musikpädagog*innen, Chorleiter*innen u.v.m.), die sich dessen voll und ganz bewusst sind. Und die dieser Verantwortung jetzt gerade – nicht nur weil das ihr Job ist und sie damit normalerweise ihren Lebensunterhalt verdienen würden und sie sich derzeit existentiell bedroht fühlen – sehr gerne nachkommen würden.

Ganz ehrlich

Menschen brauchen mehr als einen sicheren Job und genügend Klopapier. Was hilft es uns, wenn „die Wirtschaft“ geschützt wird und die Menschen langsam aber sicher innerlich vor die Hunde gehen?

Auch wenn ich als unterrichtende Künstlerin in nicht unwesentlichem Ausmaß finanziell betroffen bin und mir auch das ein oder andere Mal der Popo auf Grundeis geht – ich scheiße auf die Frage, ob Kunst nun systemrelevant ist oder nicht. Ein System, das vor allem darauf aufbaut, dass wir Menschen fleißig Dinge kaufen, die wir eigentlich gar nicht brauchen, kann mir mal den Buckel runterrutschen.

Was für mich zählt, ist der Mensch und die Menschenrelevanz. Und dazu gehört völlig ohne Frage die Rücksichtnahme in der aktuellen Situation. Aber ich finde es ist dringendst an der Zeit, dass wir uns fragen, was wir als Menschen (z.B. für unsere Gesundheit auf allen Ebenen – geistig, körperlich, seelisch) denn wirklich brauchen. Und gerade weil es so vielen da draußen schwer fällt, das überhaupt zu spüren, brauchen wir die Künste und die Künstler, die uns Wegweiser sind und den Finger in die Wunde legen und uns helfen, uns selber wieder zu spüren.

Am eigenen Leib

Vor zwei Wochen – als ich noch keine blasse Ahnung hatte, dass wir auf einen neuen Lockdown zusteuern – habe ich mir abends den Film „The Blues Brothers“ angeschaut. Abgesehen davon, dass ich die Musik abgöttisch liebe und es einfach toll war, am kinderfreien Abend mal wieder einen Film zu schauen, fand ich es ungeheuer spannend zu spüren, wie die Coronasituation der vergangenen Monate mich ganz anders auf das Filmgeschehen blicken lies.

Menschen, die sich die Hand geben, sich in den Armen liegen… Ich hätte nie gedacht, dass sich das in mir mal seltsam anfühlen könnte. Und am allermeisten hat mich die Konzertsituation gegen Ende berührt. „Everybody needs somebody to love“.

Miteinander begeistert sein

Menschen – viele Menschen – die wie gebannt auf die Bühne blicken, sich mitreißen lassen und irgendwann völlig ausflippen. Tanzen, Lachen, Singen. Miteinander begeistert sind. In der Stimmung dieses gemeinsamen Erlebnisses baden.

Am liebsten wollte ich aufspringen und mitmachen. Ganz egal ob auf der Bühne oder im Publikum. Und ich konnte es geradezu körperlich spüren, wie sehr das alles gerade fehlt. Nicht nur meinen Schülern. Und mir. Sondern auch allen anderen da draußen.

Nicht miteinander ausgelassen und gemeinsam begeistert sein können. Ganz egal ob im Konzert, im eigenen Chor, beim Tanzen, auf einer Feier oder im Fußballstadion. Ich konnte spüren, wie kraftvoll das alles und wie tief das menschliche Bedürfnis danach ist.

Katalysator

Die Musik und diesen großartigen Film als Katalysator zu nutzen, um diese Sehnsucht zu spüren und den Schmerz zu erlauben – das war unglaublich befreiend. Ganz ohne Jammerei, Schuldzuweisungen und Hadern mit der Situation. Einfach nur hinspüren, sich dem stellen und die Lücke und den Schmerz wahrnehmen und ein bisschen weinen…

Ich bin davon überzeugt, dass viele viele Menschen weniger Angst haben müssten, weniger aggressiv oder nörgelig wären, wenn wir diesem Schmerz mal ins Auge schauen würden.

Sich berühren lassen

Und unter der Traurigkeit liegt die Lebendigkeit. Zu spüren, wie stark sie ist, tut so gut.

Ich kann es euch (allen Schüler*innen, Chorsänger*innen, allen Künstlerkolleg*innen und überhaupt allen Menschen) nur empfehlen. Stellt euch dem Vermissen. Erlaubt die Traurigkeit.

Traurigkeit darüber, dass wir gerade in unseren elementaren menschlichen Bedürfnissen eingeschränkt sind. Traurigkeit darüber, dass wir gerade nicht ins Theater gehen können. Keine Konzerte besuchen und nicht zur wöchentlichen Chorprobe gehen können.

Spürt den körperlichen Schmerz, nehmt die Situation an, wie sie ist, ohne zu hadern. Und dann spürt die Kraft, die darunter liegt und nutzt sie, um das Beste draus zu machen. Um zu lernen, was es jetzt gerade zu lernen gibt. Euch zu erinnern, was euch wichtig ist und was ihr jetzt gerade wirklich, wirklich braucht. Eure menschlichste, verletztlichste Seite zu spüren. Und wenn ihr mögt, lasst euch von den Künsten – Musik, Malerei, Tanz, was auch immer – an die Hand nehmen. Schmeißt euch eure Lieblingsmusik rein und tanzt und feiert.

Sucht euch eure Picknickplätze. Sucht euch die Menschen, die Künstler*innen, die Lehrer*innen, die auch helfen können, das Jetzt-und-Hier und euch selber (wieder) zu spüren und lasst euch von ihnen inspirieren.

Meine geschätzten Kolleg*innen und ich setzen alles daran, auch in der aktuellen Situation, wo immer es irgend möglich scheint, Räume zu öffnen und Orte der (Selbst-)begegnung zu schaffen, die uns mit unserer Lebendigkeit rückverbinden und uns nähren. Wirklich nähren.

Wie die kleine Maus Frederik, die den ganzen Sommer über Farben und Geschichten gesammelt hat, von denen dann alle Mäuse im Winter zehren.

Dafür sind wir Künstler da. Dafür ist die Kunst da. Für die Menschen. Fürs Mensch-Sein. Und darum geht es. Gerade jetzt!

Alles Liebe wünscht,

Anna Stijohann