Raum und Fokus

Die beiden Begriffe Raum und Fokus sind zwei wichtige Protagonisten in meiner Welt des Singenlernens. Ich nutze die beiden Worte vor allem um den Menschen zu helfen, ihren eigenen Klang, die Funktion ihrer Stimme und die Rolle des Atems beim Singen kennenzulernen. Das ist besonders im Gespräch mit Menschen hilfreich, die sehr im Konzept der Register „Bruststimme und Kopfstimme“ unterwegs sind und sich dadurch in vielerlei Hinsicht selbst im Weg stehen. Aber das Spannungsfeld Raum und Fokus lässt sich noch auf so vielen anderen Ebenen ertragreich erforschen.

Unendliche Schattierungen von Grau

Ich verwende die beiden Worte Bruststimme und Kopfstimme in meiner Arbeit so wenig wie möglich. Zu oft bin ich Menschen begegnet, die in der Wahrnehmung ihrer eigenen Stimme eine starre Grenze zwischen beidem ziehen, und sich damit mehr schaden als nützen. Es gibt nicht nur schwarz und weiß, sondern unendlich viele Schattierungen von Grau dazwischen und hier kommen die Begriffe Raum und Fokus ins Spiel.
Denn sie beschreiben – meiner Erfahrung nach – sehr gut auf ganz unsängerische Weise den subjektiven Eindruck, wie sich ein Klang anfühlen kann.
Die beiden Begriffe an sich sind neutral. Beide Qualitäten sind auf ihre Weise wichtig. Es gibt – so liebe ich es – kein Richtig und Falsch. Wir können mit der Gewichtung der Beiden spielen. Wie und auf welche Weise, das möchte ich in den folgenden Abschnitten beschreiben.

Raum und Fokus in der direkten Klangerzeugung

Die Phänomene Raum und Fokus können auf ganz unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen werden. Zunächst auf der Ebene der konkreten Klangerzeugung. Singen wir z.B. einen kräftigen Ton in mittlerer Lage, schließen die Stimmlippen mit viel Masse. Je mehr Masse schwingt, desto kraftvoller klingt der Ton. Er bringt viel Fokussierung mit sich, ist kompakt und stabil und ich habe möglicherweise das Gefühl, einen recht direkten Zugriff auf die Stimme zu haben.
Berühren sich die Stimmlippen nur an der Randkante, entsteht ein filigranerer, beweglicher Ton. Er ist nicht kernig, sondern in der Regel weich und zart. Ich fühle weniger Fokus, dafür aber mehr Raum im Klang.

Raum und Fokus haben unterschiedliche Qualitäten

Kompakt, stabil, konkret, direkt, kernig – das sind für mich Qualitäten aus der Fokus-Welt. Im Gegensatz dazu stehen die Qualitäten aus der Raum-Welt: Weich, fein, schwingend, ausdehnend.
Natürlich kann auch ein leiser Ton sehr viel Fokussierung beinhalten und ein kräftiger Ton viel Raum. Gerade in dieser Unschärfe und Subjektivität in der Betrachtung liegt meiner Meinung nach die Chance, dass Schüler*innen wirklich ihren ganz eigenen Zugang zu ihren stimmlichen Qualitäten entwickeln können.
Diese Raum- bzw. Fokusqualitäten im Klang können die Menschen in der Regel sehr gut wahrnehmen und die Tatsache, dass ein Ton z.B. mehr Kern oder auch mehr Schwingung braucht, ist auch für Laien und Anfänger einzusehen. Gleichzeitig wird vermieden, Grenzen zu ziehen, wo keine sind und es schwingt immer implizit mit, dass es unendlich viele verschiedene Schattierungen im Klang geben kann.

Randnotiz: Auch das Phänomen „Twang“ lässt sich gut durch Raum und Fokus beschreiben. Aber da ich mich damit bisher nicht vertiefend beschäftigt habe, sei dies hier nur am Rande und der Vollständigkeit halber erwähnt.

Atemfluss und Klangraum

Eine zweite Betrachtungsebene für die Polaritäten Raum und Fokus ist das Zusammenspiel von Atem und Resonanz. Der weich fließende Atem öffnet den Raum zum Körper. Das kann jeder bestätigen, der sich schonmal spürend mit dem Atem beschäftigt hat. Je mehr der Atem durch den ganzen Körper fließen kann, desto reaktionsbereiter und schwingungsfähiger wird der Körper für die Stimme. Überall dort, wo der Atem sich Raum nimmt, kann auch die Stimme ihren Klang entfalten und den Körperraum immer mehr ausfüllen. Der Klang wird auf diese Weise voll und resonant.
Reduzieren wir den Atemfluss (oder schießen wir darüber hinaus, in dem wir den Atem schieben), verschwindet dieser Raum. Der körpereigene Klang wird flacher, das individuelle Timbre tritt in den Hintergrund.

Dringlichkeit erfordert mehr Fokus

Warum sollten wir das dann tun?, könnte man sich fragen und diese Frage ist berechtigt. Meine Antwort darauf lautet: Weil wir aufgrund einer erhöhten emotionalen Dringlichkeit (z.B. in einer bestimmten Stilistik) einen fokussierteren Klang brauchen!
Indem wir den „Atem-Raumanteil“ reduzieren, ermöglichen wir der Stimmmuskulatur, kräftiger zuzugreifen, die perfekte Balance zwischen innerer und äußerer Kehlkopfmuskulatur zu verlassen und Klänge hörbar werden zu lassen, die emotional eine andere Aussage haben.
Jeder von uns kennt das. Wenn wir über die Straße hinweg einen rüpelhaften Mitverkehrsteilnehmer anschreien, verwenden wir quasi keine Luft zur Stimmgebung. Wir unterstreichen die Dringlichkeit unserer Aussage durch einen knackigen, fokussierten Ton, bei dem die emotionale Aussage wichtiger ist, als unsere individuelle Klangfarbe. Bei einem perfekt ausbalancierten wunderschön gesungenen Klang, würde sich unser Gegenüber vermutlich gar nicht angesprochen fühlen. 😉

Raum im Schädel

Der durch die Atembremse entstehende Klang rutscht auf der Balanceskala zwischen Raum und Fokussierung ein gutes Stück Richtung Fokus. Im schlimmsten Falle verliert sich auch die noch die letzte Spur an Raum und wir verfallen in ein hysterisches, schrilles Kreischen.
Das möchten wir beim Singen in der Regel (selbst bei hoher emotionaler Beteiligung) vermeiden und da stellt sich die Frage, wie wir den Raumanteil im Klang wieder erhöhen können, ohne die Stimmmuskulatur oder den Atem loszulassen.
„Resonanzräume“ lautet das Stichwort und damit sind in diesem Zusammenhang vor allem die Räume im Schädel gemeint (vgl. Anna wird syng:trainer). Hier können wir – auch wenn sie nicht unendlich groß sind – Raumressourcen wecken und somit dem Klang trotz seiner Dringlichkeit, wieder etwas Raumqualität – weich, beweglich, individuell – zurückgeben.

Raum und Fokus in unterschiedlichen Genres

Die Begriffe Raum und Fokus helfen mir sehr oft bei der Beschreibung von Klängen. Die stimmlichen Unterschiede in verschiedenen Stilistiken und somit klangästhetischen Konzepten lassen sich durch die Balanceskala zwischen Raum und Fokus häufig sehr präzise und trotzdem offen und wertungsfrei beschreiben. Während wir im klassischen Klangideal in der Regel den größtmöglichen Raum mit gerade soviel Fokus wie nötig anstreben, suchen wir im Musical häufig einen knackigen, nahezu trompetenartigen Klang. Popgesang dagegen liebt die Gegensätze von sehr raumigen, manchmal hauchigen Klängen und klaren, fokussierten sprachnahen Sounds. Die Mikrofonierung und der Wegfall der Notwendigkeit, aus sich selbst heraus mit der Stimme Raum einzunehmen, spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle.

Gerade wenn ich genreübergreifend singen und unterrichten möchte, erlaubt mir der bewusste Ausstieg aus der Brust-/Kopfstimm-Box, Klänge vielschichtiger zu betrachten. Beim Üben und Erforschen der Stimme mal auf die Suche zu gehen, wo und auf welchen unterschiedlichen Ebenen ich Raum und Fokussierung erleben kann, hilft mir meine Stimme immer besser kennenzulernen und im Falle einer ungewollten Dysbalance das angemessene „Gegenmittel“ zu finden, bzw. eine Ahnung zu haben, wo ich suchen und fündig werden könnte.  

Raum und Fokus – Innen und Außen

Aber die Frage nach Raum und Fokus ist auch über den konkreten Klang hinaus sinnvoll. Sie begegnet uns u.a. im Spannungsfeld zwischen Innen und Außen.
Wo bin ich bei mir, wo bin ich im Raum?
Wo breitet sich der Klang aus und nimmt Raum ein – das kann innen und außen sein – und wo finde ich durch die Fokussierung meiner Aufmerksamkeit Ankerpunkte um nicht im Raum verloren zu gehen?
Wie sehr bin ich im Außen und bin ich dort fokussiert oder breit und offen?
Wie bin ich innerlich verbunden?

Raum und Fokus in der bipolaren Atemarbeit

Ganz wichtig sind die beiden Begriffe auch in meiner Arbeit mit den Atemtypen. Sie beschreiben ganz wunderbar elementare Aspekte der jeweiligen Atemdynamik, sowohl in der körperlichen Bewegung als auch mit der Stimme.
Einatmer und Ausatmer brauchen in vielerlei Hinsicht eine völlig andere Balance zwischen Raum und Fokus um in ihre Kraft und Leichtigkeit zu finden. Wo für den Einen das Augenmerk auf dem Fokus liegt und der Raum sich wie von selbst daraus entfaltet, ist es für den Anderen genau umgekehrt. Wir arbeiten am und mit dem Raum und der Fokus in der Stimme zeigt sich von allein.
Damit herumzuexperimentieren ermöglicht ein immer klareres Bild davon, welche Bewegungsdynamik in meinem ganz individuellen Fall Stimme und Körper intensiver miteinander verbindet. Ist eine Bewegung eher konkret oder weich? Wie beginnt eine (Stimm-)bewegung? Mit einem klaren, knackigen Anfang oder aus einem offenen Schwung heraus?
Wenn wir die unterschiedlichen Qualitäten von Raum und Fokus auf körperlicher Ebene erforschen (z.B. in den Wilkschen Körperübungen), können wir diese – immer eingebettet in den Kontext des ganzes Körpers – leicht auf die Stimme übertragen.

Fokussierte und raumgreifende Aufmerksamkeit

Auch auf der Aufmerksamkeitsebene bewege ich mich ständig zwischen Raum und Fokus. Sie überlappt sich dabei in vielen Aspekten mit der Frage nach dem Detail und dem Ganzen. Wir können uns auf winzige Details fokussieren und unser Erleben, z.B. auf körperlicher Ebene, sehr genau und analytisch auswerten. Dabei muss es nicht immer um ein kleines anatomisches Detail gehen, sondern wir können uns auch auf ein ganz bestimmtes Phänomen, z.B. eine Bewegungsqualität konzentrieren. Unsere Aufmerksamkeit liegt dann ganz dort und wir erfahren intensiv und sehr genau, was sich dahinter verbirgt.
Sind wir mit unserer Aufmerksamkeit eher im Raummodus, geht es weniger um das einzelne Detail, sondern möglicherweise verstärkt um die Zusammenhänge und Verbindungen. Es geht um das ganze Bild. Wieder begegnen uns die unterschiedlichen Qualitäten: weich, fließend, ausdehnend, schwingend, in Beziehung, offen. Im Gegenzug dazu: Präzise, genau, konkret, detailliert.

Sich diese verschiedenen Erlebnisebenen von Zeit zu Zeit bewusst zu machen und all die Aspekte der Polarität von Raum und Fokus zu erforschen lohnt sich definitiv.

Eckpunkte und das Dazwischen

Raum und Fokus sind Gegenspieler. Angelehnt an die Unschärferelation des  Physikers Heisenberg, der herausfand, dass wir bestimmte Eigenschaften (Ort und Impuls) eines Teilchens nicht gleichzeitig in vollem Umfang erfassen können, möchte ich anmerken, dass wir auch die Phänomene Raum und Fokus nicht gleichzeitig betrachten können. Wir brauchen eine gewisse innere Unschärfe um auf beide Qualitäten Zugriff zu behalten. Wenn wir uns ganz und gar auf den einen Aspekt stürzen, wird der andere verblassen.

Manchmal ist aber genau das lohnenswert, nützlich und erlebnisreich – ganz egal auf welcher Ebene – Klang, Atem, Resonanz oder Aufmerksamkeit -, nämlich den Raum auf der einen oder die Fokussierung auf der anderen Seite einmal intensiv zu erforschen. Dadurch lernen wir die Eckpunkte dieser Polarität wirklich in ihrer Tiefe kennen und erweitern somit die Bandbreite und qualitative Ausdehnung unseres Spannungsfeldes. Wir verbreitern das Spektrum zwischen Raum und Fokus und erwerben damit neue, verfeinerte Fähigkeiten uns auf der Balanceskala zu bewegen.

Und manchmal – oder sogar ziemlich oft – profitiert genau der andere Bereich davon. Die Erforschung von Raum hat eine bessere Fokussierung zur Folge und die Fokussierung führt am Ende zu mehr Raum. So funktioniert u.a. das Konzept der inneren Anlehnung (mein Begriff für „Stütze“). Je genauer ich erfahren habe, wo und wie ich mich mit dem Klang anlehnen kann, desto freier und klangvoller kann sich dieser entfalten. Raum und Fokus in perfektem Zusammenspiel.

Beispielhafte Übungen für die Arbeit mit Raum und/oder Fokus findest Du auch auf dem STIMMSINN-Youtubekanal:

Die Luftharfe (Raum und Fokus in direktem Vergleich)

Die innere Kölnarena (Räume im Kopf)

Singen durch die Ohren (Räume im Kopf)

Die Möwe (Fokus)

ZZZ (Fokus)

Reinknarzen (Fokus)

Singen mit Nase zu (wie sich Raum und Fokus bedingen)