Lebendig sein heißt instabil sein
In der vergangenen Woche hat mich vor allem ein Begriff begleitet: Instabilität. Meist assoziieren wir mit dem Wort „instabil“ etwas Ungutes, Gefährliches. Wenn wir instabil sind, sind wir angreifbar, fehlt uns die Standfestigkeit, sind wir orientierungslos, begeben wir uns auf heikles Terrain. Doch was ist mit den Wolkenkratzern, die absichtlich so gebaut werden, dass sie leicht flexibel sind, damit sie bei einem Erdbeben nicht so leicht umstürzen können? Ist das nicht ein Widerspruch? Was kann dieser Widerspruch uns über Singen erzählen? Warum brauchen wir beim Singen ganz dringend eine gute Portion Instabilität? Und was hat Instabilität mit Lebendigkeit zu tun?
Wir sind bewegliche Wesen
Unsere Wirbelsäule und unser ganzes Skelett ist nicht sehr stabil, erst durch gut vernetzte Faszien, Bänder und Muskeln können wir mit diesem recht wackligen Gerüst aufrecht stehen, gehen und sogar tanzen. Elastisch aufgespannt wie eine Hängebrücke oder ein Klettergerüst sind wir gleichsam beweglich und stabil. In verschiedenen Artikeln (u.a. Lebendiger Chor) habe ich darüber geschrieben, dass Singen für mich viel mit Bewegung zu tun hat. Ich möchte, dass Bewegung und Klang eine Einheit bilden und der Körper die Stimme somit optimal und auf sehr natürliche Art und Weise unterstützen kann. Manchmal weisen mich Menschen darauf hin, dass sie sich doch beim Singen – vor allem auf der Bühne – nicht die ganze Zeit wie wild bewegen könnten. Dem stimme ich voll und ganz zu. Ich versuche dann zu erklären, dass es gar nicht in erster Linie um große Bewegungen, sondern mehr um ein Gefühl innerer Beweglichkeit geht. Dieses ist für die allermeisten Menschen sehr schwer zu begreifen.
Balance braucht Instabilität
Eine ganz wunderbare Möglichkeit diesem Gefühl auf
die Schliche zu kommen ist das Balancieren z.B. auf einer
Balancescheibe, einem Eutonieholz oder einem Schwingbrett. Auf all
diesen Spielzeugen lässt sich sehr gut spüren, dass es einen direkten
Zusammenhang zwischen Instabilität und Balance gibt. Bin ich zu starr,
falle ich genauso um, wie wenn ich zu schlapp bin. Nehme ich z.B. ein
Schwingbrett, so lässt sich, wenn ich die Schwingbewegungen zuerst groß
und dann immer kleiner werden lasse, eine Art Balancepunkt finden. Ich
stehe in der Mitte zwischen rechts und links und bin nahezu still. Aber
allein durch meine Atembewegung und auch winzige Gewichtsverlagerungen,
die der Körper selber ausführt um in Balance zu bleiben, schwinge ich
immer noch ganz leicht hin und her. Dieser Zustand ist für mich der
Inbegriff von Instabilität. Alles ist möglich. Das Pendel kann
theoretisch zu jeder Seite ausschlagen. Hänge ich an diesen inneren
Zustand meine Stimme, ist vieles möglich. Solange ich mich in diesem
Schwebezustand befinde und nicht aktiv dazwischenfunke, wird auch die
Stimme mit Offenheit reagieren.
Auf nicht ganz so einprägsame Weise –
aber dennoch klar erfahrbar – lässt sich dieser Zustand auch über eine
einfache Gewichtsverlagerung von rechts nach links oder ein Kreisen über
den Füßen erleben.
Aus Bewegung wird Beweglichkeit
Wie aus einer aktiven Bewegung innere Beweglichkeit wird, lässt sich auch gut erleben, wenn ich eine beliebige Bewegung so klein wie möglich ausführe. Wenn ich z.B. meinen Brustkorb oder mein Becken oder meine Wirbelsäule bewege, als täte ich es heimlich nur für mich und niemand anderer sollte von außen diese Bewegung bemerken. Mikrobewegungen dieser Art haben ihre ganz eigene Bewegungsqualität und sind von absolut hoher sensomotorischer Aufmerksamkeit begleitet. So wird äußerliche Bewegung zu einem inneren Gefühl von Beweglichkeit, Bewegungsbereitschaft oder Instabilität umgewandelt. Die Stimme erhält so den Freiraum, den sie braucht um wirklich den ganzen Körper zu durchklingen. Möglicherweise beginnt sogar die – bis dahin vibratolose – Stimme auf diese Weise leicht zu schwingen und erwirbt damit die wunderbare Fähigkeit sich durch ihre klangeigene Instabilität wiederum selbst zu stabilisieren. In meinem Artikel über die „schüttelbare Stimme“ habe ich dieses Phänomen schonmal angedeutet.
Instabilität und Lebendigkeit
Schon vor längerer Zeit habe ich in dem Buch „Warum es ums Ganze geht“ des 2014 verstorbenen Physikers HANS-PETER DÜRR eine wunderbare Beschreibung des Zusammenhangs von Instabilität und Lebendigkeit gefunden.
„Wir stehen auf einem Bein und sind, statisch betrachtet, instabil. Wir stehen auf dem anderen Bein und sind in der gleichen wackligen Lage. Sobald wir aber gehen, wechseln wir von einer Instabilität in die andere und erreichen dadurch einen dynamisch stabilen Gang, ohne dabei umzufallen. Das ist das Wesen des Lebendigseins: statische Instabilität in eine Dynamik einzugliedern, bei der der Vorzug der Instabilität, nämlich offen zu sein (also nicht determiniert und deshalb unter Umständen auch kreativ und entscheidungsfähig zu sein), verbunden wird mit einer bestimmten Beständigkeit. Also nicht zu Boden zu fallen und in den statisch stabilen Zustand zu wechseln, der Sterben bedeuten würde.“
Lebendigkeit und Instabilität gehen also direkt miteinander Hand in Hand. Wenn wir lebendig Singen und auch Sprechen möchten, brauchen wir sowohl körperlich als auch innerlich ein gewisses Maß an Offenheit und Undefiniertheit. Sind wir zu fixiert – und sei es auch noch so gekonnt und kunstvoll – kann der Zauber des Lebendigen sich nicht entfalten. Dann hat die Stimme es schwer, sich aus dem bekannten Terrain herauszubewegen und wird immer nur das preisgeben, was wir schon kennen. Wirklich freie Bewegung auch in Gefilde hinein, die wir noch nicht kennen, ist nur möglich, wenn wir die oben beschriebene Instabilität zulassen. Ich möchte sogar sagen, sie herausfordern und uns ganz bewusst hineinbegeben.
Der Punkt höchster Sensibilität
DÜRR beschreibt den ganz besonderen Zustand höchster Instabilität mithilfe eines Pendels.
Das Schwingen eines einfachen Pendels lässt sich mithilfe physikalischer Gesetze exakt ausrechnen und vorhersagen. Selbst die Reibung, die ein Versuchspendel nach einer Weile wieder zum Stillstand kommen lässt, lässt sich abhängig von Material usw. mit einrechnen.
Aber an genau einem Punkt lässt sich keinerlei Aussage und Prognose über die Bewegung des Pendels treffen.
„Wenn ich es [das
Pendel] nämlich auf den Kopf stelle, das heißt, den Pendelarm ganz oben
festhalte. Wenn ich diesen loslasse, weiß ich in diesem Augenblick
nicht, ob er nach links oder nach rechts fällt. Jetzt könnte man
einwenden, ich müsste ja nur ganz genau hinsehen, ob der Pendelarm links
oder rechts von »genau oben« steht. (…) Aber wenn ich noch genauer
»ganz in die Mitte« gehe, dann passiert in steigendem Maße etwas völlig
anderes: Es wird auf einmal deutlich, dass dieses Pendel nicht einfach
isoliert im Raum balanciert, sondern noch andere Dinge um das Pendel
herum Einfluss haben. Das bin ich zum Beispiel selbst, da ich auf der
einen Seite des Pendels stehe und es anziehe, genauso wie die Sonne
einen Planeten anzieht. (…) Aber nicht nur von mir hängt es ab,
sondern von uns allen! Jemand greift nach seiner Nase – und schon ist
meine Rechnung im Eimer. Oder ein Auto fährt vorbei, oder der Zug fährt
am Hauptbahnhof ein, oder der Andromedanebel sendet ein Lichtquant ab,
das dieses Pendel erreicht und letztlich entscheidet, in welche Richtung
es fällt.
Das Pendel ist in der Ganz-oben-Stellung instabil. Diesen
Instabilitätspunkt sollten wir besser »Punkt der höchsten Sensibilität«
nennen. (…) An diesem Punkt »spürt« unser Pendel, was in der ganzen
Welt los ist. Aber es »spürt« nicht die alte, sondern die neue Welt! Es
»erlebt« jetzt das Hintergrundfeld, die Potenzialität, die eben keine
Realität mehr ist, sondern eine Vielzahl von Verbindungen, eine Welt, in
der alles mit allem zusammenhängt. Wir könnten auch sagen: Das Pendel
wird an diesem Punkt »lebendig«. Es tritt in Kontakt mit dem
Informationsfeld des Ganz-Einen.“(Warum es ums Ganze geht, HANS-PETER
DÜRR)
Schaut man das kurze Video eines Dreifach-Pendels, welches immer wieder solche „Punkte der höchsten Sensibilität“ durchschwingt, an, scheint es nahezu lebendig zu sein, bis es irgendwann durch die Reibung doch an Schwung verliert und zur Ruhe kommt.
Wir als wahrhaftig lebendige Wesen können uns selbst als Vielfach-Pendel bzw. sogar Ansammlung unzähliger Vielfach-Pendel sehen. Immer wieder durchschreiten wir verschiedenste Punkte der Instabilität und haben somit wieder und wieder die Chance, unsere Lebendigkeit wirklich auszukosten.
Lebendiges Singen
Als Sänger können und möchten wir nun diese Momente der höchsten Sensibilität mit der Stimme „erwischen“. Wie eine Welle, auf der ich surfen kann. Wie eine Rolltreppe, auf die ich aufsteigen und mich mitnehmen lassen kann. Aber wie ist das möglich? Wie bringe ich mich in einen solchen Zustand? Das anfangs beschriebene Suchen nach Instabilität bzw. Balance über ein Spielgerät ist eine Möglichkeit. Auch das „Singen im freien Fall“, über das ich in einem meiner ersten Artikel geschrieben habe, lässt mich den Punkt der höchsten Lebendigkeit direkt erfahren. Und je besser ich dieses – eine meiner Lehrerinnen beschrieb es mal als ein „leichtes Schwindelgefühl“ – kenne, desto öfter wird es mir begegnen. Durch die Beschäftigung mit der bipolaren Atemdynamik und insbesondere dem Üben der atemtypischen Körperübungen nach E. WILK, sowie anderer faszienwirksamer Körperarbeit, kann ich mich dem körperlich nähern. Aber auch rein mental gibt es Möglichkeiten, diese Art der Lebendigkeit zu erzeugen bzw. sich aktiv und bewusst in einen Zustand der Instabilität zu begeben, die dem Singen ganz neue Dimensionen erlaubt.
Zum Ende des Jahres wünsche ich nun allen Singenden den Mut, manche Dinge noch offen zu lassen und den unbeschriebenen leeren Seiten des neuen Jahres mit Freude auf das Lebendige entgegen zu sehen!
Anna Stijohann
P.S. Wer durch diesen Artikel Lust bekommen hat, das instabile und lebendige Denken und Singen einmal auszuprobieren und noch mehr Anwendungsmöglichkeiten kennen zu lernen, könnte sich für meinen ganztägigen Workshop „Anders Denken – Anders Singen“ Anfang Januar anmelden. Es gibt noch zwei freie Plätze.