Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit
Ich habe immer gerne gesungen. Und wie viele Menschen habe ich mir immer gewünscht es auch wirklich gut zu können. Als ich 18 war, habe ich mit Gesangsunterricht begonnen, doch meine Lehrer hatten nicht immer das Selbe im Sinn wie ich. Heute weiß ich, dass ich eigentlich nie wissen wolte, wie man „richtig“ und „gut“ singt. Mein Anliegen seit jeher war es, die sängerische Freiheit zu entdecken und es gab ür mich immer die Gewissheit, dass diese Freiheit wirklich möglich ist. Einfach drauflossingen zu können und dabei die eigene Stimme, den Gesang, die Musik wirklich genießen zu können, ist vielleicht der wahre Grund, warum so viele Menschen singen lernen möchten.
Warum nehmen Menschen Gesangsunterricht?
Jeder von uns trägt seine ganz eigene Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit in sich. Diese Sehnsucht ist für mich etwas sehr persönliches, intimes. Der Wunsch des Menschen, eine „Stimme zu haben“ geht direkt einher mit seinem Selbstwertgefühl, seinem Wunsch angenommen zu werden wie er ist und gesehen und gehört zu werden. (vgl. Was ist eine schöne Stimme?) Ich glaube dieser Wunsch ist es, der all die Menschen zu uns Gesangslehrern treibt. Die Schnelllebigkeit unserer Zeit und die Suche nach Sinn lässt genau diese Sehnsucht der Menschen umso lauter werden. Und damit tragen wir Pädagogen eine große Verantwortung. Wir sind Stimm- und Sinnsucher gleichermaßen und können, wenn wir uns dieser Verantwortung bewusst sind, großen Einfluss auf das Singen und Leben unserer Schüler nehmen.
Das Geschäft mit der Sehnsucht
Jeder Lehrer, jede technische Strömung, jede Methode, jedes Konzept hat dabei seine eigene Herangehensweise. Manche Kollegen werben mit dem Slogan: „Wir bieten die Lösung für alle Deine Probleme!“ Manche weisen ihre Schüler darauf hin, dass Singenlernen ein langer, schwerer und steiniger Weg ist, der vor allem mit viel Disziplin und Arbeit verbunden ist. Manche sagen dieses, andere das genaue Gegenteil, jeder weiß genau Bescheid und möchte sich vor allem gut verkaufen und von den Anderen möglichst klar abgrenzen. Manche Randphänomene versuchen dieser Mühle zu entfliehen und finden ihre handvoll „Verrückte“ die im gängigen „System“ an ihre Grenzen gestoßen sind. Wo hat in all dem die ganz persönliche Stimm- und Singsehnsucht ihren Platz?
Wo wird nicht nur mit der Sehnsucht der Menschen Geld gescheffelt und das eigene Ego ins Zentrum gerückt, sondern wirklich Freiheitsarbeit betrieben?
Ich weiß es nicht
Ich maße mir kein Urteil an, welcher Unterricht gut oder schlecht ist. Jeder Sänger folgt seiner Sehnsucht auf ganz eigene Weise. Der eine braucht das klare technische Konzept, den anderen hindert es. Und ich glaube, dass es in jeder gesangspädogogischen Richtung solche und solche Lehrer gibt. Unter den Technikern gibt es einfühlsame, die sich ihrer Verantwortung voll bewusst sind und genauso gibt es unter den Stimm“esos“ LehrerInnen, die eigentlich nur ihre eigene gescheiterte Sängerkarriere zu verdauen haben und denen die wahren Sehnsüchte ihrer Schüler vollkommen schnuppe sind.
Vermutlich sind es genau diese, die sich nie ernsthaft auf die Suche nach ihrer eigenen inneren Freiheit gemacht haben. Die nie erlebt haben, wie es ist, wenn das eigene Herz überläuft vor Freude, weil das Singen so wohltuend ist.
Selber Verantwortung übernehmen
Ich hatte das große Glück, immer wieder Lehrer zu haben, die mich ermutigt haben, mich selber auf die Suche nach der Freiheit zu begeben. Manche Lehrer verbieten ihren Schülern bei anderen Kollegen Unterricht zu nehmen. Ich habe fast immer bei mehr als einem Lehrer gleichzeitig Unterricht gehabt. Manche Hochschulprofessoren erziehen ihre Studenten zur Abhängigkeit. Weil sie natürlich am Besten wissen, was gut für ihre Schüler ist. Leider verpassen die Schüler dadurch die wichtige Gelegenheit zu lernen, auf sich selbst zu vertrauen. Diese Schüler – auch in der Breitenarbeit gibt es diese Fälle mehr als genug – trauen ihrem eigenen Instinkt nicht. Sie kennen nicht ihre eigenen Bedürfnisse, folgen nicht dem roten Faden ihrer Sehnsucht, sondern sind immer auf die Bewertung von außen angewiesen, ob etwas richtig ist oder falsch. Sie sind es nicht gewohnt, wirklich hinzuspüren und für sich selbst Schlüsse zu ziehen, weil sie sich nie oder viel zu selten wirklich ausprobieren konnten.(vgl. Wieviel muss ich üben?)
Das eigene Puzzle
Dabei steht zumindest für mich fest, dass man das eigene innere Singpuzzle nur für sich selbst vervollständigen kann. Niemand kann einem diese Aufgabe abnehmen. Wenn ich als Lehrer immer wieder sage: Mach es so, nimm dieses Teil, es gehört dahin oder dorthin, nein, damit kannst Du jetzt noch nichts anfangen usw. dann wird mein Schüler nicht sein eigenes Puzzle lösen. Klar, ich kann und muss – das ist meine Aufgabe als Lehrer – immer wieder Impulse geben. Hinweisen auf Dinge, die der Schüler nicht oder noch nicht sehen kann. Ihm helfen seine Wahrnehmung zu schärfen, ihm Möglichkeiten aufzeigen, ihn herausfordern.
Aber das Puzzle an sich muss jeder für sich alleine lösen. Jeder Sänger entwickelt seine eigene Strategie und im Idealfall mache ich mich als Lehrer irgendwann selber überflüssig. Nicht, weil der Schüler dann „alles kann“, sondern weil er weiß, wo und wie er selber weiter suchen kann.
Genuss ist Freiheit
Immer dann, wenn ich für mich persönlich ein neues Puzzlesteinchen finde, weht mir der Wind der Freiheit um die Nase. Dann entdecke ich einen neuen Zusammenhang und es ist wie fliegen, weil das Singen plötzlich ganz leicht geht oder weil ich mich etwas traue, das ich mich zuvor nicht getraut habe. Plötzlich kann ich nicht nur eine technische Herausforderung leichter meistern, sondern mein eigener Genuss beim Singen vermehrt sich.
Im Gedächtnis geblieben ist mir in diesem Zusammenhang noch der allererste Workshop bei einer Lehrerin, die mich mittlerweile seit vielen Jahren begleitet. Das Gefühl beim Singen war unbeschreiblich. In dem Moment wusste ich: Das ist es, was ich immer gesucht habe. Das bin ich. Ich klinge. Ich singe. Es singt mich.
Ebenso erinnere ich mich an einen meiner ersten Auftritte während meines Studiums. Nach einem Lehrerwechsel hatte sich mein sängerisches Selbstbild sehr gewandelt und schon während dieses einen Liedes, das ich auf der großen Bühne der Hochschulaula singen durfte, wusste ich, hier passiert etwas, das mein Leben und Singen wegweisend in Richtung Freiheit verändert.
Feine Freiheiten
Mittlerweile sind die Erlebnisse der Freiheit kleiner, feiner und weniger spektakulär geworden. Aber immer noch bin und bleibe ich auf der Suche danach und bin von Herzen beglückt, wenn ich „einfach drauflos singen kann“. Sei es auf der Bühne, beim eigenen Üben und Ausprobieren von spannenden neuen Ideen, in Workshops oder beim Improvisieren. Zu spüren, wie die Stimme sich ihren eigenen Weg bahnt und Klang oder Groove mich wirklich durchströmen, ist immer wieder kostbar. Manchmal muss ich daran denken, dass ein Freund mir mal erzählte, dass er mit der klassischen Cellistin, die ab und an seine Band unterstützte, über eben solche Momente gesprochen hat. Sie hatte nur geantwortet, dass ihr so etwas noch nie passiert sei.
Singen ohne Sinn?
Warum mache ich Musik, wenn nicht aus dem tiefen Bedürfnis heraus, wirklich aus dem Inneren meiner Seele zu klingen? Wie kann ich Sänger sein, wenn das einzige Problem, das mich beschäftigt diese oder jene technische Schwierigkeit ist, die es zu beherrschen gibt? Wie kann ich behaupten eine Melodie, ein Lied, oder eine Arie wirklich zu können, wenn ich nicht mal drei kleine Töne ganz pur aus mir heraus einfach so singen oder über einen einfachen Rhythmus improvisieren kann?
Immer wieder begegnen mir Menschen und Sänger, die sich mit ihrer Sehnsucht auf die Suche machen wollen. Ihr Wunsch nach Freiheit ist groß genug, dass sie beschließen sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen. Der Schritt über diese Schwelle ist sicher nicht leicht. Denn der Gegenpol der Freiheit ist bekanntlich die Sicherheit und die aufzugeben ist nicht immer angenehm.(vgl. Kontrollverlust – Ja Bitte!)
Freude als Sicherheitsnetz
Mit der Freiheit tritt eine neue Form von Sicherheit auf den Plan. Eine Sicherheit, die aus einem echten sängerischen Selbstbewusstsein erwächst. Eine Sicherheit, die die eigene innere Freude als Gradmesser anlegt und die sich freigemacht hat von Konkurrenz, Vergleich und äußeren Ansprüchen.
Natürlich gibt es Tage und Situationen in denen man sich mit anderen vergleicht und in denen die Konfrontation mit äußeren Ansprüchen unvermeidlich ist. Klar. Bei Vorsingen, in Proben oder einfach so. Aber es bleibt wohltuend zu wissen, dass mir das, was mir beim Singen am Wichtigsten ist – nämlich meine eigene Freude und das Gefühl von Freiheit des persönlichen Ausdrucks – niemand nehmen kann.
Wenn ich ganz ich selbst sein und mich beim Singen frei fühlen kann, bin ich sowieso am Besten. Und auf jeden Fall außer Konkurrenz.
Den roten Faden der Singsehnsucht wünscht,
Anna Stijohann