Bewegung als Schalter
Wir sind ständig in Bewegung. Mit jedem Atemzug geht eine Welle durch unseren gesamten Körper. Mit jedem Einatem dehnen wir uns aus, bei jedem Ausatem kommt die Bewegung wieder zurück zu ihrem Nullpunkt. Wir sind nicht statisch, wir pendeln ständig zwischen Instabilitäten und finden durch die Bewegung ein sich dynamisch stabilisierendes Gleichgewicht. Im Idealfall gibt es keine „Haltung“, sondern „Balance“. Das gilt natürlich auch fürs Singen. Was liegt näher, als die Energie dieser stetig vorhandenen Bewegung zu nutzen und mit der Stimme in Klang umzusetzen?
Wenn ich mir manche(n) Sänger(in) anschaue, wundere ich mich manchmal, wie es möglich ist zu singen, während der Körper aussieht, als sei er in einen Schraubstock eingespannt. Scheinbar muss der Kopf mit großer Muskelanstrengung festgehalten werden, damit er nicht herunter fällt. Oder ich sehe SängerInnen des populären Fachs, die mit gelernten, aber für sie nicht stimmigen Gesten versuchen, ihren Ausdruck zu verstärken. Warum ist das so? Warum suchen wir als Sänger nicht die anmutigen Bewegungen der Tänzer? Bewegungen, die kraftvoll und elastisch durch den ganzen Körper gehen und dabei für den Betrachter völlig mühelos aussehen. Klar, nicht jeder ist zum Tänzer geboren. Das wäre auch bei Weitem zu viel verlangt. Dennoch sehe ich mich als Gesangspädagogin auch als Bewegungslehrerin. Bewegungen sind dann stimmig, wenn sie aus dem Inneren kommen. Verschiedene Atemschulen (z.B. Schlaffhorst-Andersen oder auch Middendorf) suchen die Bewegungen, die ihren Ursprung in den natürlichen Atembewegungen haben. Auch die Stimmbewegung ist eine Bewegung.
Für Kinder sind Bewegung und stimmliche Äußerung eins. Sie drehen
sich im Kreis, werden immer schneller und die Töne, die sich dabei
verlauten lassen, werden immer höher. Kinder springen auf einem
Trampolin und rufen bei jedem Sprung „hui“ oder „juchhu“. Sie fahren auf
Fahrrädern oder Bobbycars und spielen Flugzeug und untermalen diese
schwungvollen Bewegungen mit Motorgeräuschen. Die Stimme hat ihren
Ursprung in der Bewegung.
Wir Erwachsenen haben den Zugang zu dieser
ursprünglichen Kraft häufig verloren. Die direkte Verbindung von
Bewegung und Stimme ist uns höchstens in Extremsituationen wie
Achterbahnfahren oder in Sturzsituationen noch parat. Möglicherweise
noch in Momenten des lustvollen Beisammenseins mit einem Partner, in der
uns die Glückshormone ausnahmsweise unsere gute Erziehung und die
Anwesenheit der Nachbarn vergessen lässt.
Die direkte Verbindung von Stimme und Bewegung lässt sich aber wieder entdecken. Voraussetzung ist, dass die Stimme „schüttelbar“ ist (vgl. letzte STIMMSINN-Gedanken).
Eine allererste und sehr einfache Möglichkeit ist es, die Stimme an Schritte anzubinden: Ich stehe und dann genau im Moment des Losgehens erlaube ich meiner Stimme zu tönen. Frei, auf einem beliebigen Ton, im Rahmen einer Gesangsübung oder am Anfang einer musikalischen Phrase. Der Schritt kann vorwärts, seitwärts oder auch rückwärts sein. Jede Bewegung bietet der Stimme andere Anknüpfungsmöglichkeiten. Drei Schritte, drei Töne? Vielleicht. Oder auch drei Schritte, ein langer Ton oder ein Schritt drei Töne. Wichtig ist das Gefühl, dass die Bewegung „der Schalter“ für die Stimme ist. Wenn die Stimme gut losgelassen und nicht geführt ist, hört man schnell, ob Bewegung und Stimme stimmig zusammenkommen.
Ich kann mir auch vorstellen, in meinem Becken oder meinem Brustkorb
rollt eine Flipperkugel. Sie kugelt und kullert, nimmt Kurven und Ecken
und die Stimme kann sich an diese Bewegung dranhängen. Vielleicht als
erstes im freien Tönen, dann in Glissandoübungen und, wenn die
Verbindung gut erspürt ist, auch in musikalischen Zusammenhängen. Die
Stimme und der Übende werden mit Mühelosigkeit belohnt. Selbstregulation
kann wirken, die Stimme sucht sich die Räume, die sie braucht. Ich bin
selbst immer wieder verwundert, wie viele „technische“ Probleme sich von
selbst erledigen, wenn die Stimme wirklich in Beziehung zur Bewegung
tritt.
Der Vorteil der Flipperkugelübung ist, dass ich zusätzlich
den Aspekt von „ich werde bewegt“ im Gegensatz zu „ich bewege mich
aktiv“ üben kann. Benutze ich für meine Bewegungen vor allem die grobe
Muskulatur, werden die Nuancen der Stimme sich weniger fein ordnen, als
wenn ich spürend in der Bewegung anwesend bin und mich vor allem durch
meine innere Muskulatur und auch fasziale Aktivität tragen lasse. Aber
wie immer beim Singen lernen, muss manchmal zunächst der grobe Weg
gewählt werden, damit der Schüler überhaupt ein Gefühl für Bewegung und
Schwung bekommt.
Das ist übrigens auch meist das erste, was Menschen, die bereits über
Singerfahrung verfügen, sagen, wenn ich mit ihnen Stimme in Kombination
mit großen Bewegungen übe. „Das kann ich doch jetzt nicht immer so
machen! Wie sieht das denn aus? Das geht doch nicht im Chor!“ usw.
Natürlich soll und werde ich nicht immer meine Arme wie wild nach oben
werfen, wenn ich singe und ich kann auch nicht immer auf einem
Schwingbrett stehen. Die großen Bewegungen öffnen aber Türen zu
stimmlichem Potenzial und lassen vor allem Verbindungen erleben, die ich
ohne die Bewegung nicht ohne weiteres spüren könnte. Die Bewegungen
können sich nach und nach Verkleinern. Auch kann man mit vorgestellten
Bewegungen oder Dehnungen arbeiten. Sie stärken die Propriozeption und
ich lerne nach und nach, meine losgelassene Stimme allein durch
wahrnehmende Anwesenheit im Körper an Bewegungen anzubinden, die nach
außen nicht größer sind, als die ohnehin vorhandene natürliche
Atembewegung.
Das „Andocken“ der Stimme an diese inneren Bewegungen
fördert einen ausbalancierten und gleichermaßen völlig individuellen
Klang zutage, der den Rohling bietet für stimmlichen Ausdruck jeden
Genres. Ergänzend dazu können und müssen selbstverständlich
Hilfsspannungen abgebaut und möglicherweise stimmliche Dysbalancen
bearbeitet werden, die allein durch die Bewegung nicht ausgeglichen
werden können.
Ein verbessertes Körpergefühl der Schüler durch das Erleben der Einheit von Stimme und Bewegung führt häufig zu einer unmittelbaren Freude am Tun. Das ist gerade für Anfänger elementar wichtig. Das Gefühl nichts „können oder erfüllen“ zu müssen, ist für eine entspannte Arbeitsatmosphäre sehr förderlich und trägt auch über manche Durststrecke hinweg. Meist nehmen die Schüler sehr bald auch im Alltag ihren Körper anders wahr und erleben mehr Stimmigkeit und Geschmeidigkeit. Das wiederum strahlt Lebendigkeit aus, die ansteckt.
Nun könnte ich nahtlos einen Anschluss zu meinem derzeitigen Lieblingsthema „Faszien“ finden. (Mein Chor beginnt schon zu kichern, wenn ich das Wort nur ausspreche und antwortet auf jede Frage mit der Erklärung: „Das liegt an den Faszien!“…) Obwohl man darüber Bücher schreiben könnte – was bisher meines Wissens noch nicht geschehen ist, möchte ich in einem der nächsten Beiträge versuchen, einen kleinen Einblick in die wunderbaren Verbindungen von Faszien und Stimme geben.
Bewegende Stimmmomente und stimmige Bewegungen wünscht,
Anna Stijohann