Geschüttelt, nicht gerührt!

Mit diesem Beitrag möchte ich eine kleine Serie zu den STIMMSINN-Basics eröffnen und damit die Grundfragen meines Unterrichts erläutern. Jeder Gesangslehrer hat seine ganz eigenen Grundlagentipps und Übungen. Wenn diese Basics einmal im Schüler verankert sind, lässt sich darauf gut und langfristig aufbauen. Manchmal versuche ich anderen gegenüber meine Arbeitsweise zu beschreiben. „Körper- und bewegungsorientiert“ ist meist das Wort, das ich verwende. Jede Bewegung des Körpers kann unterstützend oder bremsend auf die Stimme einwirken und ihr entweder helfen sich zu entfalten oder genau das verhindern. Aber was ist die allererste Grundlage, damit Stimme und Körper sich überhaupt begegnen können?

Manche Menschen nennen die Schwingungsfähigkeit des Körpers „Durchlässigkeit“. Aber was habe ich von der schönsten Schwingungsfähigkeit des Körpers, wenn meine Stimme festgehalten und durch überflüssige Spannung blockiert ist?
Eine ganz einfache Übung kann genau hier Abhilfe schaffen. Ich stelle mir vor, der Fußboden unter meinen Füßen ist ein Trampolin. Ich beginne ein wenig zu wippen. Nicht aus einer großen Kraftanstrengung heraus, sondern federnd und leicht. Die Fersen heben sich dabei kaum vom Boden ab. Wenn ich ein gutes elastisches Gefühl habe, nehme ich die Stimme hinzu. Ganz ungeformt lasse ich ein „huh“ oder „ööö“ ertönen. Das Wichtigste dabei: Bei jedem körperlichen Federn, federt auch die Stimme mit. Sie wird immer wieder leicht erschüttert und kann sich so nach und nach ihre Räume „erschütteln“. Die Stimme ist losgelassen. Ich nenne es „schüttelbar“.

Kinder kennen und lieben dieses Stimmgefühl. Für sie ist es ein großer Spaß mit dem Fahrrad über Kopfsteinpflaster zu fahren und dabei zu tönen. Sie genießen die Lockerheit, die die Stimme durch das Schütteln erfährt. Trotz oder gerade wegen des wackligen Gefühls hat die Stimme Lust, sich des ganzen Körpers als Resonators zu bedienen. Im Chor sorgt die Arbeit mit der „schüttelbaren“ Stimme zu großem Erstaunen. Chorsänger, die sich zurückhalten, weil sie meinen sie seien sonst zu laut, oder sich einfach noch nicht so richtig trauen, kann man auf diese Weise sehr einfach aus der Reserve locken. Der Chorklang wird sofort runder, körperlicher und entspannter. 

Die oben beschriebene Trampolinübung kann ich den ganzen Chor – und natürlich auch die Einzelschüler – machen lassen. Zunächst auf keiner festgelegten Tonhöhe. Meist wählen unerfahrene Sänger die bequeme untere Sprechlage. Ich kann sie dann ermutigen die schüttelbaren Töne auf verschiedenen Vokalen auch mal in die Höhe zu schleifen und damit zu spielen. Wenn die Hemmungen gelöst sind und der Klang freier geworden ist, kann als Kontrast versucht werden, den Körper zu schütteln und die Stimme dabei so festzuhalten, dass sie nicht mehr wackelt. Ein paar Töne festgehalten ausprobieren lassen, dann wieder zum Loslassen ermutigen und das einige Male im Wechsel. Wo haltet ihr die Stimme fest? Welche Muskeln verhindern, dass die Stimme mithopsen darf? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig, aber meist bekommen die einzelnen Schüler sehr schnell ein Gefühl für ihre persönlichen Haltemuster. Selbstentdeckt und sogleich gelöst steht die Chance gut, dass das losgelassene Gefühl sich auch ins Singen übertragen lässt. Als nächstes können z.B. Liedphrasen gesungen und geschüttelt werden. Anschließend wird das aktive Schütteln immer weniger. Das Gefühl, dass die Stimme weiterhin „schüttelbar“ bleibt, auch wenn ich wieder ruhig stehe, entwickelt sich nach und nach. Andere Bewegungen (z.B. Gewichtsverlagerung, Kreisen, Bewegen einzelner Körperteile) können dann später die Stimme auf sanftere Art ebenfalls „schütteln“.

Eine schüttelbare Stimme ist für mich die absolute Grundvoraussetzung für körperorientierten Gesangs- und Stimmbildungsunterricht. Manchmal werde ich gefragt: Wie soll das denn gehen, wenn ich mich dann beim Singen bewegen will oder muss? Wackelt die Stimme dann immer mit? Oder wenn ich tanzen muss? Das geht doch nicht!
Doch. Es geht. Es geht sogar gut. Denn wenn die Stimme gewohnt ist, sich an die Bewegungen des Körpers anzuhängen, profitiert die Stimme sogar von den Bewegungen und das Tanzen wird zum Motor für Klang und Ausdruck.
Zunächst überwiegt für die Meisten jedoch das Gefühl von Kontrollverlust. Die Stimme lässt sich nicht mehr steuern. Nicht mehr manipulieren. Sie macht, was sie will. Kiekst und hüpft und klingt manchmal alles andere als schön. Da gilt es auch, eigene Vorstellungen loszulassen und zu schauen, was sich von selbst organisieren will. Vielleicht ist die Stimme viel dunkler oder raumnehmender, als ich sie bisher kannte?

Früher dachte ich, dass eine körperlich gut angebundene Stimme dem klassischen Gesangsideal vorbehalten ist. Lange habe ich mich gewehrt, weil ich Angst hatte durch zu viel Raum den sprachnahen Sound meiner Stimme zu verlieren. Heute weiß ich, dass das keinesfalls so sein muss. Eine Stimme, die gewohnt ist, die Resonanzen des Körper wirklich auszuschöpfen, findet viel leichter zu ihrem ganz persönlichen Timbre, als eine zu stark fokussierte, nicht lockere Stimme. Eine vielfältige Ausnutzung der Resonanzräume (und das heißt auch, bestimmte Räume in verschiedenen Genres nur zu bestimmter Zeit zu nutzen) kann nur wohltuend sein und lebendiges Singen fördern.

Zu guter Letzt noch ein paar weitere Aspekte, die mir beim „Schütteln“ häufig begegnen. Mein liebstes Spielzeug in diesem Zusammenhang ist ein Swingstick. Ein flexibler Stab, der normalerweise in Fitnessstudios genutzt wird, um die innere Muskulatur anzuregen. Davon profitiert die Körperspannung ganz allgemein, aber der Swingstick kann vor allem beim Singen auch benutzt werden um die Stimme zu schütteln. Treffe ich beim Trainieren mit dem Stick die Frequenz des Übungsgerätes, so schwingt der Stab fast mühelos. Dann kann ich mich und meinen Körper und eben auch die Stimme mitschütteln lassen. Das Schütteln des Swingsticks ist sogar noch wirkungsvoller als die Trampolinübung (s.o.), weil ich mich mit der Stimme kaum entziehen kann. Halte ich fest, hört auch der Stick auf zu schwingen. Schwingt der Stick aber in guter Frequenz, so liegt diese etwa bei 5-6 Hz, also genau dort, wo das menschliche Vibrato angesiedelt ist. Ich kann mir sozusagen „das Vibrato von außen zufügen“ und dessen ordnenden Charakter (s. letzter Artikel „Selbstorganisation) ausnutzen. Ich kann hören, wie meine Stimme sanft schwingt und kann dann auch ohne zu schütteln nach dieser Möglichkeit auf die Suche gehen. Der Ton „ruckelt“ sich zurecht, findet Sitz und Resonanzräume und bleibt gleichzeitig beweglich. Was will man mehr?

Als weiteres Phänomen, das nicht unerwähnt bleiben soll, fällt mir immer wieder das Körpergefühl nach dem Schütteln auf. Die Vibrationen wirken sich aktivierend auf die Faszien und Muskeln aus und ich fühle mich vitalisiert und eutonisiert. Irgendwo im Körper kann ich, auch wenn ich ruhig stehe und nur spüre, immer noch ein Kribbeln oder Pulsieren finden. Dieses Nachvibrieren, Pulsieren ist körperlich erlebte Schwingung, ist quasi schon Ton. Ich kann mit geschlossenen Augen stehen, meine Aufmerksamkeit dort sammeln, wo ich das Kribbeln spüre und daran meinen Ton anbinden. Klingt abstrakt, klappt aber – auch mit unerfahrenen Schülern und Chorsängern – so gut wie immer ohne jede weitere Erläuterung und führt gerade in der Gruppe zu ganz wundervollen Klangimprovisationen.

Ich wünsche eine schüttelbar – schwingungsfähige Sommerzeit,

Anna Stijohann

P.S. In den nächsten Wochen folgen weitere Artikel über die STIMMSINN-Basics: Bewegung als Schalter für die Stimme; atemtypische Dynamik; Körperwahrnehmung als Grundmodus des Singens; Unabhängigkeit von Lippen, Zunge und Kiefer; Raum und Fokus… Mal schauen, wonach mir der SINN steht 🙂