Intuition und Singen
In meinem Kurs „Anders Denken – Anders Singen“ am ersten Samstag diesen Jahres ging es unter anderem um den Begriff „Intuition“. Um natürlich und stimmig zu singen, braucht es meines Erachtens nach eine gute Portion Intuition. Aber was bedeutet das eigentlich? Heißt intuitiv Singen einfach „aus dem Bauch heraus“ zu singen? Bedeutet das, dass dem Einen das Talent in die Wiege gelegt ist und dem anderen nicht? Kann ich intuitives Singen lernen? Gibt es ganz allgemein so etwas wie intuitives Lernen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Intuition als eine Spielart des Denkens
Singen ist, wie ich in meinem Artikel „Singen ist nicht kompliziert“ schon vor längerer Zeit beschrieben habe, eine komplexe Angelegenheit und deswegen auf Selbstorganisationsprozesse angewiesen. Und genau an dieser Stelle kommt für mich der Begriff „Intuition“ ins Spiel. Aber eins nach dem anderen. Meine Inspiration zu diesen Überlegungen entstammt übrigens dem Buch „Quantensprung des Denkens“ meiner Lieblingsphilosophin NATALIE KNAPP. KNAPP nennt die Intuition eine „Form des Denkens“. Wie kann das sein? Denken und Intuition scheinen sich beim ersten Hinschauen zu widersprechen. NATALIE KNAPP definiert Denken „als das Ordnen und Strukturieren von Wahrnehmungen“. Die Ordnungssysteme können dabei ganz unterschiedlicher Art sein (vgl. Analoges Denken). Wir benutzen den Begriff Denken im Alltag meist synonym mit dem, was KNAPP „rationales Denken“ nennt. Dabei geht es um Analysieren, Zerlegen, logisches Folgern und die Bewertung des Ergebnisses mit richtig oder falsch, mit gut oder schlecht.
Unbewusste Intuition
Im Kontrast dazu steht unser Alltagsbegriff der „Intuition“. „Aus dem Bauch heraus“, „spontan“ und „unreflektiert“ sind Begriffe, die uns sofort in den Sinn kommen. Auf diese Form der Intuition sind wir im Alltag elementar angewiesen. Müssten wir jeden Tag alle Entscheidungen neu treffen und immer wieder rational abwägen, wären wir mit selbstverständlichen Dingen wie Zähneputzen oder Kaffeekochen schnell überfordert. Das ist beim Singen nicht anders. Gewisse Denkprozesse laufen unbewusst ab und Entscheidungen und Handlungsmuster werden innerhalb von kürzester Zeit ohne unsere direkte Kontrolle getroffen bzw. aktiviert.
Und genau das ist der Vorteil der Intuition. Besonders in komplexen Zusammenhängen ist die intuitive Entscheidung einfach viel schneller als die rationale. Da macht es keinen Unterschied, ob wir beispielsweise ein Auto kaufen oder innerhalb eines Liedes Entscheidungen treffen möchten. In beiden Fällen kann unser Unbewusstes äußerst effektiv helfen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der unbewusste Teil unseres Denkens etwas hat, auf dessen Basis er seine Entscheidungen treffen kann. KNAPP nennt diese Basis Gedankenformen.
Gedankenformen
Gedankenformen sind Denkmuster, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Strukturen, die sich als effektiv herausgestellt haben und die wir wieder und wieder benutzen, bis sie uns so vertraut sind, dass sie in unser Unterbewusstsein übergegangen sind. Auch beim Singen sind wir auf solche Gedankenformen angewiesen. Vielleicht scheint uns dort das Handeln wichtiger als das Denken und somit Handlungsformen bedeutsamer als Gedankenformen. Nehmen wir aber NATALIE KNAPPS Definition des Denkens (Ordnen von Wahrnehmungen s.o.), so sind die Gedankenformen auch im Singen präsent.
Die Einschätzung der stimmlichen Tagesform und damit verbunden die Wahl unseres Einsing- oder Regenerationsprogramms könnte so eine Gedankenform sein. Weiterhin die Verortung und Ansteuerung von Resonanzräumen in uns und in Bezug zum Raum in dem wir singen. Klangfarben und Dynamikgestaltung wird im besten Falle ebenfalls über vorhandene Gedankenformen abgerufen bzw. über den Vorgang der unbewussten Intuition, die auf die Gedankenformen zurückgreift.
Intuition braucht Erfahrung
Nicht jede intuitive Entscheidung ist eine passende. Kenne ich mich auf einem Gebiet gut aus, werde ich intuitiv auch angemessen entscheiden. Ein erfahrener Koch wird intuitiv eher ein leckeres Abendessen zaubern als jemand der sonst nie kocht. Je intensiver wir uns mit einer Sache beschäftigt haben, desto vielschichtiger sind unsere Gedankenformen dazu. Wer viel Auto fährt hat vermutlich mehr und differenziertere Gedankenformen in Bezug auf den Straßenverkehr usw.
Damit wir also beim Singen intuitiv auf einen möglichst großen und vielseitigen Pool an Erfahrungen und Entscheidungen zurückgreifen können, ist es wichtig, dass wir diese vielseitigen Erfahrungen machen und immer wieder üben bis sie uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. Es ist wichtig, dass wir immer wieder unsere Wahrnehmungen ordnen – nicht nur rein rational, sondern auf verschiedenste Arten z.B. durch unser Körpergedächtnis oder das Analogisieren. Das Hören von Musik und somit das Einfühlen in eine bestimme genrebestimmte Musik- und Gesangsästhetik, die dann, wenn wir uns selber auf diesem Gebiet bewegen, intuitiv einfließen kann, fällt für mich ebenfalls unter diese Kategorie.
Bewusste Intuition
Wie aber funktioniert dann lernen? Wie kann ich zu neuen Erkenntnissen kommen, die über meine bisherigen Gedankenformen hinausgehen? Auch hier können wir unsere Intuition bemühen. Allerdings nicht die oben beschriebene spontane, unbewusste, sondern – wie KNAPP sie nennt – eine „bewusste Intuition“.
Ich möchte ein Beispiel aus meinem Alltag bemühen zu verdeutlichen, was damit gemeint sein könnte.
Nehmen wir an, ich möchte meine Wohnung umräumen. Mit der Aufteilung der Zimmer und auch mit den Stauraummöglichkeiten bin ich unzufrieden. Die Wohnung ist klein, die Möglichkeiten sind scheinbar begrenzt, jedes Familienmitglied hat seine Bedürfnisse und Wünsche, die zunächst kaum kompatibel erscheinen. Was kann ich tun?
Für gewöhnlich zeigt sich in mir zunächst der Wunsch nach Veränderung. Dann schleiche ich einige Tage wie „die Katze um den heißen Brei herum“. Ich beginne weder spontan und sofort mit dem Umräumen, noch mache ich mir aktiv darüber Gedanken, wie wohl die beste und platzsparendste Möglichkeit aussehen würde. Ich lasse die Situation auf mich wirken. Ich erlaube innere Bilder und Bewegungen. Nehme meine Gedanken und Impulse, aber auch Stimmungen und Atmosphärisches wahr und versuche gleichzeitig, diese nicht direkt zu bewerten.
Um das tun zu können, muss ich meine Gedankenformen
gut kennen um zu vermeiden, dass ich nur zu einer Lösung komme, die ich
bereits kenne und die für die aktuelle Situation nicht taugt. Ich nehme
eine beobachtende Haltung ein und versuche die Situation als Ganzes zu
erfassen. Ich lasse zu, dass ich manche Fragen (noch) nicht beantworten
kann und Zusammenhänge nicht verstehe.
Und irgendwann taucht eine
ganz neue Möglichkeit auf. Eine Möglichkeit, die mein rationaler
Verstand nicht zustande gebracht hätte. Plötzlich weiß ich, welches
Regal ich noch brauche, wo es stehen muss und welche anderen Möbel ich
wohin bewegen muss, damit alle Familienmitglieder zufrieden sind. Eine
wirklich neue Erkenntnis stellt sich ein.
Bewusste Intuition beim Singen
Wie kann ich diese offene, sich selbst ordnende (vgl. Synergetik) Spielart des Denkens nun für mein Singen nutzen? Zunächst möchte ich sagen, dass es sowohl auf Seiten des Lernenden, als auch von der Position des Lehrers her durchaus eine große Herausforderung sein kann, sich auf diese Lernform einzulassen. Nicht immer ist es leicht, Fragen unbeantwortet zu lassen und zu akzeptieren, dass ich bestimmte Dinge gerade nicht verstehe.
Gerade als erfahrerener Pädagoge – und da nehme ich mich auf keinen Fall aus – hat man schnell und gerne eine Patentlösung im Ärmel. Diese hat auch sicher ihre Berechtigung und eine gute und spontane Intuition, was ein Schüler gerade braucht, ist fürs Unterrichten elementar nötig. Aber manchmal können wir als Lehrer durch eine offene Haltung, die erstmal nicht bewertet und nicht immer Lösungen parat hat, einen Raum öffnen, der wirklich neue Erkenntnisse möglich macht.
Der große Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass wir den Schüler wirklich dort abholen können, wo er sich gerade befindet und die Chance hat aus sich selbst heraus zu lernen. Erlebt der Schüler z.B. einen neuen Resonanzraum oder einen anderen Zugriff auf die stimmgebende Muskulatur, so hilft es bei der Tiefe und Nachhaltigkeit dieser Erkenntnis häufig mehr, wenn der Schüler vom Lehrer angehalten wird, seine eigenen Wahrnehmungen – gerne auch schwammig und vielleicht zunächst ohne einen erkennbaren Zusammenhang – zu beschreiben und somit nach und nach für sich selbst und ganz persönlich greifbar zu machen, als wenn der Lehrer das Phänomen mit seinen Worten oder sogar einem Fachbegriff beschreibt und somit „abhakt“.
Bewusste Intuition üben
Die beobachtende Wachheit, die es braucht, damit die bewusste Intuition ihre Arbeit verrichten kann, ist eine innere Grundhaltung, die regelrecht geübt werden muss. Damit die Verschiebung der eigenen Aufmerksamkeit weg von Bewertungen, Leistungsdruck, Anspruchsdenken oder auch Zweifeln hin zur Jetzt-Situation, auf die es sich einzulassen gilt, gelingen kann, muss ich innehalten und die Unterrichts- oder Übesituation verlangsamen. So kriege ich leichter mit, wenn Gedankenformen greifen möchten und kann mich bewusst anders orientieren.
Wir können auch im Unterricht(en) und im eigenen Üben, wie oben in meinem Alltagsbeispiel beschrieben, um den „heißen Brei“ herumschleichen. Dann ergeben sich häufig Lernsituationen, die ganz anders sind als erwartet und fast immer mit einem wirklich neuen, tieferen Verständnis einhergehen. Auch für mich als Lehrer. Meine Unterrichtsanalogien und mein Übungsrepertoire erweitern sich oder ich begreife sogar ein stimmliches Phänomen auch für mein eigenes Singen nochmal anders.
Lust auf offene Fragen und Mut zum Nichtwissen wünscht
Anna Stijohann
P.S. Eine Neuauflage des „Anders Denken – Anders Singen“ – Kurses gibt es am So, den 16.07.2017