Singen ist nicht kompliziert!

Ich lerne, auch wenn einige Menschen behaupten das sei schwierig, unheimlich viel übers Singen aus Büchern. Natürlich nicht nur. Das ist nicht möglich, daran gibt es keine Zweifel. Aber manchmal lese ich in Büchern genau das, was ich längst intuitiv weiß. Da steht schwarz auf weiß, was ich immer geahnt habe, und nun kann ich es endlich auch mit meinem Verstand begreifen. Ein großartiges Gefühl. Das Buch, aus dem ich vielleicht am Allermeisten übers Singen gelernt habe, ist ein Buch übers „Denken“. Es hat mit dem Singen überhaupt nichts zu tun und doch jagte beim Lesen ein Aha-Erlebnis das nächste. Ich kann dieses Buch „Kompass neues Denken“ der Philosophin Natalie Knapp nur wärmstens empfehlen.

Eines dieser wichtigen Aha-Erlebnisse ist der Unterschied zwischen kompliziert und komplex. Ich möchte diesen Unterschied kurz näher erläutern. Als kompliziert gilt ein Sachverhalt, wenn eine überschaubare Anzahl von Faktoren, die immer auf die gleiche Weise zusammenwirken, durch gründliches Nachdenken zu verstehen ist. Je nach Sachverhalt gelingt das leicht oder schwer, aber das charakteristische an einem komplizierten Ding oder Gedanken oder Prozess ist, dass ich am Ende durch wiederholbares Schlussfolgern immer auf das gleiche Ergebnis komme, egal wer sich die Gedanken macht und egal wie die äußeren Umstände sind (z.B. Gesetze, Maschinen, der Quintenzirkel).

Als lebensnahes Beispiel wählt Natalie Knapp das Themengebiet „Fußball“: Die Abseitsregel ist kompliziert, aber mit einigem Nachdenken durchaus zu verstehen. Diese Regel spuckt am Ende, wenn ich zweimal den gleichen Sachverhalt betrachte, auch zweimal das gleiche Ergebnis aus.
Ein Fußballspiel im Ganzen betrachtet ist dagegen komplex. Selbst wenn ich zweimal die selben Mannschaften im selben Stadion gegeneinander antreten lasse, ist das Ergebnis offen. Natürlich gibt es bessere und schlechtere Mannschaften, fittere und klügere, erfahrene und dynamischere Spieler. Aber „(…) entscheidend is auf’m Platz“ (Adi Peißler)

Viele verschiedene Teile und Aspekte des Spiels greifen ineinander und beeinflussen sich gegenseitig. Selbst wenn ich sie alle bis ins Kleinste kennen und in meine Überlegungen einbeziehen könnte, würde ihre dynamische Wechselwirkung immer wieder neu wirken. Somit ist das Ergebnis nicht berechenbar, sondern offen.
Genau diese Offenheit ist auch beim Singen Grundprinzip. Natürlich kann ich meine Muskulatur trainieren, Hilfsspannungen abbauen, mich einsingen, mich, meinen Körper und meine Stimme immer besser kennenlernen. Das ist wichtig und natürlich nicht vergebens – auch Profifußballer trainieren, haben mentale Coaches und achten auf ihre Ernährung. Und trotzdem sind Chaos und Zufall immer ein Teil des Spiels.

Die gute Nachricht: Auch in komplexen Zusammenhängen gibt es Gesetze und Regeln, die uns erlauben, diese zu steuern und uns immer besser in ihnen zurechtzufinden. Für den ein oder anderen sehr linear und logisch denkenden Verstand ist das eine echte Herausfordung. Für den leidenschaftlichen Spieler und abenteuerlustigen Stimm-Surfer eine großartige Chance.

Und nocheinmal, weil ich selber eine Weile gebraucht habe, bis ich das wirklich durch und durch verstanden hatte. Dass wir das Ergebnis beim Singen niemals wirklich voraussagen können, liegt nicht daran, dass wir nicht genug wissen oder nicht genau genug messen können oder es einfach zuviele zu berücksichtigende Aspekte für unsern begrenzten Verstand sind.
Die Offenheit ist jedem komplexen System systemimmanent!

Mich hat dieser Gedanke zuerst ein wenig ratlos gemacht. Wie soll das gehen? Wie soll ich jemandem etwas beibringen, von dem ich nicht genau sagen kann, wie es funktionert? Welche Möglichkeiten gibt es, dieses komplexe System „singender Mensch“ zu steuern und Weiterentwicklung zu ermöglichen? Die Antwort, die Natalie Knapp und andere Wissenschaftler aus dem Bereich der Komplexitätsforschung geben, ist einfach und klar.

Komplexe Systeme sind auf Selbstorganisation angewiesen.

Dass das meiner Meinung nach auf die Stimme vollends zutrifft, habe ich in meinen Texten schon oft genug erwähnt. In einem meiner nächsten STIMMSINN-GEDANKEN möchte ich insbesondere auf das Prinzip „Synergetik“ genauer eingehen und auch ganz konkret beschreiben, welche mannigfaltigen Möglichkeiten wir für unser eigenes Singen und fürs Unterrichten dadurch haben. An dieser Stelle sei aber nur kurz erwähnt, dass dieses Prinzip auf einer Organisation aus sich selbst heraus aufbaut. Nur so lassen sich komplexe Systeme – nicht nur das Singen, sondern auch unendlich viele andere – nachhaltig verändern.

Wenn ich das Fußballbeispiel noch einmal bemühe, fällt mir noch auf, dass vor allem der Mannschaftsaspekt eine wichtige Rolle spielt. Je geübter die Spieler im Miteinander sind, desto flexibler können sie reagieren. Der Trainer am Spielfeldrand wird im besten Falle arbeitslos, weil die Spieler so gut eingespielt sind, dass sie wissen, was zu tun ist. Klar, die beste Mannschaft ist nichts, wenn einzelne Spieler nicht gut trainiert oder müde sind. Aber das Zusammenspiel ist entscheidend, nicht der einzelne Superstar.

Das ist beim Singen nicht anders. Innere und äußere Kehlkopfmuskulatur brauchen sich gegenseitig und können sich, wenn wir es geschickt anstellen, gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken. Die Resonanzfähigkeit des Körpers und die Freiheit des Atems sind wichtige Aspekte, allein durch sie, kann aber noch kein Mensch singen. Das ist mir bereits ein paar Mal begegnet, wenn Menschen z.B. sehr körperarbeitserfahren und dementsprechend durchlässig waren, aber die Stimme einfach noch keine Idee hatte, wie sie die Räume beim Singen nutzen konnte. Außerdem können Menschen sehr musikalisch und gleichzeitig miserable Sänger sein 🙂
Erst wenn die Einzelaspekte sich mehr und mehr zu einem Netzwerk verzahnen und ich immer wieder die Wechselwirkungen erlebe und einübe, kann sich das ganze komplexe System zu einer neuen, höheren Ebene hinentwickeln. Muskeltraining kann und muss mit der musikalischen Wirklichkeit verknüpft werden. Atemarbeit für Sänger kann ohne den Einsatz der Stimme und den Bezug zum Körper nur am Rande sinnvoll sein. Emotionen können Türöffner zu Klängen und Resonanzräumen sein.
Wie schon oben geschrieben, sind die Wechselwirkungen unendlicher Art.

Singen ist also nicht kompliziert sondern komplex. Das macht für mich einen großen Unterschied. Wir können und müssen nicht alles wissen – für mich als Sängerin und als Lehrerin ein entlastendes Gefühl. Es gilt, sich orientieren zu lernen und sich immer besser in das Spiel einzuüben. So wird aus einem Anfänger ein (Europa-)Meister!

Ich wünsche viel Freude beim zufällig chaotisch-komplexen Singen,

Anna Stijohann