Stimmliche Selbstorganisation

Unsere Stimme ist ein komplexes System. Wenn wir möchten, dass dieses System sich entwickelt, sind wir auf Selbstregulation angewiesen, denn zuviele Aspekte des Stimmkomplexes wirken wechselseitig aufeinander ein, als dass wir durch das Herausstellen eines einzelnen Teils die ganze Stimme nachhaltig verändern könnten. Wie in meinem letzten Artikel angekündigt, werde ich dieses mal ganz konkret auf die gesangspädagogischen Möglichkeiten eingehen, diese Selbstorganisationsprozesse zu nutzen. Doch vorher möchte ich kurz beleuchten, wie sich die wissenschaftliche Betrachtungsweise „Synergetik“ ganz allgemein mit dem Aufbau, der Funktionsweise und den wesentlichen Faktoren selbstregulierender Prozesse in offenen, dynamischen, nicht linearen System auseinandersetzt.

Der Physiker Hermann HAKEN (Wikipedia) umschreibt es so: „Die Synergetik sucht nach allgemeingültigen Prinzipien für die Selbstorganisation oder Selbststrukturierung, unabhängig von der Struktur der einzelnen Teile.“ Er beschreibt diese Prinzipien anhand eines anschaulichen Beispiels:

Wird Flüssigkeit in einem Topf erwärmt, so entsteht, zunächst für den menschlichen Betrachter unmerklich, dann jedoch immer deutlicher und größer, in der Flüssigkeit eine Bewegung. Der ursprüngliche Zustand der Flüssigkeit wird instabil und so kann Veränderung eintreten. Die entstehende Bewegung läuft nicht chaotisch ab, sondern in Form von Rollen. Die Flüssigkeitsteilchen stehen gewissermaßen miteinander in Kontakt und so kommt es zu einer kollektiven, koordinierten Bewegung. Dabei streben die Teilchen stets nach der günstigsten Bewegungsform und immer mehr Moleküle werden „versklavt“ und in die Bewegung einbezogen. Die Bewegung entsteht selbstorganisiert. Die Rollenbewegung fungiert dabei als Ordner. Die Flüssigkeit geht als Ergebnis des Prozesses in einen neuen Zustand über.

Anhand dieses Beispiels lassen sich selbstregulierende Vorgänge leicht begreifen. Die wichtigsten Elemente möchte ich noch mal zusammenfassen.
Der selbstregulierte Prozess kommt durch Energie in Gang, die dem System von außen zugefügt wird. Die Elemente des Systems werden durch die Energiezufuhr destabilisiert und ein Ordner, der mit den Elementen in wechselseitiger Beziehung steht und außerdem systemimmanent ist, übernimmt selbstorganisiert die Führung und versklavt immer mehr Elemente, die dabei den günstigsten Weg wählen. Schließlich geht das ganze System in eine höhere Ordnung über.

Auf das komplexe System „singender Mensch“ übertragen, gibt es viele Möglichkeiten, wie ein solcher Prozess entstehen kann, welche Energie verwendet wird um die Bewegung ins Rollen zu bringen und welche Teilsysteme des singenden Menschen involviert sind und aktiviert werden sollen.
Verschiedene mehr oder weniger bekannte gesangspädagogische Ansätze machen sich dieses Prinzip zunutze. In den meisten dieser Konzepte ist es die Aufgabe des Lehrers, die Aktivierungsenergie von außen hinzuzufügen. Durch diese Energie wird der Schüler in eine Destabilisierung gebracht. Gewohnte Muster werden außer Kraft gesetzt, damit der systemimmanente Ordner ansetzen kann. Je nach Methode können diese Ordner ganz unterschiedlicher Art sein.

Die Funktionale Methode nach G. ROHMERT stützt sich z.B. vornehmlich auf das Lauschen auf die bei etwa 3000 Hz (auch 5000 Hz und 8000 Hz) liegenden Gesangsformanten. Diese hochfrequenten Klänge dienen als Ordner (s.o.) und ermöglichen, dass sich die Stimme über Rückkopplungsmechanismen zwischen Gehirn, Ohr und Stimme selbstreguliert entfalten kann. ROHMERT weist sogar explizit auf HAKEN und die Prinzipien der Synergetik hin! Als weitere mögliche Ordner nennt sie das Vibrato und das kinästhetische Empfinden.

Andere funktionale Konzepte (z.B. Reed, Speechlevel Singing, syng:training usw.) arbeiten mit der Aktivierung ganz bestimmter Muskelgruppen, die dann wiederum integrierend auf das Gesamtsystem wirken.

Der von R. SCHULZE-SCHINDLER entwickelte Ansatz der bipolaren Atemdynamik arbeitet mit dem Atem als Ordner. Dieser wird über bestimmte Körperbewegungen und Haltungen in seinem ursprünglichen Rhythmus unterstützt und ordnet so die Stimmfunktion aus dem Tun heraus.

Andere Gesangschulen, wie die Arbeitsweise nach R. HART oder K. LINKLATER, knüpfen am menschlichen Bedürfnis nach Kommunikation und emotionalem Ausdruck an. Embodiment und Körperintelligenz sind weitere Ideen. Auch hier kann sich die Stimme selbstreguliert zu einer höheren Ordnung hin entwickeln. Wirkungsvoll ist auch der Zusammenhang von Faszienarbeit und Stimme. Die Stärkung der Körperwahrnehmung aber auch die direkte Aktivierung der Faszien durch gezielte Bewegungen hat eine starke sich selbst regulierende Wirkung auf die Stimme.

Dabei ist insgesamt natürlich schwierig zu greifen, was genau Teil des Systems „Stimme“ ist und welche Parameter für eine höhere Ordnung im Vordergrund stehen. Geht es um den reinen Klang (Ästhetik, Variabilität, Umfang, Resonanznutzung, Intonation usw.) oder den gesamten musikalischen Zusammenhang? Geht es um die Stimmigkeit des Singenden und seine Ausdrucksfähigkeit oder um die Möglichkeit einer mühelosen Tonerzeugung ? Emotionale und persönliche Aspekte sind ohne Zweifel ebenfalls Teil eines Sing-Lernprozesses und deswegen mit zuberücksichtigen.

Daran anknüpfend könnte ich noch viele weitere Beiträge schreiben und werde es sicher tun. Für diesen Moment erscheint es mir jedoch am Wichtigsten, auf die Möglichkeit der Selbstorganisation der Stimme hinzuweisen und die großartigen Beispiele und vielfältigen Methoden, die sich darauf beziehen, zu benennen. Vermutlich gibt es viele weitere, die mir bisher nicht begegnet sind. Alle diese Methoden haben gemein, dass es nicht darum geht, etwas zu lernen, um es dann zu können, sondern Prozesse anzustoßen, die dann selbstreguliert weiterlaufen können. Der Lehrer wird damit zum Initiator, Destabilisator und Begleiter. Er sorgt dafür, dass der Schüler die Destabilisierung nicht als etwas Unangenehmes erlebt, sondern ein Vertrauen entwickeln kann, dass das Chaos und die Unsicherheit, die zunächst entstehen, die Vorboten einer neuen, höheren Ordnung sind.

Für den Schüler liegt der größte Vorteil wohl darin, dass er den Lern- und Ordnungsprozess selber und bewusst erlebt und somit einen anderen Zugriff auf das erworbene „Wissen“ hat, als wenn er etwas „beigebracht“ bekommt. Dem individuellen Lerntempo wird Rechnung getragen und der Schüler entwickelt im Idealfall seinen ganz eigenen Klang. Der Lehrer tritt einen Schritt zurück und lässt sich, genau wie der Schüler, überraschen, in welchen Zustand die Stimme als nächstes übergehen möchte.

Nicht immer ist es leicht, die Geduld und das Vertrauen aufzubringen, dass sich die Dinge von allein ordnen werden. G. ROHMERT vergleicht unsere rege Angewohnheit zu viel zu tun mit der Idee, einen Topf mit Wasser zum Kochen zu bringen, indem wir außerordentlich schnell in diesem rühren. Wird jedoch an der richtigen Stelle Energie zugeführt, so kann mit viel weniger Aufwand ein besseres Ergebnis erzielt werden. Für die Stimme bedeutet zu viel zu tun vor allem, zu viel zu wollen. Das Klangideal oder die Dynamik, die wir erreichen wollen, veranlasst uns, unsere Muskulatur bewusst oder unbewusst zu manipulieren um zum Ergebnis zu kommen. Überlässt man die Stimme ihrer Selbstregulation, so kommt es zu einer funktionalen Beteiligung der benötigten Muskulatur ohne kompensatorische Hilfs(ver)spannungen. Auf diese Weise können wir angeborene Fähigkeiten wiederfinden, zulassen und überflüssige, energieaufwendige Angewohnheiten verabschieden.

Eine Woche voller Selbstregulation – vielleicht ja auch im Chor? – wünscht

Anna Stijohann