Kontakt

Ohne Zweifel ist „Kontakt“ das von mir am häufigsten im Unterricht und auch in der Chorprobe verwendete Wort. Fast scheint es mir, als wäre das die Essenz des Singens überhaupt. Auf so vielen Ebenen suchen und finden wir Kontakt, wenn wir singen und uns ganz allgemein mit der Stimme beschäftigen. Fein, kaum greifbar und doch konkret. Kontakt setzt ein gewisses Maß an Sensibilität voraus und im Grunde ist es das, wonach wir uns alle sehnen. Verbindung, Berührung – im Singen, im Musizieren, wie im Leben.

Was ist Kontakt?

Contingere = Berühren. Kontakt findet immer dann statt, wenn mehrere beteiligte lebendige Systeme sich einander annähern. Dabei begegnen sich die Kontaktparteien gleichberechtigt und im gegenseitigen Einverständnis über die Annäherung. Austausch findet statt. Kontakt ist immer wieder neu, jedes Mal anders und gleichzeitig kann ich mich durchaus darin einüben, wie in ein Spiel. Echter Kontakt ist frei von Manipulation.

Betrachten wir die menschliche Ebene so erscheint uns das selbstverständlich. Was aber bedeutet das, wenn wir uns der Stimme zuwenden? Ich betrachte meine Stimme als „eigenes Wesen“. Die beteiligten Systeme (Muskeln, Knorpel, Atem, Emotion u.a.) bilden im Zusammenspiel eine Einheit, mit der ich als Sänger in Kontakt treten möchte und der dann im gemeinsamen Singen seinen Ausdruck findet.

Einsingen

Am Anfang einer Chorprobe, im Gesangsunterricht, wenn wir selber üben oder vor einem Konzert möchten wir unsere Stimme aufwärmen. Immer seltener spreche ich in diesem Zusammenhang vom „Einsingen“. Für mich selber stellt es sich eher wie eine Kontaktaufnahme dar. Während beim „Einsingen“ irgendwann der Punkt erreicht scheint, an dem ich „fertig“, also „eingesungen“ bin, ist eine stimmliche „Kontaktaufnahme“ ergebnisoffen. Auch der Beginn der „Aufwärmeinheit“ gestaltet sich anders. Ich beginne nicht aus einem Mangel heraus, der behoben werden muss, sondern aus Neugier und Lust am Zusammenspiel. „Wie geht es Dir heute? Hast Du Lust auf einen Austausch? Auf ein wenig gemeinsames Schwingen und Klingen? Was brauchst Du heute?“ Das sind die Fragen an meine Stimme oder an die Stimme des Schülers, von denen ich mich leiten lasse.

Manipulation versus Erleben

Allein diese veränderte Wahrnehmung auf Stimm- und Aufwärmübungen macht häufig den Unterschied, ob ich am Rest der Chorprobe, der Gesangstunde oder einem Auftritt manipulativ oder erlebend teilnehme. Versuche ich die Stimme „unter Kontrolle“ zu bekommen, bestimmte Töne auf bestimmte Weise zu „produzieren“, meine Atemtechnik zu „optimieren“ oderschlicht dafür zu sorgen, dass alles „funktioniert“ (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?), ist eine Begegnung auf Augenhöhe mit der Stimme nicht gegeben und wird sehr wahrscheinlich mit Mühe beim Singen beantwortet werden. Gehe ich mit meiner Stimme in Kontakt, kann aus dem Zusammenspiel Neues und Altes entstehen und ich habe die Chance, wirklich zu erleben. (vgl. Es könnte so einfach sein) Ein lebendiges, lustvolles Singgefühl ist die Folge und sicher nicht die schlechteste Grundlage für die anschließende Chorprobe oder das Konzert.

Stimmkontakt

Auf verschiedenen Ebenen kann ich mit meiner Stimme auf Kontaktsuche gehen. Die Stimmbänder an sich sind ein erstes Beispiel dafür. Sie möchten zusammenkommen und gemeinsam schwingen. Damit das mühelos passieren kann, braucht es den Kontakt mit der Atemluft, die durch ihre Strömung dafür sorgt, dass die Stimmlippen zueinander kommen. Diesen Ort des Kontaktes einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, lohnt sich. (vgl. Und wo singst Du so?) Ein Gespür dafür zu bekommen, wie sich echter Stimmkontakt anfühlt – fein, vibrierend und äußerst filigran – kann den Sänger dafür sensibilisieren, wie wenig Kraftaufwand es braucht, einen Ton entstehen zu lassen. Mit den Händen kann ich wiederum durch äußeren Kontakt am Hals das feine Vibrieren erleben und somit eine weitere Ebene des Verstehens zufügen.

Körper-Stimm-Kontakt

Als Ergänzung zum Kontakt der Stimmbänder braucht es außerdem den Kontakt zwischen Körper und Stimme. (vgl. Klangkörper) Gerade an dieser Stelle ist die Gefahr groß, dass der Körper vor allem manipulativ eingesetzt wird. Gängige Konzepte von „Stütze“ vermitteln teilweise den Eindruck, es bräuchte vor allem aktiven Muskelzugriff an ganz bestimmten Stellen des Körpers. Hier ein wenig Druck, hier etwas Zug mit dem Ergebnis, dass die Stimme dann „besser funktioniert“.

Ich bin anderer Meinung. Selbstverständlich unterstützt der Körper die Stimme durch Aktivität und sorgt für Klangfülle, Kraft und Flexibilität. Aber er tut dies vor allem aus sich selbst heraus. Alles was wir tun müssen, ist dafür zu sorgen, dass der ganze Körper beweglich ist und die unterstützenden Systeme reaktionsbereit sind. Dieser Zustand entsteht durch Kontakt und der entsteht wiederum durch Hinwendung und Aufmerksamkeit. Die Kraft unserer gelenkten Wahrnehmung ist diesem Zusammenhang das Werkzeug der Kontaktaufnahme. (vgl. Bewusstsein als Tür)

Der Körper führt, die Stimme folgt

Meine favorisierten Wege, die Stimme und den Körper in Kontakt zu bringen sind das Schütteln, das Spüren von Gewicht, große und kleine Bewegungen sowie der spürende Kontakt mit den Händen. Und egal welchen dieser Wege wir wählen, immer geht es ums Loslassen und das Vertrauen, dass der Körper die Führung über den entstehenden Ton übernehmen kann. (vgl. Kontrollverlust – Ja bitte!) Dabei verstehe ich Führung hier wie bei einem gut eingespielten Tanzpaar.

Der Mann führt die Dame, er lenkt und gibt Orientierung. Sie folgt und nutzt diese Führung für ihre Bewegungen. Dort holt sie sich den Schwung für Drehungen und Schwünge, wird nach einer Hebefigur aufgefangen und findet immer wieder Anlehnungsmöglichkeit. Das Tanzpaar Körper und Stimme kann nur zusammen funktionieren. Jeder für sich bleibt eindimensional und keinsfalls ist der eine Partner der manipulierende Lenker und der andere der passive Spielball. Nimmt das Paar seine Kraft und Dynamik nicht aus dem respektvollen Zusammenspiel, entsteht unnötige Mühe. Gelingt der Kontakt, entsteht ein Einheit, die ausdrucksstärker ist als die Summe seiner Teile.

Kontakt üben

Wie mit einem guten Freund, gelingt der Kontakt mit der Stimme durch regelmäßiges Üben immer leichter. Manches geht mit der Zeit wie von selbst, andere Aspekte des gemeinsamen Erlebens brauchen immer wieder Aufmerksamkeit. An manchen Tagen stellt sich Kontakt spontan ein, manchmal ist es einfach die Tagesform der beteiligten Parteien, die das Zusammenkommen erschwert. Im Gegensatz zur Manipulation ist Kontakt, besonders wenn er noch auf wackligen Beinen steht, auch leicht störbar. Trotzdem nicht aufzugeben, sondern guten Mutes immer und immer wieder den Kontakt zu suchen, ist unsere Aufgabe als Sänger und auch als Lehrer.

Kontakt mit Anderen

Dass es auch im Verhältnis von Schüler und Lehrer sinnvollerweise um Kontakt und nicht um Manipulation gehen muss, erscheint mir selbstverständlich. Auch im Musizieren mit anderen gibt es für mich keine Alternative. Gerade im Chor erscheint mir das immer wieder als Herausforderung. Welche Rolle hat der Chorleiter dann? Wie kann in einer so großen und in den meisten Fällen heterogenen Gruppe wirklich Kontakt stattfinden? In einer Band oder einem kleinen Ensemble ist es sicher einfacher, aber ich bin davon überzeugt, dass es sich so oder so lohnt, immer wieder im gemeinsamen Singen und Musizieren echten Kontakt einzufordern. Menschen wünschen sich Verbindung und scheuen sich gleichzeitig vor Kontakt. Im Kontakt muss und kann ich mich zeigen und in einen echten Austausch gehen. Der Austausch, das „Hin-und-Her“ wird sich in jedem Fall verstärkend auf den Klang, die Musik und das Gefühl des gemeinsamen Schwingens auswirken.

Was erzählt die Musik?

Auch mit der Musik an sich möchte ich in Kontakt gehen. Rhythmen, Klänge, Harmonien – gelingt es mir, mich wirklich einzufühlen, kann ich mich ganz anders musikalisch verorten und ausdrücken, als wenn ich versuche diese zu „beherrschen“ und auf biegen und brechen zu üben, damit es „funktioniert“. (vgl. Rhythmusarbeit) Wie erlebe ich spannungsgeladene Chor-Akkorde und ihre Auflösung? Wie und wo kann ich den durch und durch pulsierenden Groove eines Songs spüren? Phrasenlänge, musikalische Bögen, Artikulation und Dynamik – das alles kann ich nur wirklich begreifen, wenn ich mich der Musik mit intensiver Aufmerksamkeit (z.B. in Improvisation) zuwende und mich ihr auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen annähere.

Emotion

Dicht verwoben ist der musikalische Kontakt mit dem emotionalen Kontakt (vgl. Nackt). Welche Grundstimmung hat ein Musikstück, was ist die zugrundeliegende Emotion? Wo kann ich mich von der Musik berühren lassen, wo gibt es Raum, meine eigenen Gefühle durchklingen zu lassen? Von außen festgelegter emotionaler Ausdruck ist schwer in echte, eigene Beteiligung umzuwandeln. Was ist mein ganz persönlicher Zugang zum Stück? Was gefällt mir besonders gut? Warum habe ich dieses Stück ausgewählt? Was macht das Besondere aus? Das sind die Fragen, die ich mir und meinen Schülern immer wieder stelle. Kontaktaufnahme mit den musikalischen und emotionalen Inhalten eine Stückes kann auf vielerlei Weise stattfinden. Körperlich-spürend, imaginierend, der Sprache nachlauschend, mithilfe von Pinsel und Farben, durch Assoziationsketten und eigene Subtexte.

Dann kann sehr persönliche und berührende Musik entstehen.

Stimmliche Kontakterlebnisse mit intensiven Überraschungen wünscht

Anna Stijohann