Und wo singst Du so?
Wenn man Kinder fragt, wie man eigentlich genau singt, ist meist die erste Antwort: „Mit dem Mund!“ Erwachsene wissen darüber hinaus häufig, dass es sowas wie „Stimmbänder“ im Hals gibt. Manchmal fallen auch die Begriffe „Kopf- und Bruststimme“, manche Menschen möchten gar mit ihrer „Bauchstimme“ singen. Mit dem „Herzen“ möchten wir natürlich auch singen und um die Verwirrung perfekt zu machen, spreche ich persönlich immer wieder vom ganzen Körper als „das Instrument“. Tja, da stellt sich die Frage, welche Ideen korrekt oder zumindest zum Singenlernen hilfreich sind. Ganz behutsam möchte ich versuchen ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen und Bilder, Wahrnehmungs- und Arbeitsansätze vor allem für die Arbeit mit Laien vorschlagen.
Stimme passiert im Hals
Legen wir einmal die Hände vorne an den Hals und sprechen ein langgezogenes [mmh], als würde uns etwas besonders gut schmecken. Dann können wir ganz deutlich spüren, wie das Gewebe schwingt. Auch wenn wir ein [a] auf diese Weise ertönen lassen, spüren wir die Vibrationen. Ich schreibe ganz bewusst nicht „singen“, denn es geht nicht um einen Schönklang auf einer festgelegten Tonhöhe, sondern nur um den ganz simplen Vorgang, dass die Stimmbänder – angeschwungen von der Atemluft – anstrengungslos zum Klingen kommen. Wie passiert das genau? Wir können diese kleine Übung mehrfach wiederholen oder z.B. in einem „Atemzug“ erst Luft strömen lassen, dann einen Ton zum Klingen bringen, dann wieder Luft, dann wieder Ton. Was ist der Unterschied? Wie geschieht dieses „Anschwingen“?
Stimmbänder möchten schwingen
Der amerikanische Vocalcoach PER BRISTOW (Sing with freedom)
weist bei dieser Übung auf im Grunde nur zwei wesentliche Fehlerquellen
hin. Erstens: Der Ton ist zu hauchig, die Stimmbänder schließen also
nicht richtig, kommen nicht in Kontakt, der Ton ist nicht klar, zu viel
Luft geht verloren. Zweitens: Zu wenig Atem fließt und die Stimmbänder
haben in sich eine zu hohe Spannung. Freie Schwingung ist nicht möglich.
Um genau den Mittelweg zu finden und so auf sehr einfache und
wirkungsvolle Weise zu erleben, wie leicht singen sein kann, ist es
sinnvoll, beide Extreme einmal auszuprobieren. Die meisten Menschen
können das sofort nachmachen, wenn man es demonstriert und auch im Chor
ist das ein sehr einfaches Mittel um die Sänger für ein zuviel an
Spannung oder überlüftete Töne zu sensibilisieren. Unsere Stimmbänder
möchten in Kontakt kommen und gemeinsam locker und entspannt schwingen.
Im Grunde eine sehr einfache Essenz dessen, wie Stimmgebung
funktioniert.
Tonhöhe hat nichts mit Höhe zu tun
Wenn nun die Stimme entspannt auf beliebiger Tonhöhe schwingt, können wir beginnen kreuz und quer durch unseren Stimmambitus zu experimentieren. Schleifen, Loopings, Glissandi und irgendwann kleine Übungsphrasen, Tonleitern usw. Wichtig: Es bleibt beim „Geräusch“. In den allermeisten Fällen geht beim Gefühl von „Singen“ nämlich der gerade eben gefundene, natürlich-entspannte Kontakt zur Stimme verloren und innere Bewertungen (richtig/falsch, zu hoch/zu tief, schön oder schräg) wirken kontraproduktiv. Sehr hilfreich in diesem Zusammenhang ist der Hinweis, dass die Tonhöhe der Stimme überhaupt nichts mit „Höhe“ zu tun hat, sondern, leicht vereinfacht gesagt, mit Länge und Spannung. Wie Gummibänder werden die Stimmbänder in die Länge gezogen und gedehnt. Dadurch ergibt sich eine andere Schwingungsfrequenz und damit eine veränderte Tonhöhe.
Anschauungsmaterial
Eine handvoll Haushaltsgummis – in der Chorprobe an alle verteilt – kann da ziemlich schnell auch für erlebte Klarheit sorgen. (vgl. Spielzeug zum Singen) Erstaunlich, wie anders sich der Körper organisiert, wenn man ein kleines Gummiband in der Hand hält und damit die dehnende Stimmbewegung simultan zum Singen ausführt. Dazu noch ein kurzer Hinweis: Erstaunlich viele Menschen gehen davon aus, dass sich die Stimmbänder hochkant im Hals befinden. Dieses Missverständnis kann schnell ausgeräumt werden, wenn die Gummibänder parallel zum Fußboden gehalten und gespannt werden. Ganze Stücke oder auch einzelne schwierige Stellen können so geübt und viele unnötige Hilfsspannungen (z.B. Hochrutschen des Kehlkopfs) auf diese Weise vermieden werden.
Es gibt nur eine Stimme
Abgesehen davon, dass man dem sicher einen ganzen eigenen Artikel widmen könnte, möchte ich an dieser Stelle ganz kurz meine persönliche Einschätzung zum Phänomen „Bruststimme – Kopfstimme“ geben. Zuallererst: Es gibt keine zwei Stimmen! Und schon gar nicht an zwei unterschiedlichen Orten!
Ja, es gibt unzählige Möglichkeiten des Schwingens der Stimmlippen und komplexe Muskelaktivitäten, die letztendlich am Klang der Stimme beteiligt sind. Für die meisten Menschen ist es in der Lernphase aber eher hinderlich für die Entdeckung der in allen Lagen frei schwingenden Stimme, sich an den Begriffen Brust- und Kopfstimme zu orientieren. Dass es da mehr Missverständnisse und offene Fragen (Um was geht es eigentlich? Resonanz oder Stimmerzeugung? Muskelaktivität? Atemfluss oder Atembremse? usw.) als Klarheit gibt, ist häufig genug in der Literatur gesagt worden und auch ich habe schon darüber geschrieben. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)
Meine Überzeugung ist: Wenn eine Stimme gelernt hat frei zu schwingen, kann sie sich in ihrer Textur dem emotionalen bzw. musikalischen Kontext anpassen und die perfekte „Mischung“ entsteht quasi von selbst. (vgl. Singen ist Singen)
Stimme und Artikulation passieren an unterschiedlichen Orten
Wie oben beschrieben, entsteht die für den Klang nötige Schwingung der Stimmbänder im Hals. Die passende Artikulation dazu findet eine Ebene höher statt, nämlich im Mundraum. Zunge, Lippen, Zähne und Mundinnenraumform sorgen für die Verständlichkeit der Sprache. Es passiert häufig, dass sich die Artikulationsorgane in die Stimmgebung einmischen und das führt in der Regel – weil mit zu viel Hilfsspannung verbunden – zu Problemen. Für einen freien Stimmklang ist eine bestimmte Einstellung im Mundraum meiner Meinung nach nicht nötig. Wenn beides gut voneinander differenziert ist, kann der Mundraum natürlich als Resonanzraum dienen und unterschiedliche Lippen-, Zungen- und Kieferstellungen können auf den Klang einwirken, aber das ist für mich erst der zweite Schritt.
Resonanz im Kopf
Kann die Stimme im Hals störungsfrei schwingen, braucht es einen Resonanzkörper um den Klang voll, tragfähig und für jeden Menschen einzigartig zu machen. Zunächst einmal dient der Schädel mit seiner holzkugelähnlichen Bauweise der Klangverstärkung. Ob der Klang nun „vorne oder hinten“ schwingen soll, darüber streiten sich die Gesangspädagogen leidenschaftlich. Ich empfehle vor allem, die vielgestaltigen Resonanzräume im Schädel durch das Singen mit verschlossenen Ohren zu erkunden. (vgl. Ohren auf!) Auf den Vokalen [u] und [i] geht das besonders gut und selbst jeder Anfänger merkt, wie intensiv einzelne Töne im Schädel resonieren. Ich fordere die Schüler oder Chorsänger meist auf, innerlich nach den Tönen auf die Suche zu gehen, die es im Kopf „so richtig scheppern lassen“ und von da aus nach und nach andere Tonhöhen und Vokale zu erkunden. Auch auf verschiedene Klinger [ng], [m],[n] usw. lassen sich mit verschlossenen Ohren unterschiedliche Resonanzräume im Schädel ausloten.
Resonanz – Körper
Aber nicht nur der Schädel dient der Resonanz, sondern der ganze Körper. Dabei spielt vor allem der Eutonus, die gute Spannung, eine Rolle. Wir möchten von Kopf bis Fuß schwingungsfähig sein, damit unser ganz eigener Klang – nämlich der individuelle Klangabdruck unseres gesamten Körpers mit all seinen Knochen, Muskeln, Spannungen und Beschaffenheiten – hörbar wird. Die feinen Vibrationen der Stimme lassen sich überall ertasten. Je näher am Hals, desto leichter, aber ich habe es auch schon erlebt, dass mein Körper beim Singen bestimmter Töne bis in die Fingerspitzen vibriert hat.
Und selbst wenn der Körper nicht fühlbar bis in jede Zelle schwingt, so hat er beim Singen doch eine ganz wichtige weitere Aufgabe.
Stabilität und Flexibilität
Alles im Körper hängt mit allem zusammen. Das wissen wir seit dem Beginn der Faszienforschung endlich nicht nur intuitiv, sondern meßbar und nachprüfbar. Die feine Struktur der Faszien sorgt dafür, dass unser Körper elastisch ist und auch wenn er in heftige Schwingungen kommt – wie z.B. beim Singen kräftiger hoher Töne – noch stabil bleibt. Der Körper mit seinen Muskeln und dem Bindegewebe bietet beim Singen Ausgleichsaktivitäten an, die den Klang, den Atem und unsere Haltung in Balance halten. Zug- und Druckphänomene werden im Idealfall genau aufeinander abgestimmt und stimmliche Stabilität und Kraft bei gleichzeitiger Flexibilität sind die Folge. Das ist das, was ich als Stütze bezeichnen würde. Das sensible und gut koordinierte Zusammenspiel der Diaphragmen (Zwerchfell, Beckenboden, Stimmlippen, Gaumensegel u.a.) ist ein Aspekt dieser Balance. Das „Andocken“ des Klangs an die Schwerkraft kann eine Möglichkeit sein diese zu finden (vgl. Singen im freien Fall und Lebendig sein heißt instabil sein). Manchmal kann es auch sinnvoll sein, sich vorzustellen, der Ton beginne in einem bestimmten Körperteil, z.B. im Becken, am Brustbein oder den Flanken (vgl. Bewegung als Schalter). Der Stimmklang wird dann räumlicher und vielschichtiger und der Ton erhält neue Möglichkeiten der inneren Anlehnung. (vgl. Anlehnen an den Atem)
Aufmerksamkeitsort
Insgesamt lässt sich sagen, dass es vor allem ein Frage der Aufmerksamkeit ist, wo und wie ein gesungener Ton sich manifestiert. Allein durch den Punkt unserer Konzentration können wir alles verändern. Singe ich z.B. eine Weile mit geschlossenen Ohren, wird meine Aufmerksamkeit danach immer noch beim „inneren Hören“ bleiben. Konzentriere ich mich auf die Vibrationen in meinem Hals, so werden sich diese immer weiter verstärken. Die Aufmerksamkeit dient quasi als Katalysator für unsere Erfahrung beim Singen und wir sollten sie keineswegs unterschätzen. Da jeder Sänger und jeder Körper anders ist und ein anderes inneres Bild von sich selbst hat, ist die Steuerung der Aufmerksamkeit ein wichtiges Mittel des Lernens. Ich als Gesangspädagoge kann durch die Wahl meiner Sprache, meiner Bilder oder das bewusste Lenken der Schülerwahrnehmung Dinge ins Bewusstsein bringen, die helfen, das eigene Instrument Stimme mit allen Aspekten immer besser zu verstehen. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)
Herz auf und los!
Insbesondere darf bei all den unterschiedlichen „Singorten“ natürlich nicht vergessen werden, dass es mindestens zwei weitere, weniger greifbare, Aufmerksamkeitsorte gibt, von denen aus es sich herrlich singen lässt. Unser Herz, unsere Emotionen, unsere Leidenschaft für das was gesagt und gesungen werden muss, ist ein – vielleicht der – wichtigste Motor für das Singen. (vgl. Nackt) Die Begeisterung für eine bestimmte Musikgattung, Klangwelt oder einen Groove ist mindestens ebenso wichtig, wie die oben genannten, eher technischen oder körperlichen Anteile des Singens. Und auch der der spirituelle Zugang zur Musik soll erwähnt werden. Je nach persönlicher Überzeugung kann man durchaus aus dem Glauben, einer „göttlichen Inspiration“ oder dem großen „Meer der Möglichkeiten“.
Alle Aspekte von Stimme sind miteinander verwoben und beeinflussen sich wechselseitig. Es singt und klingt der ganze Mensch. Um Verwirrungen zu vermeiden kann es aber sinnvoll sein, bestimmte Aspekte herauszugreifen, die konkreten Vorgänge zu beleuchten und klar zu stellen, auf welcher Ebene gerade geübt werden soll. Das ist insbesondere wichtig, wenn Schüler und Lehrer sich noch nicht gut kennen oder in großen Gruppen z.B. im Chor gearbeitet wird.
Lustvolles Wandeln durch verschiedene Aufmerksamkeits- und Singorte wünscht,
Anna Stijohann