Ohren auf!

Die Verbindung zwischen Ohr und Stimme fasziniert und beschäftigt mich bereits seit meinem Studium und deswegen möchte ich in diesem Beitrag ein wenig davon berichten. Am vergangenen Wochenende waren fünf Damen zwischen 15 und 65 Jahren zu einem dreistündigen Workshop zum Thema „Ohren auf!“ ins STIMMSINN gekommen. Es ging ums Lauschen – mit den Ohren, mit den Händen, mit dem ganzen Körper. Lauschen nach innen und außen, lauschen auf mich und die anderen, und als Konsequenz auf das, was mit der Stimme passiert, wenn wir beginnen unsere Ohren zu öffnen.

Aktives Lauschen
Wie klingt meine Stimme? Schon wenn wir sprechen, lohnt es sich aufmerksam hinzuhören. Gerade wenn mehrere Menschen in einem Raum sprechen, wird deutlich: Jede Stimme ist anders. Jede Stimme hat ein anderes Timbre, hat ihre Ecken und Kanten, ihre Sanftheit oder ihre Durchschlagskraft. Wenn wir es schaffen ganz neutral und ohne Bewertung auf unsere Sprechstimme zu lauschen während wir sprechen, klingen wir anders. Die Atmosphäre im Raum verändert sich, unsere eigene Präsenz verändert sich und wir nehmen auch die Stimmen der anderen Menschen anders wahr.

Bewegen wir uns in einem Raum und legen nacheinander unsere Aufmerksamkeit eine Weile auf das Sehen, dann aufs Hören und dann auf unsere innere Körperwahrnehmung wird sofort klar, dass aufmerksames Lauschen mit Kontakt zu tun hat. Lauschen schafft die Verbindung zwischen innen und außen. Wir können nur aufmerksam zuhören, wenn wir auch mit uns selbst in Kontakt bleiben. Wenn wir uns lauschend in einem Raum bewegen, gehen wir anders, als wenn unsere Konzentration auf dem Sehen liegt. Wenn die Ohren sich öffnen, organisieren sich Atem und Stimme anders.

Dem Klang des Atems lauschen
Neben dem Öffnen der Ohren für den ganzen Raum, ist es auch höchstspannend, nach innen zu lauschen. Die Grenze zwischen Hören und kinästhetischer Wahrnehmung verschwimmt und ich kann manchmal selbst kaum unterscheiden, ob ich Vibrationen spüre oder Klänge übers Ohr wahrnehme.

Die Bewegung des eigenen Atems wahrzunehmen, seinen Weg zu verfolgen von der Nasenspitze durch den Nasenrachenraum bis hinunter in die Lunge ist ein wenig, wie dem Wind zuzuhören. Erlaube ich dem Atem „aus Versehen“ an den Stimmlippen vorbei zu streichen, wird dieser lautlose Hauch plötzlich hörbar. Als Reibelaut oder als zarter, müheloser und völlig ungeformter Klang. Halte ich mir zudem noch die Ohren zu, so kann ich ganz und gar versinken im inneren Lauschen auf den Klang meines Atems. Ich nehme die Resonanz der Töne im Kopf wahr und wenn ich genau hinlausche, gibt es unterschiedlichste Klanganteile zu hören. Den Grundton, Obertöne und auch Geräuschanteile. Das Spiel mit Konsonaten und Klingern kann ebenso spannend sein, wie der Wechsel verschiedener Vokale und Tonhöhen.

Das Innen nach Außen bringen
Öffne ich dann nach und nach die Ohren, bleibe aber mit meiner Konzentration im inneren Lauschen, schaffe ich eine Verbindung zwischen der Intimität des Innenraums und der zusätzlichen Resonanzmöglichkeit des Außenraums. Wie klingen meine ganz persönlichen inneren Töne im Raum? Kann und will ich diese ungeformten Klänge teilen? Sind sie mir „schön genug“? Kann ich die Intensität und/oder Verwirrung, die möglicherweise entsteht, aushalten? Kann ich mit anderen Stimmen in Beziehung treten ohne meinen Innenkontakt zu verlieren?

Eine weitere, etwas handfestere Möglichkeit in Kontakt zu bleiben, ist das „Lauschen mit den Händen“. Unser Körper ist Resonanzkörper und dementsprechend schwingt unser ganzes Gewebe. Sich einmal wirklich ausgiebig Zeit zu nehmen, die feinen Vibrationen der verschiedenen Vokale zu ertasten, ist äußerst meditativ. Wie weit reicht das „Gekribbel“? Wo spüre ich welchen Vokal in welcher Tonhöhe? Was unterscheidet ein [a] von einem [i] von einem [e] von einem [o]? Verändert sich die Intensität des Klangs durch den Kontakt meiner Hände? Kann ich womöglich durch das Tasten die Vibrationen noch ausbreiten?
Ton ist Schwingung und auf diese Weise als feine Bewegung im Resonanzkörper „greif“bar. Am Brustkorb, am Hals, im Gesicht, auf und im Schädel und bis in die Arme und Hände sind die Vibrationen auch noch eine Weile nachdem die Töne verklungen sind, deutlich spürbar. Das Gefühl, wirklich durch und durch zu klingen kann auf diese Weise intensivst ausgekostet werden und sich möglicherweise auch beim Singen von (einfachen) Liedern wieder einstellen.

In Resonanz gehen
Insgesamt ist das Gefühl in Resonanz gehen zu können eine Art Verstärker für das Singen. Jeder kennt das Gefühl, in einem akustisch total trockenen Raum singen zu müssen. Schnell beginnt man aus dem Wunsch heraus gehört zu werden und der Angst nicht laut genug zu sein zu drücken und zu schieben. Ganz anders ist das in einem Raum, dessen Akustik das Singen trägt. Ich brauche den Klang nicht zu produzieren oder mich anzustrengen. Ich kann in Resonanz gehen und mitschwimmen. Mit einer sehr kleinen, aber wirkungsvollen Übung kann man sich das zunutze machen. Man braucht dazu nur einen aufgeblasenen Luftballon.

Ich halte den Ballon mit beiden Händen mit ein wenig Abstand vor mein Gesicht. Wenn ich nun spreche oder singe, kann ich an meinen Handflächen spüren, wie der Ballon in Resonanz geht. Er vibriert kräftig mit. Auf dem Vokal [u] ist es am klarsten zu spüren. Hohe Töne vibrieren anders als tiefe. Ganz Phrasen oder Lieder lassen sich gegen den Ballon singen. Und am spannendsten ist natürlich, was übrig bleibt, wenn man danach ohne Ballon singt. Ich kann diese Übung auch für den Chor nur empfehlen. Der Zusammenklang der Stimmen verändert sich und vor allem diejenigen Chormitglieder, die zum „Überschreien“ und scharfen Klangfarben neigen, haben durch die direkte Klangrückmeldung des Ballons eine Chance ihre Stimmbalance wiederzufinden. Natürlich sorgen bunte Ballons in der Chorprobe außerdem für gute Laune und Spiel-/Singfreude…

Lauschen auf das, was da ist
Wir sind ständig von Geräuschen umgeben. In der Stadt sind es andere Geräusche als auf dem Land, in Gebäuden dringen andere Klänge an unsere Ohren als auf der Straße. Anstatt unsere Umgebungsgeräusche als störend zu empfinden, können wir uns einmal ganz darauf konzentrieren. Das Knarzen der Holzdielen, ein tropfender Wasserhahn, vorbeifahrende Autos, Kinderlachen, das Gemurmel der Nachbarn. Das alle bietet ein wunderbares Spielfeld, um wirklich eine Weile intensiv zu lauschen. Wenn ich es schaffe, die Geräusche wie ein Musikstück wahrzunehmen – mit wiederkehrenden Themen und Instrumenten, überraschend oder gleichförmig und in verschiedenen dynamischen Abstufungen – fühle ich mich vielleicht eingeladen, mit der Stimme einzusteigen.(vgl. auch Losgehen mit dem, was ist)

Und sollte es wirklich einmal so still sein, dass wir glauben nichts zu hören, können wir unseren eigenen Puls ertasten. Zu welchen Klängen und Rhythmen inspiriert uns die „Musik“, die uns am Leben hält? Als Abschlussimprovisation meines kleinen „Ohren auf!“-Workshops war das auf jeden Fall ein Highlight des Tages.

Es ist schon alles da. Nichts muss produziert werden. Es reicht, die Ohren zu öffnen.

Eine klangreiche Woche wünscht,

Anna Stijohann