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Brauchen wir Gesangsübungen um Singen zu lernen? Manche Lehrer schwören auf ihre Übungen. „Wenn Du die regelmäßig machst, wirst Du Erfolg haben.“ Andere sagen: „Wir brauchen keine Übungen, keine Tonleitern, kein „Training“. Alles ist schon da, es gilt nur die Dinge zu entdecken. Für mich persönlich ist in allem ein Körnchen Wahrheit zu finden. Aber das Wichtigste für mich ist, mit welcher inneren Einstellung wir üben und Übungen machen.
Es gibt Intervallübungen, Muskelkräftigungsübungen, Isolations- und Integrationsübungen, Dynamikübungen, Vokalausgleichsübungen und noch so viele mehr. Einige finden auf einem Ton statt, andere bedienen sich kleiner Phrasen oder Skalen. Manche nutzen bestimmte Vokale, andere Konsonanten, einige bewegen sich in der Mittellage, andere loten Grenzen aus. Aber was ist eigentlich der Sinn all dieser Übungen? Nicht im konkreten, sondern im übergeordneten Sinne?
Wir möchten uns verbessern, aber was bedeutet das eigentlich? Wir möchten unser Instrument immer besser und sicherer beherrschen lernen, es mühelos benutzen und vor allem – das ist mir persönlich das Wichtigste – immer weniger denken und aktiv steuern müssen beim Singen. Wir möchten uns „auskennen“ mit unserer Stimme. Wie in einer Stadt, die wir wie unsere Westentasche kennen, möchten wir uns dort frei bewegen können, Augen und Ohren frei haben für Begegnungen und feinste Veränderungsnuancen. Dazu kann es hilfreich sein zu wissen, wie wir von Ort A zu Ort B gelangen, in welchem Takt der Bus kommt und wann die Geschäfte geöffnet sind.
Um im Bild zu bleiben; es gibt verschiedene Möglichkeiten sich mit einem Ort oder einer Tätigkeit vertraut zu machen. Ich kann wieder und wieder den Stadtplan und die alphabetische Liste aller Straßennamen studieren. Ich kann immer wieder üben, mich an den Himmelrichtungen zu orientieren und klar – lesen zu können kann bei der Orientierung nicht schaden. Aber wirklich vertraut machen, kann ich mich nur durch Erlebnisse. Das Gefühl zuhause zu sein, sich wohl und sicher bewegen zu können und eine gute Zeit ohne zu große Orientierungslosigkeit zu haben auch wenn ich an einem Ort bin, den ich noch nicht lange kenne, stellt sich vor allem dann ein, wenn ich Erfahrungen mache. Je mehr und je vielfältiger desto besser.
Zurück zu den Übungen. Nahezu jede Art von Übungen hat also meines Erachtens nach seine Berechtigung. Allerdings macht es einen großen Unterschied, mit welcher inneren Wachheit ich diese ausführe. Wo liegt meine Aufmerksamkeit? Führe ich die Übungen aus, weil sie eben „zu meinem täglichen Übeprogramm gehören“ oder weil das Aufwärmen im Chor eben immer genauso abläuft? Dann besteht die Gefahr, dass ich nicht mit voller Aufmerksamkeit anwesend bin. Dass ich automatisch ein Programm abspule und mich so um die Möglichkeit bringe, wirklich etwas zu lernen. Denn nur wenn wir wach sind, können wir neue Erfahrungen machen oder vorhandene vertiefen und somit lernen.
Manchmal ist dieses „Wach-Sein“ einfacher, wenn wir nicht eine bestimmte Übung machen, sondern frei experimentieren. Bei einer Übung haben wir oft das Gefühl, wir müssten es richtig und gut machen und alleine das kann schon hinderlich sein auf unserem Lernweg zu mehr Freiheit. Denn die Erlaubnis Fehler zu machen und selber einen Weg zu finden sind dafür unerlässlich. Treffe ich die Töne? Singe ich die richtigen Vokale? Führe ich die Übung genauso aus, wie mein Lehrer es von mir fordert? Ist der Klang schön? Diese Fragen sind gerade für Anfänger sehr wichtig und gleichzeitig hinderlich, weil ein großer Teil der Aufmerksamkeit genau dadurch gebunden wird.
Aus diesem Grund bevorzuge ich in vielen Fällen das freie Tönen. Viele Dinge können so ebensogut geübt werden, wie auf festgelegter Tonhöhe. Resonanz, stimmliche Beweglichkeit, verschiedene Vokale und ihre Übergänge sowie die Anbindung der Stimme an den Körper können so oft viel direkter erlebt werden. Und eine Kombination aus freiem Tönen und einer festgelegten Tonfolge kann dann ein Schritt in Richtung Anwendung des Erlebten in der Musik sein.
Ich lasse z.B. meine Schüler häufig ein wenig auf dem Klinger ng (nicht „singend“, sondern als harmloses „Geräusch“) herumtönen. „Krickellakrack auf ng“ nenne ich es meist. Mit diesem Glissando taste ich mich an einen bestimmten Ton heran, der dann wiederum als Startton für eine Übung oder eine Phrase in einem Lied fungieren kann. Was bleibt aus dem ng? Die Resonanz? Der Stimmsitz? Die Leichtigkeit im Hals?
Meist können Menschen, wenn sie keine vorgegebene Tonhöhe haben, erstaunlich flexibel mit ihrer Stimme umgehen. Brüche sind in den wenigsten Fällen ein Thema und der Stimmklang lehnt sich an den natürlichen Klang des Sprechens an. Und sobald es ums „echte Singen“ geht, verschwindet diese Selbstverständlichkeit wieder. Schade. Zwischen dem natürlichen, spielerischen Gebrauch der Stimme und dem Singen gilt es dann, wieder Brücken zu bauen. Und diese ergeben sich vor allem durch waches Wahrnehmen und Erleben.
Wie fühlt sich die Stimme an, wenn ich klangvoll spreche? Was kann ich davon mitnehmen ins Singen? Wo resoniert ein bestimmter Vokal, wenn ich mit ihm spielerisch verschiedenen Höhe, Tiefen und Klangnuancen auslote? Wie kann ich das wiederum mitnehmen in die Literatur? Wie fühlt sich der Zugriff der Stimme an, wenn ich z.B. Kratteltöne mache, lache, jubel oder rufe? Wie sucht sich mein Körper seine unterstützende Ausgleichaktivität wenn ich niese, die Lippen flattern lasse, in einen Silikonschlauch blubbere oder mit einer bestimmten oder frei gewählten Bewegung töne?
Welche Fragen ich mir stelle ist entscheidend für das Ergebnis meines Übens. Frage ich mich lediglich: Mache ich das richtig oder falsch? Oder finde ich immer wieder neue spannenden Aspekte meiner Aufmerksamkeit? Immer feiner und differenzierter, vielschichtiger und somit tiefer kann mein Verständnis nur werden, wenn ich neugierig bleibe und ergebnisoffen übe. Was nicht bedeutet, dass ich nicht auch Koordinationsübungen, Kräftigungsübungen oder Übungen zu ganz spezifischen stimmlichen Aktivitäten machen sollte. Das Wichtigste dabei bleibt aber die Frage: Was erlebe ich dabei?
So kann ich auch altbekannte Übungen frisch halten. Jedes Mal mit einer neuen Aufmerksamkeitsaufgabe versehene Einsingübungen ermöglichen, dass ein Schüler oder der Chor nicht in Routine verfällt. Die Erlaubnis zu experimentieren und vor allem Fehler zu machen hilft, den Druck auf ein Minimum zu reduzieren und die Lernlust zu steigern. Hilfreiche Fragen neben gezieltem Lenken der Aufmerksamkeit auf z.B. körperliche Empfindungen können sein: Gab es etwas, das sich neu oder interessant angefühlt hat? Hast Du etwas erlebt, das Dich überrascht hat oder war alles wie immer? Kannst Du mit Deinen eigenen Worten beschreiben, was Du erlebt hast?
Ein wichtiger Aspekt kleiner, überschaubarer Übungen, die sich z.B. ganz auf einen Aspekt der Stimmgebung konzentrieren oder nur mit wenig Tonmaterial auskommen, ist die Chance, Dinge quasi mit der „Lupe“ zu betrachten. Mehr Zeit als in einem Song, höhere Genauigkeit in der Aufmerksamkeit, ein begrenzter Raum um etwas auszuprobieren, ohne dass ich einen bestimmten musikalischen Anspruch haben muss. Im Gegensatz zum freien Tönen kann mich der Lehrer auch mal gezielt in Regionen meiner Stimme locken, die mir sonst fremd sind. Er hilft mir sozusagen, „mit der Taschenlampe in Ecken zu leuchten“, die mir bisher unbekannt oder unbehaglich waren.
Ein sehr wichtiger Aspekt für mich persönlich, aber auch mit meinen Einzelschülern und in meinen Kursen, ist das Übelied. Jeder sollte eines oder mehrere haben 🙂
Ein leichtes Lied mit einer schönen Melodie, das Freude macht und dass man auch nach dem hundertsten Mal noch gern singt – ein Volkslied vielleicht. Ein Stück, das erstmal keinem bestimmten Gestaltungsideal unterworfen ist und das weder rhythmisch noch vom Umfang her zu komplex wäre um es einfach so a capella vor sich hinzusingen. Dieses Lied sollte mir außerdem nicht zu „heilig“ sein, um damit herumzuexperimentieren. Klänge oder Resonanz testen, körperliche Übungen ausführen, mit Spielzeugen spielen, Artikulation üben (z.B. Die Haferflocke) usw.
Das Übelied stellt für mich die Brücke zwischen dem Üben und dem eigentlichen Musizieren dar. Und es kann auch für mich selbst immer wieder ein Spiegel, eine Referenz sein. Wie geht es meiner Stimme heute? Was brauche ich? Wie steht es um meine innere Singlust? Denn die sollte – auch bei den Übungen – immer vorhanden sein, gepflegt oder hervorgekitzelt werden. Denn was ist Singen ohne Freude? Sinnlos meines Erachtens. Wahre Meisterschaft braucht in jedem Fall Begeisterung für das, was ich tue. Ob mit oder ohne Übungen.
In diesem Sinne wünsche ich fröhliches Üben,
Anna Stijohann
Alleine Singen macht Freude. Mit anderen zusammen singen macht noch mehr Freude. Gemeinsames Singen ist lustvoll, heilsam, berührend und uns Menschen ein inneres Bedürfnis. Nicht nur zur Weihnachtszeit. Wenn Stimmen zusammen klingen, entsteht ein Klangraum, eine Energie, die wir selber nicht herstellen können. Wir sollten es deswegen unbedingt öfter tun.
Seit eh und je gehört das Singen zu menschlichen Begegnungen und Ritualen dazu. Heute wird in Familien oder bei sonstigen Zusammenkünften von Freunden oder Kollegen nur noch selten gesungen. Doch wir sehnen uns danach, uns über die Stimme mit anderen Wesen zu verbinden. Seit der regelmäßige Kirchgang nicht mehr zum Alltag der allermeisten Menschen gehört, gibt es nur noch wenige Gelegenheiten das gemeinsame Singen (und Sprechen!) mit anderen Menschen und die damit verbundene Kraft zu erleben.
Das Singen im Fußballstadion – mit zehntausenden Menschen – ist eines der kraftvollsten Stimmerlebnisse, zu denen „normale Menschen“, die sonst nicht unbedingt mit Musik oder Chorsingen in Berührung kommen, noch Zugang haben. So lassen sich nahezu magische Momente erleben, die alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer finanziellen und privaten Situation und ihres sonstigen Lebens – mit einem starken Band verbinden. Nicht ohne Grund schießen „Mitsing-Konzerte“ und Rudelsingangebote aus dem Boden. Das gemeinsame Erlebnis, der Klang und die geteilte Leidenschaft, öffnet Türen und macht schlicht glücklich.
Gemeinsam mit anderen Musik zu erschaffen ist ein wichtiger Teil des Chorsingens. Ich behaupte jedoch, dass der wichtigste Grund warum Menschen zu Chorsängern werden, der Wunsch nach Verbindung ist. Erst neulich war nach einem intensiven Chortag, den ich als Chorleiterin begleitet habe, und bei dem der gemeinsame Klang und das Aufeinanderhören im Vordergrund standen, am Ende klar: Das Wichtigste ist, sich wirklich miteinander zu verbinden. Kontakt mit den anderen Menschen und Stimmen scheint, jenseits der Musik an sich, ein Grundbedürfnis zu sein.
Besonders berührend ist es für mich persönlich immer, wenn Menschen mehrstimmig singen. Wie Töne sich verbinden, sich reiben, eine eigene Dynamik entwickeln, sich gegenseitig verstärken und in der Summe mehr sind als zwei einzelne Töne, beglückt mich. Und damit bin ich sicher nicht allein. Es gibt wenig andere Möglichkeiten, dem Phänomen der menschlichen Begegnung so intensiv nachzuspüren. Sich anlehnen an einander. In Reibung treten, nach Auflösung streben. Das sind Aspekte menschlicher Begegnung, die, wenn sie sich als Klang manifestieren, äußerst lustvoll erlebt werden können. Ich kann einen anderen Ton singen als mein Nachbar oder meine Mitsänger. Ich kann Individuum bleiben und mich trotzdem verbinden.
Diese Phänomene können wir aber nicht nur im Chor erleben. Insbesondere auch das gemeinsame freie Tönen und Improvisieren sind als Experimentier- und Erlebnisraum perfekt. Ich bin stimmlich im Raum. Ich finde meinen Platz. Ich nehme Beziehung auf zu einem Partner oder dem Rest der Gruppe. Ich erlaube mir die Unsicherheit einer echten Begegnung und lasse mich überraschen, was sich daraus entwickelt. Eine solche Stimmbegegnung kann durchaus sehr intim sein. Kann und will ich mich wirklich zeigen? Möchte ich, dass mein Klang sich im Gesamtklang auflöst oder dass er heraussticht? Wird die Begegnung zu einem befriedigenden Ende kommen?
Und wie erlebe ich die Stille am Ende einer stimmlichen Begegnung? Ist sie lustvoll, prall, energiegeladen oder bin ich oder sind meine Mitsänger erschöpft oder unzufrieden? Stille ist auch gemeinsamer Klang und kann mindestens ebenso sehr als Kontakterlebnis wahrgenommen werden. Stille, bevor ein Klang entsteht, ebenso wie zwischendrin und am Ende. Stille erzählt viel über die, die sie gemeinsam erschaffen und wahrnehmen.
In vielen Familien gehört das Singen unterm Tannenbaum immer noch zum Weihnachtsfest dazu. Aber leider wird es nicht immer als Freude, sondern manchmal auch als Pflicht erlebt. Wie wäre es, wenn wir dieses Mal an Weihnachten nicht das Abhaken bestimmter Lieder, sondern das Erlebnis des Zusammenklingens in den Vordergrund stellen würden? Wie würde das gemeinsame Singen sich wohl anfühlen, wenn wir es nicht als Pflichtübung ansehen, als Wettstreit, wer am Schönsten oder Schrägsten singt, sondern wenn wir es aus purem Klang- und Begegnungsgenuss tun?
Wir könnten z.B. unterm Weihnachtsbaum zunächst mal
summen. Jeder summt für sich und wir lauschen, wie aus den vielen
verschiedenen Tönen eine Klangwolke entsteht. Wenn wir mutiger sind,
können wir es auch auf uh oder ah versuchen.
Wenn das doch als zu
fremd erscheint, könnten wir eines unserer Lieblingslieder zunächst mal
gemeinsam summen. Nicht, damit am Ende auch wirklich jeder „die
richtigen Töne singt“, sondern um uns und unseren Stimmen zu erlauben,
sich langsam zu entfalten und zu verbinden.
Oder wir stellen uns
beim gemeinsamen Singen jeweils zu zweit Rücken an Rücken. Spüren die
Wärme des Anderen, bringen leicht unsere Wirbelsäulen in Bewegung und
nehmen wahr, wie die Stimme des Anderen und unsere eigene Stimme auf
unserer Rückseite vibrieren.
Ich wünsche allen Singenden ein frohes Fest und für das neue Jahr viele glückliche Momente des Zusammenklingens.
Anna Stijohann
Ohne Zweifel ist „Kontakt“ das von mir am häufigsten im Unterricht und auch in der Chorprobe verwendete Wort. Fast scheint es mir, als wäre das die Essenz des Singens überhaupt. Auf so vielen Ebenen suchen und finden wir Kontakt, wenn wir singen und uns ganz allgemein mit der Stimme beschäftigen. Fein, kaum greifbar und doch konkret. Kontakt setzt ein gewisses Maß an Sensibilität voraus und im Grunde ist es das, wonach wir uns alle sehnen. Verbindung, Berührung – im Singen, im Musizieren, wie im Leben.
Contingere = Berühren. Kontakt findet immer dann statt, wenn mehrere beteiligte lebendige Systeme sich einander annähern. Dabei begegnen sich die Kontaktparteien gleichberechtigt und im gegenseitigen Einverständnis über die Annäherung. Austausch findet statt. Kontakt ist immer wieder neu, jedes Mal anders und gleichzeitig kann ich mich durchaus darin einüben, wie in ein Spiel. Echter Kontakt ist frei von Manipulation.
Betrachten wir die menschliche Ebene so erscheint uns das selbstverständlich. Was aber bedeutet das, wenn wir uns der Stimme zuwenden? Ich betrachte meine Stimme als „eigenes Wesen“. Die beteiligten Systeme (Muskeln, Knorpel, Atem, Emotion u.a.) bilden im Zusammenspiel eine Einheit, mit der ich als Sänger in Kontakt treten möchte und der dann im gemeinsamen Singen seinen Ausdruck findet.
Am Anfang einer Chorprobe, im Gesangsunterricht, wenn wir selber üben oder vor einem Konzert möchten wir unsere Stimme aufwärmen. Immer seltener spreche ich in diesem Zusammenhang vom „Einsingen“. Für mich selber stellt es sich eher wie eine Kontaktaufnahme dar. Während beim „Einsingen“ irgendwann der Punkt erreicht scheint, an dem ich „fertig“, also „eingesungen“ bin, ist eine stimmliche „Kontaktaufnahme“ ergebnisoffen. Auch der Beginn der „Aufwärmeinheit“ gestaltet sich anders. Ich beginne nicht aus einem Mangel heraus, der behoben werden muss, sondern aus Neugier und Lust am Zusammenspiel. „Wie geht es Dir heute? Hast Du Lust auf einen Austausch? Auf ein wenig gemeinsames Schwingen und Klingen? Was brauchst Du heute?“ Das sind die Fragen an meine Stimme oder an die Stimme des Schülers, von denen ich mich leiten lasse.
Allein diese veränderte Wahrnehmung auf Stimm- und Aufwärmübungen macht häufig den Unterschied, ob ich am Rest der Chorprobe, der Gesangstunde oder einem Auftritt manipulativ oder erlebend teilnehme. Versuche ich die Stimme „unter Kontrolle“ zu bekommen, bestimmte Töne auf bestimmte Weise zu „produzieren“, meine Atemtechnik zu „optimieren“ oderschlicht dafür zu sorgen, dass alles „funktioniert“ (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?), ist eine Begegnung auf Augenhöhe mit der Stimme nicht gegeben und wird sehr wahrscheinlich mit Mühe beim Singen beantwortet werden. Gehe ich mit meiner Stimme in Kontakt, kann aus dem Zusammenspiel Neues und Altes entstehen und ich habe die Chance, wirklich zu erleben. (vgl. Es könnte so einfach sein) Ein lebendiges, lustvolles Singgefühl ist die Folge und sicher nicht die schlechteste Grundlage für die anschließende Chorprobe oder das Konzert.
Auf verschiedenen Ebenen kann ich mit meiner Stimme auf Kontaktsuche gehen. Die Stimmbänder an sich sind ein erstes Beispiel dafür. Sie möchten zusammenkommen und gemeinsam schwingen. Damit das mühelos passieren kann, braucht es den Kontakt mit der Atemluft, die durch ihre Strömung dafür sorgt, dass die Stimmlippen zueinander kommen. Diesen Ort des Kontaktes einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, lohnt sich. (vgl. Und wo singst Du so?) Ein Gespür dafür zu bekommen, wie sich echter Stimmkontakt anfühlt – fein, vibrierend und äußerst filigran – kann den Sänger dafür sensibilisieren, wie wenig Kraftaufwand es braucht, einen Ton entstehen zu lassen. Mit den Händen kann ich wiederum durch äußeren Kontakt am Hals das feine Vibrieren erleben und somit eine weitere Ebene des Verstehens zufügen.
Als Ergänzung zum Kontakt der Stimmbänder braucht es außerdem den Kontakt zwischen Körper und Stimme. (vgl. Klangkörper) Gerade an dieser Stelle ist die Gefahr groß, dass der Körper vor allem manipulativ eingesetzt wird. Gängige Konzepte von „Stütze“ vermitteln teilweise den Eindruck, es bräuchte vor allem aktiven Muskelzugriff an ganz bestimmten Stellen des Körpers. Hier ein wenig Druck, hier etwas Zug mit dem Ergebnis, dass die Stimme dann „besser funktioniert“.
Ich bin anderer Meinung. Selbstverständlich unterstützt der Körper die Stimme durch Aktivität und sorgt für Klangfülle, Kraft und Flexibilität. Aber er tut dies vor allem aus sich selbst heraus. Alles was wir tun müssen, ist dafür zu sorgen, dass der ganze Körper beweglich ist und die unterstützenden Systeme reaktionsbereit sind. Dieser Zustand entsteht durch Kontakt und der entsteht wiederum durch Hinwendung und Aufmerksamkeit. Die Kraft unserer gelenkten Wahrnehmung ist diesem Zusammenhang das Werkzeug der Kontaktaufnahme. (vgl. Bewusstsein als Tür)
Meine favorisierten Wege, die Stimme und den Körper in Kontakt zu bringen sind das Schütteln, das Spüren von Gewicht, große und kleine Bewegungen sowie der spürende Kontakt mit den Händen. Und egal welchen dieser Wege wir wählen, immer geht es ums Loslassen und das Vertrauen, dass der Körper die Führung über den entstehenden Ton übernehmen kann. (vgl. Kontrollverlust – Ja bitte!) Dabei verstehe ich Führung hier wie bei einem gut eingespielten Tanzpaar.
Der Mann führt die Dame, er lenkt und gibt Orientierung. Sie folgt und nutzt diese Führung für ihre Bewegungen. Dort holt sie sich den Schwung für Drehungen und Schwünge, wird nach einer Hebefigur aufgefangen und findet immer wieder Anlehnungsmöglichkeit. Das Tanzpaar Körper und Stimme kann nur zusammen funktionieren. Jeder für sich bleibt eindimensional und keinsfalls ist der eine Partner der manipulierende Lenker und der andere der passive Spielball. Nimmt das Paar seine Kraft und Dynamik nicht aus dem respektvollen Zusammenspiel, entsteht unnötige Mühe. Gelingt der Kontakt, entsteht ein Einheit, die ausdrucksstärker ist als die Summe seiner Teile.
Wie mit einem guten Freund, gelingt der Kontakt mit der Stimme durch regelmäßiges Üben immer leichter. Manches geht mit der Zeit wie von selbst, andere Aspekte des gemeinsamen Erlebens brauchen immer wieder Aufmerksamkeit. An manchen Tagen stellt sich Kontakt spontan ein, manchmal ist es einfach die Tagesform der beteiligten Parteien, die das Zusammenkommen erschwert. Im Gegensatz zur Manipulation ist Kontakt, besonders wenn er noch auf wackligen Beinen steht, auch leicht störbar. Trotzdem nicht aufzugeben, sondern guten Mutes immer und immer wieder den Kontakt zu suchen, ist unsere Aufgabe als Sänger und auch als Lehrer.
Dass es auch im Verhältnis von Schüler und Lehrer sinnvollerweise um Kontakt und nicht um Manipulation gehen muss, erscheint mir selbstverständlich. Auch im Musizieren mit anderen gibt es für mich keine Alternative. Gerade im Chor erscheint mir das immer wieder als Herausforderung. Welche Rolle hat der Chorleiter dann? Wie kann in einer so großen und in den meisten Fällen heterogenen Gruppe wirklich Kontakt stattfinden? In einer Band oder einem kleinen Ensemble ist es sicher einfacher, aber ich bin davon überzeugt, dass es sich so oder so lohnt, immer wieder im gemeinsamen Singen und Musizieren echten Kontakt einzufordern. Menschen wünschen sich Verbindung und scheuen sich gleichzeitig vor Kontakt. Im Kontakt muss und kann ich mich zeigen und in einen echten Austausch gehen. Der Austausch, das „Hin-und-Her“ wird sich in jedem Fall verstärkend auf den Klang, die Musik und das Gefühl des gemeinsamen Schwingens auswirken.
Auch mit der Musik an sich möchte ich in Kontakt gehen. Rhythmen, Klänge, Harmonien – gelingt es mir, mich wirklich einzufühlen, kann ich mich ganz anders musikalisch verorten und ausdrücken, als wenn ich versuche diese zu „beherrschen“ und auf biegen und brechen zu üben, damit es „funktioniert“. (vgl. Rhythmusarbeit) Wie erlebe ich spannungsgeladene Chor-Akkorde und ihre Auflösung? Wie und wo kann ich den durch und durch pulsierenden Groove eines Songs spüren? Phrasenlänge, musikalische Bögen, Artikulation und Dynamik – das alles kann ich nur wirklich begreifen, wenn ich mich der Musik mit intensiver Aufmerksamkeit (z.B. in Improvisation) zuwende und mich ihr auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen annähere.
Dicht verwoben ist der musikalische Kontakt mit dem emotionalen Kontakt (vgl. Nackt). Welche Grundstimmung hat ein Musikstück, was ist die zugrundeliegende Emotion? Wo kann ich mich von der Musik berühren lassen, wo gibt es Raum, meine eigenen Gefühle durchklingen zu lassen? Von außen festgelegter emotionaler Ausdruck ist schwer in echte, eigene Beteiligung umzuwandeln. Was ist mein ganz persönlicher Zugang zum Stück? Was gefällt mir besonders gut? Warum habe ich dieses Stück ausgewählt? Was macht das Besondere aus? Das sind die Fragen, die ich mir und meinen Schülern immer wieder stelle. Kontaktaufnahme mit den musikalischen und emotionalen Inhalten eine Stückes kann auf vielerlei Weise stattfinden. Körperlich-spürend, imaginierend, der Sprache nachlauschend, mithilfe von Pinsel und Farben, durch Assoziationsketten und eigene Subtexte.
Dann kann sehr persönliche und berührende Musik entstehen.
Stimmliche Kontakterlebnisse mit intensiven Überraschungen wünscht
Anna Stijohann
Manchmal fragen mich Menschen, wie viele Stunden Gesangsunterricht man denn so „nehmen müsse“. Oder ob ein bestimmter Kurs auch was für Fortgeschrittene sei; man „habe ja schon Erfahrung“. Vielleicht liegt es an meiner ganz persönlichen Einstellung zum Singenlernen, aber ich muss dann immer ein wenig ausholen. Als Gesangspädagogin gibt es für mich keinen „Fahrplan“ nachdem ich meinen Unterricht aufbaue und meine Kurse sind fast immer offen für alle Menschen. Vom Anfänger bis zum Profi. Je heterogener die Gruppe, desto schöner. Je verschiedener die Menschen und Stimmen, desto breiter und vielseitiger das Lernpotential.
Natürlich habe ich soetwas wie „eine erste Stunde“ parat. Wenn ein Schüler ganz neu zu mir kommt, biete ich meist etwas an, das mir leicht fällt, nicht unbedingt voraussetzt, dass man die Baustellen des Schülers schon gut kennt und am Ende den Schüler mit einem positiven Stimmerlebnis nach Hause gehen lässt. Doch ich werde immer wieder dort beginnen müssen, wo der Schüler gerade ist. Und das kann so unterschiedlich sein, wie Menschen eben unterschiedlich sind. Mancher ist ehrgeizig und dabei vielleicht verkrampft, ein anderer locker und neugierig, ein Dritter ängstlich oder skeptisch. Das Lernergebnis ist nicht vorhersehbar.
Jeder Schüler bringt andere Voraussetzungen mit. Wenn man mich fragt, wie lange es denn dauert, bis man „merkt“, dass der Gesangsunterricht „etwas bringt“, antworte ich meist: „Das ist sehr individuell verschieden. Es hängt natürlich davon ab, wie intensiv sich jemand auch außerhalb der Stunde mit seiner Stimme beschäftigt. (vgl. Wieviel muss ich üben?) Dazu kommen die Vorerfahrungen, sowie persönliche Ziele und Begabungen. Auch Ängste und Zweifel spielen eine Rolle. Im Durchschnitt spürt oder hört der Schüler nach fünf Stunden selber einen deutlichen Unterschied. Nach etwa zehn Stunden nehmen das auch die Menschen der Umgebung wahr. Bei dem einen geht es schneller, bei dem anderen langsamer.“
Deswegen passiert im Gesangsunterricht mal viel und mal fast nichts. Manchmal biete ich eine Übung an, die genau ins Schwarze trifft und ein echtes Aha-Erlebnis ermöglicht. Und manchmal passiert eben – nichts. Zumindest scheint es so. Denn keine Stunde ist umsonst. Irgendetwas wird immer im Schüler nachklingen und allein darum geht es. Es ist im Gesangsunterricht wenig sinnvoll, ein Thema nach dem anderen „abzuhaken“. Alles hängt mit allem zusammen und ist zudem höchst persönlich. So viele Faktoren beeinflussen unser Singen, dass wir nicht davon ausgehen können, dass jemand anderer als der Schüler selbst, den nächsten Schritt gehen kann. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)
Manchmal gehe ich deswegen unzufrieden oder frustriert aus einer Stunde, weil ich das Gefühl habe, nichts von dem, was wir gemacht haben, sei angekommen. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass es immer wieder auch Stunden gibt, in denen ich überrascht werde. Dann entwickelt sich aus einer Situation, einer scheinbar banalen Schülerfrage oder einer gemeinsam entwickelten Übungsidee wahre Sternstunden. (vgl. Intuition) Und aus solchen Momenten entstehen dann wiederum meine „Wochenthemen“. Übungen, Ideen, Fragen, Blickwinkel, die sich durch mehrere Stunden mit ganz unterschiedlichen Schülern ziehen. Und die sich allein dadurch wandeln, dass verschiedene Menschen sich damit beschäftigen. So lerne auch ich durch das Unterrichten immer wieder neu und vertiefe meine Erfahrungen.
Genauso ist es auf der Schülerseite. Manchmal greife ich nach einer ganzen Weile, manchmal nach Monaten oder Jahren, eine Übung wieder auf. Und siehe da, der Schüler erlebt diese nun ganz anders als beim ersten Mal. Singen lernen geschieht – wie das Leben selber 😉 – in Kreisen. Bestimmte Themen müssen immer wieder serviert werden, bis sich etwas im Schüler setzt. Die gleiche Übung mit einem anderen Aufmerksamkeitsschwerpunkt oder mit anderen Worten beschrieben, ermöglicht eine ganz andere Erfahrung oder einen neuen Blickwinkel auf ein Problem oder Phänomen. Und im Idealfall kommen die Schüler dann ganz von allein zu einem Ergebnis, das man schon hundertmal angesprochen hat und für das die Zeit einfach noch nicht reif war.
Erfolgreicher Unterricht findet immer dann statt, wenn der Schüler für sich das Gefühl des Fortschritts erlebt. Etwas wird im Laufe der Zeit leichter, geschmeidiger, intensiver. Ob ein Schüler nach drei Jahren Unterricht dieses oder jenes Stück singen kann und den einen hohen Ton erreicht, ist für mich überhaupt nicht wichtig. Natürlich freue mich, wenn ich bemerke, dass sich Grenzen verschieben und plötzlich Dinge möglich sind, die vorher nicht in Reichweite waren. Aber im Endeffekt geht es mir ganz allein darum, dem Schüler ein Gefühl des persönlichen Voranschreitens zu ermöglichen und das, was wir tun, als wertvoll zu erleben. Es geht darum, dem eigenen Potential immer mehr auf die Spur zukommen. Jeder in seinem Tempo, jeder auf seine Weise.
Wie ein Kind, das Laufen oder Radfahren lernt, geht es auch beim Singen und allgemein in der Arbeit mit der Stimme um das Tun selber. Nur durch das Tun, durch das Entdecken und Probieren kommt etwas in Bewegung. Meine Aufgabe als Lehrerin ist es zu motivieren und neue Impulse zu geben. (vgl. Über den Tellerrand) Und sobald sich Sicherheit oder Routine eingestellt hat, sucht sich der Stimmschüler – genau wie das radfahrende Kind – von ganz allein neue Herausforderungen. Die „musikalische Wirklichkeit“ ist dabei der beste Lehrer. Eine Band, ein Chor oder das Ausprobieren einer ganz neuen Stilrichtung im altbekannten Vokalensemble bieten guten Grund zu Üben und reichlich Anlass Neues auszuprobieren.
Meine Kurse sind stets offen für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis. Jeder kann mitmachen und jeder arbeitet auf seiner eigenen Baustelle. Unterschiedliche Vorerfahrungen ermöglichen unterschiedlich tiefe Erlebnisse. Wer viel Erfahrung im Spüren und wachen Erleben hat, wird mehr Details wahrnehmen oder die Relevanz des Erlebten für sich selber besser einschätzen können. Nichtsdestotrotz benutzt manchmal ein Anfänger Worte, die dem Profi nie eingefallen wären und doch den Nagel auf den Kopf treffen. Dem Fortgeschrittenen tut möglicherweise der frische Anfängergeist gut, der schüchterne Chorsänger kann vielleicht auf der Welle eines erfahrenen Solisten mutig mitschwimmen. Meine Aufgabe als Kursleitung kann und muss es sein, eine positive Atmosphäre und einen bewertungsfreien Raum zum Experimentieren zu schaffen.
Unabhängig von den Vorerfahrungen sind es immer wieder die gleichen Themen, die auftauchen. Es geht um Freiheit und Sicherheit (vgl. Kontrollverlust – Ja bitte!), um das Erweitern der persönlichen Ausdruckmöglichkeiten, darum, gesehen werden (vgl. Was ist eine schöne Stimme?), um Anerkennung, Freude am Tun und um Lebendigkeit (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit). Je heterogener die Gruppe, desto schwieriger scheint es auf den ersten Blick, alle inhaltlich unter einen Hut zu bekommen. Aber wenn am Ende klar wird, dass es gar nicht ums „höher-schneller-weiter“ geht, sondern um das, was jedem einzelnen Schüler Zufriedenheit schenkt und seine Freude am Tun nährt, begegnet man sich auf Augenhöhe. Und das kann sehr berührend sein.
Weniger Üben und Unterrichten nach Plan und mehr menschliche Begegnungen wünscht,
Anna Stijohann
Beim Singen sind wir sind das Instrument. Vom Scheitel bis zur Sohle, nichts ist unwichtig, nichts überflüssig. Um sich beim Singen wirklich als klingender Körper, als Klangkörper, wahrnehmen und erleben zu können, spielen die Faszien eine entscheidende Rolle. Faszien. Das lange unbeachtete Bindegewebe, das erst seit ungefähr 15 Jahren intensiver wissenschaftlich erforscht wird und das erstaunliche Überraschungen und Möglichkeiten bereit hält. Auch für die Stimme und das miteinander Musizieren.
In jedem Fitnessstudio gibt es mittlerweile Faszienyoga und jeder, der einmal mit Rückenschmerzen beim Physiotherapeuten war, besitzt heutzutage eine „Faszienrolle“. Deswegen möchte ich nur ganz kurz beschreiben, was Faszien sind und dabei die Aspekte herausstellen, die mir besonders wichtig und fürs Singen von Bedeutung sind. Als Faszien bezeichnet man in der Regel jede Art von Bindegewebe im Körper. Alles im Körper ist von diesen elastischen Häuten umgeben. Vorstellen kann man es sich wie die Häute einer Orange. Außen gibt es die Schale. Innen teilt sich die Frucht in mehrere Stücke. Jedes Stück enthält kleine Saftschnipselchen, die wieder jeweils von einer Bindegewebshaut umschlossen sind. So ist es auch im Körper. Jedes Organ, jeder Muskel, jede Muskelfaser usw. ist von Faszien umgeben. Sie trennen alles voneinander und verbinden gleichzeitig alles.
Warum sind die Faszien für uns beim Singen interessant? Das elastische Bindegewebe hat einen entscheidenden Anteil an unserer Aufrichtung und der inneren (Auf-)Spannung. Damit sind die Faszien wichtig für alles, was mit innerer Anlehnung, Atem-Ton-Balance, vor allem aber auch unserer Schwingungsfähigkeit als Klangkörper zu tun hat. Die Beschäftigung mit den Faszien kann diese Schwingungsfähigkeit enorm verbessern oder wiederherstellen, was im Endeffekt bedeutet, dass das Singen müheloser und gleichzeitig genussvoller wird. Außerdem funktioniert unser „Körpersinn“ (also unsere innerliche Repräsentation davon, wie und wo wir uns im Raum und in der Schwerkraft befinden und inwieweit wir die Aktivitäten unseres Körpers bewusst erleben können) über die Faszien. Kurz gesagt, ermöglichen uns die Faszien den innerlichen, spürenden Zugang zu unserem Instrument Stimme.
Die äußerste Faszienschicht umschließt uns komplett wie eine „Tüte“. Unter der Haut, unter dem Fettgewebe liegt diese „Faszia Profunda“, die zum Singen äußerst interessant ist. Vom Scheitel bis zur Fußsohle hängen wir darüber zusammen. Eine Idee davon können wir bekommen, wenn wir uns diese Ganzkörperhülle wie einen elastischen Taucheranzug vorstellen und uns mit dieser Vorstellung bewegen, dehnen, strecken. Unsere Bewegungen bekommen eine andere Qualität. Unsere Aufmerksamkeit ist anders gebündelt. Mein Chor nennt diese Art der Dehnung scherzhaft „Räkeln deluxe“ 🙂 Und wenn wir die Stimme tönend dazunehmen, kriegen wir eine erste Ahnung, wie nützlich diese Klanghülle im Sinne einer inneren Anlehnung beim Singen sein kann.
Innerlich gibt es soviele Faszien und Faszienbahnen, dass man gar nicht weiß, welcher man sich zuerst zuwenden möchte. Aber die gute Nachricht ist, wir können einfach dort beginnen, wo uns unsere Intuition hinzieht. Wenn wir mit der oben beschriebenen Taucheranzugübung beginnen, fängt der Körper meist von selbst an, Bewegung und Aufmerksamkeit einzufordern. Ein leichtes Hin- und Herschwingen, Dehnungs- und Bewegungsbedürfnis oder der Wunsch nach Wippen oder Schütteln sind die Sprache des Körpers. Wir brauchen nur zu lauschen und seine Anregungen aufzunehmen.
Faszien können unglaublich viele verschiedene Dinge. Deswegen reagieren sie auch auf ganz unterschiedliche Reize. Für mich gibt es eine handvoll wesentlicher Möglichkeiten, den Körper über die Arbeit mit den Faszien in einen schwingungsfähigen Zustand zu bringen. Zunächst ist es das Dehnen, das neue Räume und Anlehnungsmöglichkeiten bietet. Wie fühlt es sich an, wenn wir uns in die Töne hineindehnen oder eine Dehnung, egal welcher Art, als Anlass für die Stimme nehmen? (vgl. Bewegung als Schalter)
Weiterhin mögen Faszien alles was mit Wippen, Federn und Schwingen zu tun hat. „Turnvater Jahn“ lässt grüßen 🙂 Bei den Übungen dieser Kategorie kann man vor allem das stimmliche Loslassen üben (vgl. Geschüttelt nicht gerührt). Wippen in den Fußgelenken, Trampolinspringen oder Schwingen mit den Armen oder einem Swingstick sorgen für innere Aktivierung, Wachheit und Lockerheit. Fügen wir dem Körper auf diese Weise von außen Schwingung hinzu, hat er auch Lust, aus sich heraus zu schwingen und somit zu klingen.
Darüber hinaus kann ich meine Faszien durch Massage (z.B. Fußmassage mit einem kleinen Ball oder Rückenmassage mit einer Faszienrolle o.ä.) aktivieren. Durch den Druck wird das Wasser aus der Bindegewebsschicht herausgedrückt und beim anschließenden Lösen saugt sich das Gewebe neu mit Flüssigkeit voll und wird somit beweglicher, gleitfähiger und fühlt sich saftiger, lebendiger und elastischer an. Und klingt auch so. Das können wir ausprobieren, wenn wir unserer Stimme freien Lauf lassen und z.B. dem wohlig-schrecklichen Massageschmerz erlauben, sich in Klang umzuwandeln. (vgl. Jubilieren gegen Höhenangst).
Gut funktioniert das auch beim gegenseitigen Massieren (z.B. bei bipolaren Atem- und Stimmmassagen nach Renate Schulze-Schindler). Die eigene Stimme an die Hände des Massierenden zu hängen und einfach mit der Stimme den Bewegungen zu folgen, macht große Freude und öffnet manchmal ungeahnte Klangräume.
Die fürs Singen vielleicht wichtigste Möglichkeit mit den Faszien in Kontakt zu kommen ist das Spüren. Faszien sind wesentlich an unserer Sensomotorik – also dem „wie bewege ich mich“ – beteiligt und sobald wir in einer Bewegung spürend anwesend sind (vgl. Bewusstsein als Tür), sind auch unsere Faszien aktiv(er) beteiligt. Ich verwende vor allem zwei Grundprinzipien.
Zum einen benutze ich immer wieder Mikrobewegungen, also kleine bis kleinste Bewegungen z.B. der Wirbelsäule, des Beckens oder des Kopfes. Wenn ich große Bewegungen ausführe, liegt der Schwerpunkt meist im Schwung oder der allgemeinen Aktivierung. Bei kleinen Bewegungen kann ich mich der spürenden Aufmerksamkeit kaum entziehen.
Diese wird ebenso geweckt, wenn ich mich während des Bewegens (und Singens (!)) auf die Schwerkraft konzentriere (vgl. Singen im freien Fall). Wie schwer ist mein Arm? Wie fühlt sich gehen an, wenn ich mich auf das Gewicht meiner Beine konzentriere? Wie klingt meine Stimme dann? Als Einstieg dazu eignet sich dazu auch gut die Arbeit mit Sandsäckchen oder anderen schweren Gegenständen. Auch Balancespielzeuge, wie das Schwingbrett, wecken den „Körpersinn“.(vgl. Spielzeug zum Singen)
In der alltäglichen Gesangsunterrichts- und Übepraxis gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Faszienarbeit einzubeziehen. Einmal kann ich Faszienübungen (z.B. aus dem Fitnessbereich, Yoga, Feldenkrais o.ä.) zum allgemeinen körperlichen Aufwärmen benutzen. Ist der Körper wach, geschmeidig und klangbereit, hat die Stimme es leicht (vgl. Es könnte so einfach sein).
Zum Anderen kann ich die Faszienübungen direkt mit Stimmübungen kombinieren. Das Singen und Tönen mit Dehn- oder Spürübungen oder in Kombination mit einer Massage lässt den Sänger körperliche Zusammenhänge beim Singen und innere Anlehnungsmöglichkeiten sehr direkt spüren. Dieses konkrete, „fleischliche“ Erleben ist häufig einprägsamer und nachhaltiger als das reine Denken oder Imaginieren. Die individuellen Verständnismöglichkeiten werden um die körperliche Ebene sinnvoll ergänzt.
Und schließlich wird Faszien-Stimm-Arbeit für mich persönlich zum Hochgenuss, wenn wir es schaffen, dass Körper und Stimme sich gegenseitig befruchten. Rhythmusarbeit und Improvisation, wenn sie mit Bewegung einhergehen (z.B. Circlesinging, TaKeTiNa o.ä.), können ein möglicher Aufhänger dafür sein. Ich biete z.B. regelmäßig die Körperklangstunde an, in der eine Stunde lang Bewegung und Stimme in wechselseitige Beziehung gehen. Wippen, Hüpfen, Dehnen, Spüren, Tönen, Summen, Klang und Rhythmus gehen ineinander über und sorgen für ein zutiefst lebendiges Gesamtgefühl. (vgl. Seufzen auf Krankenschein). Aktive Phasen wechseln sich mit ruhigeren spürenden ab und sorgen letztlich dafür, dass der Kopf leer, der Körper lebendig, die Stimme frei und das Herz glücklich ist.
Dank der unglaublichen Faszien ist alles mit allem verbunden. Großartige Sache!
Reichlich Stimmgenuss und Körperklangfülle wünscht,
Anna Stijohann
P.S. Wer Lust hat, ganz STIMMSINN-praktisch in die Arbeit mit Faszien und Stimme einzusteigen, dem möchte ich meinen Onlinekurs „Körperklang – Du bist das Instrument!“ ans Herz legen. Der Kurs ist ein Selbstlernkurs und Du kannst – wenn Du willst – heute noch starten.
Wenn man Kinder fragt, wie man eigentlich genau singt, ist meist die erste Antwort: „Mit dem Mund!“ Erwachsene wissen darüber hinaus häufig, dass es sowas wie „Stimmbänder“ im Hals gibt. Manchmal fallen auch die Begriffe „Kopf- und Bruststimme“, manche Menschen möchten gar mit ihrer „Bauchstimme“ singen. Mit dem „Herzen“ möchten wir natürlich auch singen und um die Verwirrung perfekt zu machen, spreche ich persönlich immer wieder vom ganzen Körper als „das Instrument“. Tja, da stellt sich die Frage, welche Ideen korrekt oder zumindest zum Singenlernen hilfreich sind. Ganz behutsam möchte ich versuchen ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen und Bilder, Wahrnehmungs- und Arbeitsansätze vor allem für die Arbeit mit Laien vorschlagen.
Legen wir einmal die Hände vorne an den Hals und sprechen ein langgezogenes [mmh], als würde uns etwas besonders gut schmecken. Dann können wir ganz deutlich spüren, wie das Gewebe schwingt. Auch wenn wir ein [a] auf diese Weise ertönen lassen, spüren wir die Vibrationen. Ich schreibe ganz bewusst nicht „singen“, denn es geht nicht um einen Schönklang auf einer festgelegten Tonhöhe, sondern nur um den ganz simplen Vorgang, dass die Stimmbänder – angeschwungen von der Atemluft – anstrengungslos zum Klingen kommen. Wie passiert das genau? Wir können diese kleine Übung mehrfach wiederholen oder z.B. in einem „Atemzug“ erst Luft strömen lassen, dann einen Ton zum Klingen bringen, dann wieder Luft, dann wieder Ton. Was ist der Unterschied? Wie geschieht dieses „Anschwingen“?
Der amerikanische Vocalcoach PER BRISTOW (Sing with freedom)
weist bei dieser Übung auf im Grunde nur zwei wesentliche Fehlerquellen
hin. Erstens: Der Ton ist zu hauchig, die Stimmbänder schließen also
nicht richtig, kommen nicht in Kontakt, der Ton ist nicht klar, zu viel
Luft geht verloren. Zweitens: Zu wenig Atem fließt und die Stimmbänder
haben in sich eine zu hohe Spannung. Freie Schwingung ist nicht möglich.
Um genau den Mittelweg zu finden und so auf sehr einfache und
wirkungsvolle Weise zu erleben, wie leicht singen sein kann, ist es
sinnvoll, beide Extreme einmal auszuprobieren. Die meisten Menschen
können das sofort nachmachen, wenn man es demonstriert und auch im Chor
ist das ein sehr einfaches Mittel um die Sänger für ein zuviel an
Spannung oder überlüftete Töne zu sensibilisieren. Unsere Stimmbänder
möchten in Kontakt kommen und gemeinsam locker und entspannt schwingen.
Im Grunde eine sehr einfache Essenz dessen, wie Stimmgebung
funktioniert.
Wenn nun die Stimme entspannt auf beliebiger Tonhöhe schwingt, können wir beginnen kreuz und quer durch unseren Stimmambitus zu experimentieren. Schleifen, Loopings, Glissandi und irgendwann kleine Übungsphrasen, Tonleitern usw. Wichtig: Es bleibt beim „Geräusch“. In den allermeisten Fällen geht beim Gefühl von „Singen“ nämlich der gerade eben gefundene, natürlich-entspannte Kontakt zur Stimme verloren und innere Bewertungen (richtig/falsch, zu hoch/zu tief, schön oder schräg) wirken kontraproduktiv. Sehr hilfreich in diesem Zusammenhang ist der Hinweis, dass die Tonhöhe der Stimme überhaupt nichts mit „Höhe“ zu tun hat, sondern, leicht vereinfacht gesagt, mit Länge und Spannung. Wie Gummibänder werden die Stimmbänder in die Länge gezogen und gedehnt. Dadurch ergibt sich eine andere Schwingungsfrequenz und damit eine veränderte Tonhöhe.
Eine handvoll Haushaltsgummis – in der Chorprobe an alle verteilt – kann da ziemlich schnell auch für erlebte Klarheit sorgen. (vgl. Spielzeug zum Singen) Erstaunlich, wie anders sich der Körper organisiert, wenn man ein kleines Gummiband in der Hand hält und damit die dehnende Stimmbewegung simultan zum Singen ausführt. Dazu noch ein kurzer Hinweis: Erstaunlich viele Menschen gehen davon aus, dass sich die Stimmbänder hochkant im Hals befinden. Dieses Missverständnis kann schnell ausgeräumt werden, wenn die Gummibänder parallel zum Fußboden gehalten und gespannt werden. Ganze Stücke oder auch einzelne schwierige Stellen können so geübt und viele unnötige Hilfsspannungen (z.B. Hochrutschen des Kehlkopfs) auf diese Weise vermieden werden.
Abgesehen davon, dass man dem sicher einen ganzen eigenen Artikel widmen könnte, möchte ich an dieser Stelle ganz kurz meine persönliche Einschätzung zum Phänomen „Bruststimme – Kopfstimme“ geben. Zuallererst: Es gibt keine zwei Stimmen! Und schon gar nicht an zwei unterschiedlichen Orten!
Ja, es gibt unzählige Möglichkeiten des Schwingens der Stimmlippen und komplexe Muskelaktivitäten, die letztendlich am Klang der Stimme beteiligt sind. Für die meisten Menschen ist es in der Lernphase aber eher hinderlich für die Entdeckung der in allen Lagen frei schwingenden Stimme, sich an den Begriffen Brust- und Kopfstimme zu orientieren. Dass es da mehr Missverständnisse und offene Fragen (Um was geht es eigentlich? Resonanz oder Stimmerzeugung? Muskelaktivität? Atemfluss oder Atembremse? usw.) als Klarheit gibt, ist häufig genug in der Literatur gesagt worden und auch ich habe schon darüber geschrieben. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)
Meine Überzeugung ist: Wenn eine Stimme gelernt hat frei zu schwingen, kann sie sich in ihrer Textur dem emotionalen bzw. musikalischen Kontext anpassen und die perfekte „Mischung“ entsteht quasi von selbst. (vgl. Singen ist Singen)
Wie oben beschrieben, entsteht die für den Klang nötige Schwingung der Stimmbänder im Hals. Die passende Artikulation dazu findet eine Ebene höher statt, nämlich im Mundraum. Zunge, Lippen, Zähne und Mundinnenraumform sorgen für die Verständlichkeit der Sprache. Es passiert häufig, dass sich die Artikulationsorgane in die Stimmgebung einmischen und das führt in der Regel – weil mit zu viel Hilfsspannung verbunden – zu Problemen. Für einen freien Stimmklang ist eine bestimmte Einstellung im Mundraum meiner Meinung nach nicht nötig. Wenn beides gut voneinander differenziert ist, kann der Mundraum natürlich als Resonanzraum dienen und unterschiedliche Lippen-, Zungen- und Kieferstellungen können auf den Klang einwirken, aber das ist für mich erst der zweite Schritt.
Kann die Stimme im Hals störungsfrei schwingen, braucht es einen Resonanzkörper um den Klang voll, tragfähig und für jeden Menschen einzigartig zu machen. Zunächst einmal dient der Schädel mit seiner holzkugelähnlichen Bauweise der Klangverstärkung. Ob der Klang nun „vorne oder hinten“ schwingen soll, darüber streiten sich die Gesangspädagogen leidenschaftlich. Ich empfehle vor allem, die vielgestaltigen Resonanzräume im Schädel durch das Singen mit verschlossenen Ohren zu erkunden. (vgl. Ohren auf!) Auf den Vokalen [u] und [i] geht das besonders gut und selbst jeder Anfänger merkt, wie intensiv einzelne Töne im Schädel resonieren. Ich fordere die Schüler oder Chorsänger meist auf, innerlich nach den Tönen auf die Suche zu gehen, die es im Kopf „so richtig scheppern lassen“ und von da aus nach und nach andere Tonhöhen und Vokale zu erkunden. Auch auf verschiedene Klinger [ng], [m],[n] usw. lassen sich mit verschlossenen Ohren unterschiedliche Resonanzräume im Schädel ausloten.
Aber nicht nur der Schädel dient der Resonanz, sondern der ganze Körper. Dabei spielt vor allem der Eutonus, die gute Spannung, eine Rolle. Wir möchten von Kopf bis Fuß schwingungsfähig sein, damit unser ganz eigener Klang – nämlich der individuelle Klangabdruck unseres gesamten Körpers mit all seinen Knochen, Muskeln, Spannungen und Beschaffenheiten – hörbar wird. Die feinen Vibrationen der Stimme lassen sich überall ertasten. Je näher am Hals, desto leichter, aber ich habe es auch schon erlebt, dass mein Körper beim Singen bestimmter Töne bis in die Fingerspitzen vibriert hat.
Und selbst wenn der Körper nicht fühlbar bis in jede Zelle schwingt, so hat er beim Singen doch eine ganz wichtige weitere Aufgabe.
Alles im Körper hängt mit allem zusammen. Das wissen wir seit dem Beginn der Faszienforschung endlich nicht nur intuitiv, sondern meßbar und nachprüfbar. Die feine Struktur der Faszien sorgt dafür, dass unser Körper elastisch ist und auch wenn er in heftige Schwingungen kommt – wie z.B. beim Singen kräftiger hoher Töne – noch stabil bleibt. Der Körper mit seinen Muskeln und dem Bindegewebe bietet beim Singen Ausgleichsaktivitäten an, die den Klang, den Atem und unsere Haltung in Balance halten. Zug- und Druckphänomene werden im Idealfall genau aufeinander abgestimmt und stimmliche Stabilität und Kraft bei gleichzeitiger Flexibilität sind die Folge. Das ist das, was ich als Stütze bezeichnen würde. Das sensible und gut koordinierte Zusammenspiel der Diaphragmen (Zwerchfell, Beckenboden, Stimmlippen, Gaumensegel u.a.) ist ein Aspekt dieser Balance. Das „Andocken“ des Klangs an die Schwerkraft kann eine Möglichkeit sein diese zu finden (vgl. Singen im freien Fall und Lebendig sein heißt instabil sein). Manchmal kann es auch sinnvoll sein, sich vorzustellen, der Ton beginne in einem bestimmten Körperteil, z.B. im Becken, am Brustbein oder den Flanken (vgl. Bewegung als Schalter). Der Stimmklang wird dann räumlicher und vielschichtiger und der Ton erhält neue Möglichkeiten der inneren Anlehnung. (vgl. Anlehnen an den Atem)
Insgesamt lässt sich sagen, dass es vor allem ein Frage der Aufmerksamkeit ist, wo und wie ein gesungener Ton sich manifestiert. Allein durch den Punkt unserer Konzentration können wir alles verändern. Singe ich z.B. eine Weile mit geschlossenen Ohren, wird meine Aufmerksamkeit danach immer noch beim „inneren Hören“ bleiben. Konzentriere ich mich auf die Vibrationen in meinem Hals, so werden sich diese immer weiter verstärken. Die Aufmerksamkeit dient quasi als Katalysator für unsere Erfahrung beim Singen und wir sollten sie keineswegs unterschätzen. Da jeder Sänger und jeder Körper anders ist und ein anderes inneres Bild von sich selbst hat, ist die Steuerung der Aufmerksamkeit ein wichtiges Mittel des Lernens. Ich als Gesangspädagoge kann durch die Wahl meiner Sprache, meiner Bilder oder das bewusste Lenken der Schülerwahrnehmung Dinge ins Bewusstsein bringen, die helfen, das eigene Instrument Stimme mit allen Aspekten immer besser zu verstehen. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?)
Insbesondere darf bei all den unterschiedlichen „Singorten“ natürlich nicht vergessen werden, dass es mindestens zwei weitere, weniger greifbare, Aufmerksamkeitsorte gibt, von denen aus es sich herrlich singen lässt. Unser Herz, unsere Emotionen, unsere Leidenschaft für das was gesagt und gesungen werden muss, ist ein – vielleicht der – wichtigste Motor für das Singen. (vgl. Nackt) Die Begeisterung für eine bestimmte Musikgattung, Klangwelt oder einen Groove ist mindestens ebenso wichtig, wie die oben genannten, eher technischen oder körperlichen Anteile des Singens. Und auch der der spirituelle Zugang zur Musik soll erwähnt werden. Je nach persönlicher Überzeugung kann man durchaus aus dem Glauben, einer „göttlichen Inspiration“ oder dem großen „Meer der Möglichkeiten“.
Alle Aspekte von Stimme sind miteinander verwoben und beeinflussen sich wechselseitig. Es singt und klingt der ganze Mensch. Um Verwirrungen zu vermeiden kann es aber sinnvoll sein, bestimmte Aspekte herauszugreifen, die konkreten Vorgänge zu beleuchten und klar zu stellen, auf welcher Ebene gerade geübt werden soll. Das ist insbesondere wichtig, wenn Schüler und Lehrer sich noch nicht gut kennen oder in großen Gruppen z.B. im Chor gearbeitet wird.
Lustvolles Wandeln durch verschiedene Aufmerksamkeits- und Singorte wünscht,
Anna Stijohann
Man stelle sich vor, Singen wäre einfach. Kinderleicht, ein Spaziergang. Kein Druck, keine komplizierte Technik, die es in vielen Stunden zu erlernen gilt, keine stimmliche Ermüdung, der pure Genuss. Die Töne purzeln gut geölt und wie von selbst aus der Kehle und je mehr und je länger ich singe, desto mehr Freude macht es und desto leichter geht es. Meine Stimme verbindet sich leicht und wohlklingend mit anderen Stimmen und ich kann mich ganz einfach am Miteinander erfreuen. Klingt gut, oder?
Ich bin davon überzeugt, dass das möglich ist. Und ich sehe es als unsere wichtigste Aufgabe als Gesangspädagogen, Menschen zu helfen, diese Leichtigkeit zu finden. Warum das nicht alle Menschen und Sänger so sehen, weiß ich nicht. Möglicherweise liegt es daran, dass sie es einfach nicht gewohnt sind und das wirklich mühelose Singen bisher nur selten oder gar nicht erlebt haben. Und in diese Einschätzung schließe ich sowohl Profis als auch Hobbysänger mit ein. Für viele Menschen scheint es ganz normal zu sein, dass nach der Chorprobe der Hals kratzt oder nach einem Liederabend oder einer Opernaufführung stimmliche Ermüdung eintritt. Für viele Sänger ist das Singen mit „harter Arbeit“ verbunden. Sowohl körperlich, als auch direkt stimmlich. Die richtige Klangeinstellung zu finden ist immer wieder Thema und die Frage „Wie Singen denn nun richtig geht“ stets präsent. Der Eine sagt dieses, der Andere sagt jenes. Der Eine sagt, Du musst dies tun, der Andere sagt „um Gottes Willen, das ist Gift für die Stimme“. Orientierungslosigkeit und ein hoher innerer Druck verbunden mit der Idee, nicht (gut) genug zu sein sind der Preis. Was auf der Strecke bleibt, ist der Genuss.
In der Kolumne einer namhaften Kollegin, die sich vor allem an Laiensänger im Chor wandte, stand vor einiger Zeit, dass das Erlernen der „korrekten Stütze eine sehr schwierige Angelegenheit sei und nur sehr fleißiges, jahrelanges Üben schließlich zum Erfolg führe“. Da fehlten mir glatt die Worte. Das verdirbt doch jedem ganz normalen Chorsänger – und nicht nur dem – die Lust aufs Singen und die Neugier, sich stimmlich weiterzuentwickeln.
Und es widerspricht ganz klar dem, was ich in meiner Arbeit erlebe. Natürlich gibt es keine Patentrezepte und natürlich hat die eine Stimme es schwerer zu ihrem vollen Potential zu finden und die andere leichter. Nichtsdestotrotz gibt es vielerlei Möglichkeiten, diesen Prozess zu unterstützen, in denen weder Druck (innerlich, äußerlich, stimmlich-muskulär) noch das „Ausmerzen von Fehlern“ eine Rolle spielt. (vgl. Das magische Knistern, Spielzeug zum Singen, Singen und Saugen, Anlehnen an den Atem, Singen im freien Fall, Improvisation)
Jeder Mensch kann singen. Jede Stimme bringt ihr ganz eigenes Potential mit und jeder Sänger hat das Recht sich beim Singen wohl zu fühlen. (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit, Was ist eine schöne Stimme?)
Wie schrieb mir neulich eine Workshopteilnehmerin: „(…) ich muss zugeben, dass sich meine Stimme mit dieser Art zu Singen sauwohl gefühlt hat.“
Verrückt, dass wir fast das Gefühl haben, uns dafür entschuldigen zu müssen, wenn es beim Singen mal richtig gut läuft. Gesellschaftlich tief verankert ist das Gefühl in uns, dass nur das von Wert ist, was hart erarbeitet ist. Wir sind es nicht mehr gewohnt Geschenke anzunehmen. Lieber ackern wir uns ab und verheddern uns in Details, die alles nur komplizierter machen.
Warum eigentlich? Warum müssen wir, wenn beim Singen alles wie geschmiert läuft, hinterfragen, ob das wirklich so sein kann / darf. Ob denn nun auch der Ton alle Kriterien erfüllt um ein guter Ton zu sein. Ob der Klang auch voll und rund genug ist, die Höhe strahlend genug ist und der Ton gut sitzt.
Wir könnten uns auch einfach mal auf unser Gefühl verlassen. Denn wenn wir ganz ehrlich sind, wissen wir in dem Moment, wo alles wirklich zusammenpasst, eigentlich genau: Es ist ganz einfach.
Natürlich heißt das nicht, dass wir uns einfach auf die faule Haut legen können. Das Sprichwort „Ohne Fleiß keinen Preis“ bleibt aktuell, aber die Art und Weise, wie wir üben und wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken, ist eine ganz andere. Der Schlüssel zum mühelosen Singen und leichten Lernen ist unsere Wahrnehmung. Nicht mehr und nicht weniger. Wahrnehmung, die keine Bewertung mit einschließt, sondern erlebt. (vgl. Wie viel muss ich üben? oder Bewusstsein als Tür)
Und auch Wahrnehmung gilt es zu lernen und zu üben. Denn wir sind, gerade was unseren Körper angeht, kaum mehr gewohnt, neutral zu spüren, ohne daraus direkt eine Konsequenz zu ziehen was wir als nächstes tun sollten. Wir möchten aktiv tun und manipulieren, weil wir denken, dass sonst nichts oder nicht genug passiert. Aber damit kommen wir beim Singen in Teufels Küche. Oder zumindest nicht zu einer echten Leichtigkeit.
Die Stimme organisiert sich ganz wunderbar selbst (vgl. Stimmliche Selbstorganisation, Singen ist nicht kompliziert!) und alles was wir dazu brauchen ist innere Wachheit. Alles ist schon da und will nur ans Licht gebracht werden. Eine Schülerin berichtete mir nach meiner viermonatigen Mamapause von einer tollen Entdeckung. Sie ist eine erfahrene Chor- und Ensemblesängerin und war selbst total überrascht.
„Ich saß da so vor dem Computer und habe mir ein Übungsfile für das neue Chorstück angehört. Ich saß ein bisschen vornübergelehnt und habe einfach so vor mich hingesungen. Und auf einmal ging es ganz leicht. Irgendwie hab ich gemerkt, dass ich in der Mitte meines Körpers etwas loslassen kann und dann ist der Ton voll und ganz leicht. Ich dachte immer, ich muss hier oder dort irgendwas tun oder anspannen, aber es war genau das Gegenteil der Fall. Verrückt!“
In einem Moment, in dem es überhaupt nicht darum ging, etwas richtig zu machen, hat sie plötzlich etwas ganz Wichtiges verstanden. Und ich als Lehrerin hab mich natürlich gefreut „wie Bolle“ 🙂
Gesangsunterrichtwird damit keineswegs überflüssig. Gerade wenn es darum geht, sich aus der eigenen Komfortzone heraus aufs Glatteis zu begeben (vgl. Kontrollverlust -Ja bitte!) ist eine kundige Begleitung wichtig. Außerdem weiß mein/e LehrerIn im Idealfall, wie sie/er mich in einen Zustand bringt, in dem Selbstorganisation möglich ist und hat in vielen Situationen einfach mehr Erfahrung, ein gutes Ohr und kann gut zureden, wenn das Zutrauen ins eigene Gefühl nicht ausreichend geübt ist. Von uns Lehrern erfordert das eine ganz andere Art des Unterrichtens. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf Fehler hinzuweisen, sondern Erlebnisräume zu schaffen. Denn die entscheidende Arbeit findet im Schüler statt. Nur dort, wohin er seine Aufmerksamkeit lenkt, kann Entwicklung stattfinden. Lenkt er sie auf die Probleme, die Enge, die Brüche und sonstige Unzulänglichkeiten, wird er genau davon mehr bekommen. Lenkt er seine Aufmerksamkeit auf das, was – im Rahmen seiner Möglichkeiten – leicht geht und das, was ihn neugierig macht, werden sich immer mehr Räume der Leichtigkeit auftun.
Ich selbst hatte vor einiger Zeit ein Erlebnis dieser Art, das mir gezeigt hat, dass der Leichtigkeit des Singens keine Grenzen gesetzt sind. Im Rahmen einer kleinen kollegialen Fortbildung arbeitete eine Kollegin nur etwa zehn Minuten mit mir. Nichts wildes. Aufmerksamkeitsübungen für die kleinste überflüssige Zungenspannung, ein bisschen [ng], ein bisschen [a] mit der Intention, keinen „schönen, gesanglichen“ Klang machen zu wollen, sondern ganz dem fließenden, wohligen Gefühl zu trauen und einfach ein „Geräusch“ zu machen.
Und ich muss sagen, ich war platt. Eigentlich dachte ich, mein Singen sei schon sehr spannungsfrei und mühelos, aber das war nochmal ein andere Liga. Tagelang habe ich danach diesem Gefühl einfach nur nachgespürt und mein Klang hat sich seitdem nachhaltig verändert. Alles, was es brauchte, war meine Aufmerksamkeit. Natürlich kamen auch in mir die üblichen Fragen auf. Klingt das wirklich gut? Taugt der Klang für alle Genres? Wie verbinden sich eigentlich Mühelosigkeit und Kraft? Hab ich noch genug Power, wenn es so leicht geht?
Doch die Leichtigkeit des Klangs und vor allem der pure Genuss beim Singen, haben die Fragen nach einigen Tagen verblassen lassen. Sie wurden einfach weniger wichtig. Und „Ja!“ ich hab genug Power. Denn ich habe durch diesen kleinen Ausflug die inneren Zusammenhänge von Kraftaufwand und Kraft im Klang noch einmal besser verstanden. Oft denken wir, wir haben Kraft, sind aber eigentlich nur damit beschäftigt, kräftig gegen unsere eigenen Widerstände (innerlich, äußerlich, muskulär) anzusingen. Ähnlich, wie wenn wir versuchen eine Tür aufzudrücken, die von der anderen Seite zugehalten wird. Wir fühlen uns möglicherweise sehr stark dabei, aber wir kommen doch nicht vom Fleck. Der Zuhörer hört nicht Kraft, sondern Mühe. Das ist ein großer Unterschied. Wenn wir frei und anstrengungslos singen, kann unsere Kraft, unser volles Potential dagegen wirklich nach außen hörbar werden. Wir treten durch die Tür hinaus und zeigen uns in voller Größe. Das erfordert Mut, ist aber ungleich lustvoller. (vgl. Nackt)
Singen ohne Mühe ist ein Balanceakt. Das organische Singen lebt – wie z.B. das Tanzen oder Wellenreiten – von der filigranen Koordination, den ganz feinen Unterschieden und der Tatsache, dass es nicht darum geht „etwas zu tun“. Viel mehr geht es darum, einen Schwung zu nutzen, mit der Welle zu schwimmen. Dann ergibt sich eins aus dem anderen. Wichtig ist ein sensibler innerer Kontakt von Stimme und Körper, der uns aber meistens schon nach kurzem Üben vertraut ist. Das Wahrnehmen der Schwerkraft oder ein spürender Kontakt mit den Händen oder das obertönige Hören und Lauschen helfen der Stimme ihren Raum und ihre Fokussierung fein auszubalancieren. Ein beweglicher Klang mit vielen Facetten ist das Ergebnis des inneren Zusammenspiels. An dieser Stelle möchte ich eine – sonst mit sich selbst eher kritische – Schülerin zitieren: „Ich bin ganz verblüfft, wie schön das klingt, wenn die Anstrengung weg ist.“
Und zum Schluss soll noch mein ehemaliger Posaunenprofessor zu Wort kommen:
„Wenn’s einfach wär, würd’s jeder machen.“ – Na, das wär doch mal was! 🙂
Unbeschwerte Singlust und sommerleichten Klanggenuss wünscht
Anna Stijohann
Es ist soweit. Der Karneval ist da. Wer an
Weiberfastnacht in Köln auf die Straße geht, kann sich dem kaum
entziehen. Sich zu verkleiden, jemand ganz anderer zu sein und den
Mitmenschen von einem ganz anderen Standpunkt zu begegnen als sonst,
kann sehr wohltuend sein. Wir sind wie wir sind, denken wir, doch durch
das karnevalistische Rollenspiel können wir die Grenzen dessen, was wir
sind und was andere von uns glauben das wir sind, ausdehnen.
Und genau deswegen möchte ich den karnevalistischen Gedanken heute vom Standpunkt Stimme her untersuchen.
Wenn wir Singen, zeigen wir uns. Keine Frage. Ob und wie wir uns zeigen, hängt an uns selbst. Es ist eine Mischung aus unseren Fähigkeiten und angelernter ästhetischer „Stimm-Kostümierung“. Genau wie bei unserm äußeren Auftreten gibt es große Unterschiede darin, wie wir uns präsentieren. Der Eine geht nie ungeschminkt aus dem Haus, der Andere am liebsten in Jogginghose. Dem einen ist die 50er Jahre Tolle mittlerweile zum Markenzeichen geworden, der andere liebt es öko mit Wollpullover. Aufs Singen übertragen könnte das folgendes heißen: Mancher versteckt sich hinter gängigen Klang- und Phrasierungsklischees. Pop- oder Klassikattitüde? Jeder wählt das, was ihm nahliegt. Jazzgesäusel oder penetrantes Musical“gebelte“ um jeden Preis? All das kann Markenzeichen und gleichzeitig Maskierung der eigenen Person und damit des eigenen Klangs sein. Wir zeigen uns nach außen so, wie wir möchten, dass unser Umfeld uns sieht.
Nicht, dass mich jemand falsch versteht. Ich habe nichts gegen Klischees und genre- und kontextangemessenen Klang. Aber genauso wenig, wie ich in Jeans in die Oper oder im kleinen Schwarzen zu einem Rockkonzert oder zur Arbeit gehen würde, hat jedes Stimm“outfit“ seinen Platz und seine Berechtigung. Das Outfit sollte im Idealfall gut passen und die Persönlichkeit des Trägers unterstreichen und nicht wie eine Verkleidung wirken. Wer seine „Popschlenker“ auch nicht bei einem schlichten Volkslied ablegen kann, wird kaum ein stimmiges Gesamtbild abgeben. Die niedlich-harmlose Kuschelstimme bei einer dramatischen Opernarie ist genauso fehl am Platz, wie schallerndes Vibrato in einem kleinen Raum bis die Wände wackeln. Um jedoch zu einem stimmigen und persönlichen Klang zu kommen und sich egal in welchem musikalischen Kontext angemessen ausdrücken zu können (vgl. Singen ist Singen), braucht es einiges an Erfahrung und Reife.
Genau wie eine menschliche Persönlichkeit sich im Laufe des Lebens im Idealfall immer weiter vervollständigt und unabhängig vom Außen immer mehr so sein kann, wie sie wirklich ist, wird auch die Stimme einen solchen Prozess durchlaufen. Der Psychoforscher C.G. Jung vertritt die Auffassung, dass wir alle Anteile unseres Selbst integrieren müssen um „Ganz“ zu werden. Je mehr – vor allem verborgene oder ungeliebte Persönlichkeitsanteile – wir kennenlernen und akzeptieren können, desto reicher und vielschichtiger wird unser Charakter sich zeigen. Für die Stimme gilt das Gleiche. (vgl. Was ist eine schöne Stimme?) Stimmfarben, unterschiedliche Stilistiken, archetypische Klänge, Höhe und Tiefe, Register, die uns bisher fremd sind. All diese Stimmanteile gilt es zu erforschen um zum „ganzen Klang“ zu kommen – der wie auch im Persönlichkeitsmodell von Jung, jedoch immer ein unerreichbares Ideal bleiben wird.
Das Schlüpfen in andere Rollen kann – ähnlich wie im Karneval – sehr viel Spaß machen und sehr befreiend sein. Jenseits des gängigen Schönheitsideals kann ich alles ausprobieren. Kann der sein, der ich sonst vermeintlich nicht bin. Kann mich im Schutze der Maskerade mehr trauen oder mich innerlich entspannen und zu größerer Ruhe finden. Ich kann anders mit anderen Stimmen in Kontakt treten. Anders als ich das von mir selbst kenne und vielleicht auch anders, als die Anderen es von mir erwarten. Ich darf Mann oder Frau sein, edel oder roh, elegant oder derb. Ich darf sexy sein oder reserviert, darf die große Diva spielen, von der ich mir vielleicht heimlich wünsche, ich wäre sie.
Natürlich darf ich das alles auch im richtigen Leben. Im Grunde schreibt mir ja niemand vor, wie ich zu sein und mich (stimmlich) zu geben habe. Dennoch fällt es schwer, sich in ernstem Rahmen – oder was wir als solchen empfinden – zu trauen etwas Neues zu wagen (vgl. Seufzen auf Krankenschein). Im Schutze des „Stimm-Karnevals“ fällt es möglicherweise leichter.
Und möglicherweise bin ich am Ende des „Karnevals“ meiner eigenen Person ein wenig mehr auf die Schliche gekommen. Stimmlich kann ich vielleicht Ängste ablegen und meine angelernten ästhetischen Konventionen hinterfragen. Ist das wirklich meins? Verstecke ich mich hinter dem, was ich denke, dass es so sein müsste? Oder schaffe ich es, meiner Persönlichkeit und meiner ganz eigenen Stimme wirklich Ausdruck zu verleihen? Wo bediene ich notwendigerweise eine bestimmte Kunstform und wie schaffe ich es, trotzdem mein eigenes Timbre und meinen Charakter hindurchscheinen zu lassen? Wo kann ich den musikalischen Kontext vielleicht sogar benutzen um meinen sonst eher verborgenen Stimm- und Persönlichkeitsanteilen Raum zu geben?
Und wenn ich mir selbst ein Stückchen näher gerückt bin, habe ich auch die Chance, dem Publikum anders zu begegnen. Ich zeige mich und lade das Publikum ein, mit mir wirklich in Kontakt zu gehen. Es entsteht das Band der Intimät zwischen Sänger und Zuhörer, das Gänsehaut auslöst, Tränen der Berührung kullern oder das Publikum aus tiefstem Bedürfnis her mitgrooven lässt.
Wie nah ich jemanden oder ein Publikum an mich heranlasse, liegt ganz bei mir. Und es ist völlig legitim, sich nicht immer und überall ganz und gar zeigen zu wollen. Gutes Handwerk und situationsangemessenes Verhalten ist nicht zu unterschätzen. Ich werfe auch nicht meinem Bankberater mein ganzes Sein vor die Füße. Dennnoch ist Kontakt ein menschliches und im speziellen sängerisches Grundbedürfnis. Die Sehnsucht nach direkter Begegnung ohne Maske ist einer der wichtigsten Gründe zu Singen. (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit) Man kann es niemandem verübeln, wenn er niemals unfrisiert vor die Türe geht oder sich beim Singen hinter Popfloskeln versteckt. Derjenige sollte sich bloß darüber im klaren darüber sein, was der Preis der Maskerade ist. Denn die intensivsten und intimsten Momente erleben wir meist nicht kostümiert sondern – seelisch oder körperlich – nackt.
Intimität ist etwas sehr kostbares und zerbrechliches. Das gilt natürlich auch für stimmliche und musikalische Intimität. Natürlich kann ich mir mit einem Schwung die (Stimm-)Kleider vom Leib reißen. Das wirkt jedoch sicher nicht bei jedem stimmig und einladend. Wahre Intimität braucht Raum und Zeit zur Begegnung, auch im Konzert oder im Theater. Es ist ein Vortasten und Suchen nach dem Gegenüber. Ein Sich-Vertraut-Machen mit dem Auftrittsort, mit dem Klang im Raum, mit den Mitmusikern, mit den Zuhörern. In meinem ersten Semester an der Musikhochschule kam eine bekannte Jazzsängerin für einen Meisterkurs zu uns in die Gesangsklasse. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, aber einen ganz wichtigen Satz werde ich wohl niemals vergessen: „Totally unzip yourself!“. Ungeschminkte, unmaskierte Stimmen, Musik, die direkt unter die Haut geht. Das ist das, wonach sich Zuhörer und Sänger gleichermaßen sehnen. (vgl. Was ist eine schöne Stimme?)
Damit ich mich trauen kann, mich so zu zeigen, wie ich bin, muss ich mich vor allem selbst akzeptieren, wie ich bin. Das klingt leichter als es ist und erfordert vom Sänger großen Fleiß und einen starken Willen, nicht immer den einfachsten Weg zu gehen. Je öfter ich mich selbst „nackt im Spiegel“ betrachtet habe, desto vertrauter bin ich mir selbst. Je besser ich mich selbst kenne, desto eher kann ich mich ungefiltert ausdrücken. (vgl. Was ist Präsenz?) Je öfter es mir gelungen ist, mich „stimmlich nackig zu machen“, desto leichter wird es mir fallen und desto mehr Authentizität gewinnt mein Vortrag. Und trotzdem bleibt das Singen vor Publikum – wenn ich den Mut und den Willen habe das Risiko der Begegnung einzugehen – ein Wagnis (vgl. Kontrollverlust – Ja Bitte!)
Neulich war ich seit langer Zeit mal wieder als Zuhörer bei einem Konzert. Ein junger motivierter Chor mit vielseitigem Programm. Mit dabei auch drei Solisten. Studenten, die bereits Auftrittserfahrung hatten, aber denen man trotzdem die Aufregung anmerkte. Nach den ersten paar wunderbaren Tönen – alle drei SängerInnen wirklich hörenswert und teilweise sogar mit eigenen Songs – bekam ich eine Gänsehaut. Was für mutige junge Menschen, dachte ich! Sich hier vor einem Publikum so zu zeigen. Sich mit allen Unsicherheiten pur und ohne Sicherheitsnetz zu präsentieren.
Menschen wie ich, die viel Singen und viel mit singenden Menschen zu tun haben, vergessen manchmal, welche Überwindung es kostet und wie gefährlich das Auftreten vor Publikum ist. Gerade den jungen Stimmen gilt deswegen mein größter Respekt.
Gleichzeitig musste ich schmunzelnd an meine ersten Auftritte in der Musikhochschule denken. Damals war ich mir des Risikos nicht bewusst und hatte auch keinerlei besondere Ansprüche an mich. Ich wollte einfach singen, weil es mir Freude machte. Wenn ich mir die Aufnahmen von damals anhöre, kann ich mich selbst als Studentin durch die Töne hindurchschimmern hören. Die Angst, die Sehnsucht, die Freude und die jugendliche Unbekümmertheit. Alles da. Und das freut mich ungemein. Denn im Rahmen meiner damaligen Möglichkeiten habe ich mich vor dem Publikum wirklich gezeigt, wie ich zu dem Zeitpunkt meines Lebens und meiner sängerischen Ausbildung war. Der Mut, sich stimmlich „nackig zu machen“ hat meiner Einschätzung nach, dabei kaum mit den sängerischen oder musikalischen Fähigkeiten an sich zu tun. Ein unausgebildeter Laie kann, vielleicht gerade wegen seiner Unsicherheit und Unvollkommenheit, mit seinem Gesang unglaublich berührend sein. Manchmal sogar so direkt berühren, dass wir seine Scham und alle Zweifel am eigenen Leib mitspüren. Manch ausgebildeter Sänger weiß sich klug hinter Technik und Manierismen zu verstecken und gibt allenfalls eine „beeindruckende“ Performance ab. Je größer meine Verkleidungskiste, desto dicker kann die Schutzmaskerade ausfallen. Aber jeder Kostümfilm bleibt eine Materialschlacht, wenn er nicht berührt.
In diesem Sinne- Stimmen Alaaf! (okay und Helau ;-))
Anna Stijohann
Sänger sind Säugetiere. Ein seltsamer Gedanke? Vielleicht. Aber meine Erfahrung zeigt, dass es sich lohnt, sich mit diesem Gedanken und den praktischen Auswirkungen auf das Singen genauer zu beschäftigen. Seit gut fünf Wochen ist ein neuer kleiner Sänger Teil meiner Familie und er saugt kräftig und gibt beherzt, lautstark, mühelos und äußerst tragfähige Töne von sich. Somit hat das Leben mal wieder entschieden, über welches Thema ich heute schreiben werde.
Wenn Babys saugen, tun sie das aus verschiedenen Gründen. Natürlich steht die Nahrungsaufnahme an erster Stelle, aber nicht nur. Egal ob an der Brust, an einer Milchflasche, an einem Schnuller oder an den eigenen Fingern, Saugen beruhigt. Saugen lässt das Nervensystem entspannen und sortiert den Atem. Je kleiner der Säugling, desto direkter ist der Zusammenhang zwischen An- bzw. Entspannung und Atemrhythmus zu erleben. Ist ein Kind entspannt, atmet es ruhig. Wird es müde oder hat sonst irgendein Bedürfnis, kann man schon an seinem Atem hören, ob es gleich zu quengeln beginnt.
An der Brust allerdings beginnt das gerade noch so aufgeregte Baby schon nach einer kurzen Weile tief und genussvoll zu schnaufen. Der Atem wird ruhig , gleichmäßig und rhythmisch. Der ganze Körper des Kindes ist involviert. Es findet übers Saugen hin zu seinem ganz individuellen Atemrhythmus. Diese Regulierung des Atems geschieht auch beim Schnullern. Wie man sich denken kann, bin ich aus diesem Grund eine große Schnullerbefürworterin ;-).
Saugen ist für das Kind lebensnotwendig in vielerlei Hinsicht.
Was aber hat das nun mit uns Erwachsenen und vor allem mit dem Singen zu tun? Wir können ein kleines Experiment machen. Wir nehmen unsern eigenen (sauberen) Zeigefinger – leider gibt es Schnuller in dieser Größe nicht – und saugen daran. Die Zunge legt sich weich um den Finger, die Lippen stülpen sich nach vorne und wir beginnen genüsslich ein bisschen zu saugen. Wie fühlt sich das an? Was geschieht mit dem Atem? Wie verändert sich mein Kontakt mit mir selbst? Wohin geht die Aufmerksamkeit? Wie fühlt sich mein Hals an? Wo spüre ich Entspannung, wo Kraft oder Anspannung? Kann ich beim Saugen ein- und ausatmen oder nur eins von beidem?
Dieses Experiment habe ich dem Buch „Die eigene Stimme finden – Stimmbildung durch organisches Lernen“ von PETER JACOBY entnommen. Er beschreibt seine Erfahrungen und weist klug darauf hin: „[dass] (…) es manche Menschen [gibt], die ihr Aha-Erlebnis bei der Frage haben, ob man gleichzeitig saugen und ausatmen kann, oder ob Saugen nur beim Einatmen möglich ist.“ (S. 135)
Diese Frage hatte ich mir ehrlich gesagt noch nie gestellt und so war der Augenblick, als mir klar wurde, dass man sowohl einatmend als auch ausatmend saugen kann, sehr erhellend. Der Begriff „Inhalare la voce“ wurde für mich endlich begreifbar. Die Vorstellung beim Singen weiter mit der Muskulatur in Einatmentendenz zu bleiben war und ist mir keine Hilfe, sondern hindert mich am freien und ganzkörperlichen Singen. Wie ich schon in meinem Artikel Anlehnen an den Atem geschrieben habe, ist die eine oder andere Atemunterstützung nicht für jeden hilfreich. Ich ersetze nun innerlich die „Einatemtendenz“ durch „Saugtendenz“ und kann enorm profitieren.
Nach diesen Zwischenüberlegungen können wir nun mit unserm Saugexperiment fortfahren und beobachten, wie sich der Brustkorb beim Saugen am Finger beim Ein- bzw. Ausatmen verhält.
Welche Richtung ist mir angenehm? Wo fällt mir die Koordination schwer, wo fühle ich, dass meine Kraft sich bündelt? Wo entsteht Raum, wo fehlt mir der Zugriff? Nehmen wir an, wir saugen nicht an unserm eigenen Zeigefinger, sondern an dem Sauger einer herrlichen Milchflasche. Plötzlich ist diese verstopft und ich muss mehr Saugkraft einsetzen. Wie mache ich das intuitiv? Atme ich beim Saugen kräftig aus oder habe ich mehr Sog, wenn ich gleichzeitig einatme? Welche Brustkorbmuskulatur schaltet sich hinzu? Die dehnenden Zwischenrippenmuskeln oder die verengenden Rückenstreckermuskeln?
Wie ich auf ganz persönliche Weise an Saugkraft komme, sollte ich gut erspüren, denn diese Muskulatur wird mich auch beim Singen ideal unter“stützen“.
Mit Schülern und in Chören behelfe ich mir bei dieser Übung mit sehr dicken Strohhalmen (Bubbletea-Modell, Durchmesser 12 mm), denn nicht jeder fühlt sich damit wohl, direkt aus der Straßenbahn steigend, auf seinem eigenen Finger zu lutschen. Den Strohhalm (oder auch Silikonschlauch) lege ich locker auf die Zunge und stülpe meine Lippen vor wie beim Buchstaben [u] (vgl. Lax Vox®). Mit einer Hand halte ich das untere Ende zu und kann so durch kräftiges Saugen einen Unterdruck erzeugen. Achtung! Den Strohhalm/Schlauch nicht plattdrücken.
Nun kann ich meine Stimme hinzunehmen und einzelne Töne ansummen. Dabei stelle ich mir vor, ich würde die Töne aus dem Strohhalm heraussaugen. Anstatt langsam und/oder durch die Nase einzuatmen, lasse ich den Strohhalm schwungvoll mit einem kräftigen Schmatzen (wie beim Küssen) aus dem Mund gleiten. Der Atem strömt von selbst ein. Leichter kann man plötzliches Abspannen kaum lernen.
So entsteht beim „Singen“ eine kräftige (Saug-)aktivität und danach ein wirkliches Lösen. (vgl. Tun und Lösen).
Das Verblüffende: Der Brustkorb wird beim saugenden Singen mit dem Strohhalm sehr wahrscheinlich auf seine vorher entdeckte Lieblingsrichtung zurückgreifen. Einatmend saugen oder ausatmend saugen. Denn wir können nicht nur saugen und Atmen, sondern sogar Töne machen und dabei in der einatmendsaugenden Brustkorbaktivität sein. Das heißt, die Zwischenrippenmuskulatur ist automatisch in dehnender Richtung aktiv obwohl wir nicht einatmen.
Oder eben auch genau anders herum. Wir tönen und saugen und dabei verengt sich mein Brustkorb ganz von allein. Klingt verrückt – vor allem, weil sich bei jedem automatisch die ökonomischste Richtung aktiviert – ist aber so. Soweit meine Recherche reicht, hat das zwar noch kein Wissenschaftler bestätigt, aber ich empfehle jedem das einmal auszuprobieren. Eine Liedphrase mit dem Strohhalm saugend singen, dann schmatzen lassen – dabei strömt der Atem ein – und dann direkt im Anschluss die gleiche Phrase noch einmal ohne den Strohhalm singen.
Jeder kann singen und jeder hat die körperlichen Voraussetzungen um leicht und mühelos mit natürlichem Klang Töne von sich zu geben. Doch viele von uns verlernen es im Laufe unseres Lebens. Entweder, weil uns jemand sagt „wie es zu gehen hat“ und wir dann möglicherweise irgendetwas „üben“ was uns eigentlich nicht gut tut. Oder weil wir uns nicht trauen wirklich unsere Stimme zu erheben und deswegen vermeiden, unseren ganzen Organismus mit seinem vollen Potential zu nutzen, um uns zu äußern.(vgl. Was ist eine schöne Stimme? und Jubilieren gegen Höhenangst)
Mein kleiner 5 Wochen alter Säuger zuhause hat davon noch keinen Schimmer. Er äußert seine Bedürfnisse genauso direkt und unvermittelt, wie er an allem und jedem mit einer ungeheuren Kraft saugt und nuckelt, wenn der Hunger nur groß genug ist.
Der Saugreflex ist in uns noch immer so ursprünglich und instinktiv angelegt, dass wir uns dem kaum entziehen können. Als perfekt koordinierte, ganzkörperliche Hochleistungsaktivität in Lippen, Mundraum, Zunge, Zwerchfell, Beckenboden usw. nutzen wir die Balance von Spannung an der richtigen Stelle und Entspannung ideal aus. Nutzen wir diese Kraft auch beim Singen, haben Hilfsspannungen kaum eine Chance. Durch das Saugen sind wir zudem mit unseren inneren Säugetieranteilen verbunden und „umschiffen“ das Gehirn, das uns mit seinen Zweifeln und komplizierten Gedanken desöfteren am freien Singen hindert. Wir verbinden uns mit unseren Emotionen und den tiefer liegenden Schichten unserer Persönlichkeit. Das Saugen ermöglicht uns Kontakt mit uns selbst, erdet und beruhigt. In diesem Zustand zu singen ist in vielerlei Hinsicht ein Genuss.
Viel Lust am Tier-Sein und allerhand Aha-Erlebnisse bezüglich des saugenden Atems wünscht,
Anna Stijohann
In meinem Unterricht und auch mit Gruppen und im Chor arbeite ich viel mit Spielzeugen. Bälle aller Art, Luftballons, Butterbrotpapier, Strohhalme, Tassen, Gummibänder, Schwingbretter, Balancierbalken, Tücher uvm. sorgen nicht nur für Spaß und Ablenkung beim Singen, sondern erfüllen verschiedene, wichtige Aufgaben in meiner Idee von „Singenlernen“.
Wer spielt ist nicht unter Leistungsdruck. Singen und Singenlernen unter Druck kann meiner Meinung nach nicht gelingen. Wir brauchen unsere eigene Freude und Neugier am Tun, sonst können wir nichts Neues lernen. (vgl. Wieviel muss ich üben?)
Erwachsene Menschen sind es kaum mehr gewohnt zu spielen, aber sobald wir nicht nur eine spielerische Aufgabe haben, sondern einen konkreten Gegenstand, können wir uns dem Spiel kaum entziehen. Bälle und Ballons sind da vielleicht das beste Beispiel. Und ein Großteil der Spielzeuge, die ich im Unterricht verwende, haben einen weiteren Vorteil. Sie regen vor allem zu körperlichem Spiel an.
Einen Ball zu werfen oder einen Ballon mit dem Fuß zu schieben, an einem Gummiband zu ziehen oder mit einem Tuch in der Luft zu wedeln, sind ganzkörperliche Vorgänge. Sie bringen den Schüler weg von den Aufmerksamkeit im Hals hin zu einer ganzkörperlichen Wahrnehmung. Ein wichtiger Schritt hin zum Singen mit dem ganzen Körper und dem Erleben dessen als unser Instrument. Größere körperliche Bewegungen lassen außerdem Bewegungsdynamiken besser begreifen. Fürs Singen unbedingt nötige Elemente wie „Schwung“, „Spannung und Entspannung“, „Dynamik“ oder „Schwingen“ sind so konkreter wahrnehmbar und später auch in kleinerem Radius wieder abrufbar. Der Körper lernt eben körperlich und Singen ist für mich, selbst wenn wir eine Ballade singen und dabei nahezu still stehen, ein durch und durch körperliches Phänomen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt meiner Arbeit mit Spielzeugen ist das – meiner Arbeit in fast allen Aspekten zugrunde liegende – Prinzip der Selbstregulation. Ich glaube nicht an den nachhaltigen Erfolg manipulativer Gesangstechnik im Sinne von „du musst diese Muskeln anspannen, dann geschieht das“, „das Gaumensegel muss jenes tun“, „Stütze bedeutet…“, „bei diesem oder jenem Vokal musst du das und das tun, damit…“
Das habe ich ja schon in vielen meiner vergangenen Artikel beschrieben. Stimmliche Selbstorganisation geschieht durch Anregung von außen. Das System Stimme wird durch eine „Energiezufuhr“ destabilisiert, also aus seinen gewohnten Mustern gehoben. Aus dieser vorrübergehenden Unordnung entsteht durch stimm- und körpereigene Ordnungsmechanismen, nach einer Weile eine neue, höhere Ordnung. Die Stimme gewinnt je nach Anregung an Leichtigkeit, Klangfülle, mehr Tonumfang, Klangfarbenvielfalt, Dynamik und mehr Ausdrucksfreiheit. Selbstregulation kann durch Anregung auf verschiedenen Ebenen aktiviert werden. Dazu gehören der Atem (z.B. Prinzip Einatmer/Ausatmer), das spürende Erleben von Resonanz, obertöniges Hören, die kinästetische Wahrnehmung (Körpersinn/Faszienarbeit) und die Emotion.
Weil Selbstregulation immer dann am Besten funktioniert, wenn wir ganz in einer Sache aufgehen und uns mit unserem rationalen Verstand nicht einmischen, sind Spielzeuge hier am richtigen Platz. Zunutze machen können wir uns hier vor allem Reflexe und unbewusste Zusammenhänge von Stimme, Atem und Körper.
Nehmen wir einen Ball als erstes konkretes Beispiel. Wenn wir einen Ball mehrere Male in die Höhe werfen und dann wieder auffangen, können wir erleben, wie unser Atemrhythmus sich dieser Bewegung anpasst. Das Hochwerfen begleitet unser Körper mit dem Einatem, beim Herunterfallen strömt der Atem aus. Dieses sehr einfache Prinzip aktiviert auf spielerische Art und Weise die Ein- bzw. Ausatemmuskulatur und das kann ich mir beim Singen zunutze machen. Probieren wir doch mal aus, wie das Singen leichter ist. Beginne ich meine gesungene Phrase mit dem Hochwerfen des Balls, nutze ich die Dynamik der Einatemmuskulatur für die Stimme und der Atem strömt von selbst wieder ein, wenn der Ball wieder runterkommt. Singe ich mit dem Fallen (oder auch z.B. mit dem Prellen des Balls auf dem Boden), nutze ich die Dynamik des Ausatemrhythmus für die Stimme. (vgl. Anlehnen an den Atem und Tun und Lösen)
Ähnlich, nur etwas subtiler verhält es sich, wenn ich wiederholt einen Luftballon in die Luft stubse. Auch das Rechts- und Links- oder Vor- und Zurückschaukeln auf einem Schwingbrett regt die stimmliche Selbstorganisation durch den Atem an.
Mein liebstes Spielzeug um ein ganz konkretes Gefühl für Resonanz zu bekommen, sind Luftballons. Halte ich einen aufgeblasenen Luftballon etwa 5-10 cm vor meinen Mund und spreche, töne oder singe, kann ich an meinen Händen spüren, wie der Ballon vibriert. Für viele Menschen ist das ein absolutes Aha-Erlebnis. Meine Stimme bringt den Ballon zum Schwingen, manche Töne oder Vokale mehr als andere. In Gruppen oder im Chor lasse ich nachdem jeder für sich mit seinem Ballon eine Weile ausprobiert und gesungen hat z.B. dann zwei Menschen aus unterschiedlichen Stimmen an einen Ballon singen, während beide jeweils eine Hand an den Ballon legen. Zusammenklang könnte nicht greifbarer und anschaulicher sein. Die Stimmen verbinden sich klanglich in beeindruckender Weise. Balancieren sich in ihrer Lautstärke und Klangfarbe und stärken sich gegenseitig in ihrer Intonation. Schon häufig ist es dadurch passiert, dass ein Chor oder Ensemble, das zuvor stark mit dem Absinken der Tonhöhe zu kämpfen hatte, wunderbar sauber und ganz ohne Sinken singt. (vgl. Intonation und Zusammenklang im Chor)
Dass das Lauschen auf Obertöne anstatt der Fixierung auf Grundtöne eine selbstregulierende Wirkung auf die Stimme hat, habe ich unter anderem in meinen Artikeln Das magische Knistern und Ohren auf! beschrieben. Dort ist auch die Anwendung von Butterbrotpapier zum Knistern oder zum „darauf tröten“ beschrieben. Eine verblüffende und gleichzeitig sehr einfache Anregung zur stimmlichen Selbstorganisation durch die Veränderung der Hörwahrnehmung kann man mithilfe einer gewöhnlichen Kaffeetasse/Becher erzielen. Wie ein Megaphon halte ich die Tasse dicht vor meinen Mund und spreche, töne oder singe hinein. Der Klang ist blechig und hohl. Das mache ich eine Weile und merke, dass das Singen recht leicht geht. Vor allem Übergangsprobleme und unausgewogene Registermischungen sind einfach kein Thema mehr, weil sie durch den veränderten Stimmklang kaum mehr wahrnehmbar sind. Zuviel Druck auf der Stimme reguliert sich, weil der Sänger das Gefühl hat „es kommt ja was zurück“. Die Auswirkungen des Tassensingens sind von Mensch zu Mensch und je nach persönlichen Stimmbaustellen sehr unterschiedlich. Der Eine empfindet, das der Atem nun mehr fließt, der Andere hat das Gefühl, plötzlich mehr nach innen zu singen und nimmt die eigenen inneren Resonanzräume im Kopf viel mehr wahr.
Einfach mal ausprobieren! 🙂
Unser Körper verfügt über eigene Sinneszellen, vornehmlich in den Faszien, die permanent dem Gehirn rückmelden, wie und wo wir uns im Raum und in der Schwerkraft befinden. Sobald wir uns auf die Ebene der Wahrnehmung – insbesondere von Raum, Gewicht und Balance – begeben, wird die Stimme so ebenfalls zur Selbstregulation angeregt. Schaffen wir es, unsere Stimme an eben jenes Körpergefühl anzuhängen, können wir sehr konkret erleben, wie sich „ganzkörperliches Singen“ anfühlt. Wir werden zum Klangkörper und können unsere Stimme an unsere eigene innere Körperstruktur (Muskulatur, Faszien, Knochen) anlehnen. (vgl. Singen im freien Fall). Ich nutze – abgesehen von Vorstellungsübungen und Übungen und Elementen aus der Faszienarbeit – auch hier verschiedenste Spielzeuge, deren Wirkung man sich kaum entziehen kann – z.B. kleine Faszienbälle zur Fußmassage.
Das Schwingbrett habe ich ja schon in verschiedenen Artikeln beschrieben. Es eignet sich hervorragend, um das eigene Körpergewicht und seine Verlagerung bewusst zu spüren. Weiterhin nutze ich schwere Bälle, Hanteln oder Reissäckchen. Versuchen wir z.B. mal ein Gewicht so langsam es geht mit der Hand vom Tisch hochzuheben. Wo ist der Moment, in dem ich wirklich das Gewicht spüre? Gibt es diesen Punkt auch beim Absetzen des Gegenstandes? Wie klingt meine Stimme, wenn ich diesen Punkt als Auslöser für einen Ton nutze?
Habe ich gerade keine Spielzeuge zur Hand z.B. mit vielen Menschen im Chor oder auch einfach als Alternative oder um erste Transferleistungen anzuregen, arbeite ich mit vorgestellten Spielideen. Eine meiner liebsten Übungen dieser Art, ist die Flipperkugel. Eine imaginäre Flipperkugel kullert in meinem Becken oder auch im Brustkorb herum. An diese imaginierte Bewegung hänge ich meine Stimme. Mal frei tönend, aber auch mit konkreten Übungen z.B. Quintglissando. Was kann die Kugel alles für Bewegungen machen? Rollen, sich verlangsamen oder beschleunigen, stoppen, plötzlich losrollen, um die Ecke hüpfen. Für viele Menschen ist die Arbeit mit so einer Vorstellung sehr viel konkreter, als die Anweisung, einfach mal den „Brustkorb in Bewegung zu bringen“. So wird über bestimmte innere Spielzeuge das eigene Bewegungsrepertoire erweitert.
Eine weitere Übung aus dieser Kategorie ist der „Taucheranzug“. Angelehnt an unsere äußerste Faszienschicht (Bindegewebsschicht, die uns wie eine Tüte einmal komplett umschließt) stellen wir uns vor, wir bewegen uns in einem elastischen Ganzkörper-Taucheranzug. Recken, Strecken, Laufen usw. bekommen dadurch eine ganz andere Qualität. So können wir auch tönen oder singen.
Singen macht Spaß. Spielen macht Spaß. Die Dinge, die wir übers Spiel erleben, öffnen uns neue Horizonte und Stimmräume. Selbst schwierige Arien oder Lieder sollten uns nicht davon abhalten, uns neugierig und spielerisch unserer Stimme und der Musik zu nähern. Keine Angst, dass dadurch die Ernsthaftigkeit verloren gehen könnte; wenn wir spielen, sind wir meist besonders intensiv anwesend und das ist sicher die beste Voraussetzung für intensives Singen und Klingen.
Eine Muh, eine Mäh, eine Täterätätä und überhaupt eine spielerische Zeit wünscht,
Anna Stijohann