Lebendig sein heißt instabil sein

In der vergangenen Woche hat mich vor allem ein Begriff begleitet: Instabilität. Meist assoziieren wir mit dem Wort „instabil“ etwas Ungutes, Gefährliches. Wenn wir instabil sind, sind wir angreifbar, fehlt uns die Standfestigkeit, sind wir orientierungslos, begeben wir uns auf heikles Terrain. Doch was ist mit den Wolkenkratzern, die absichtlich so gebaut werden, dass sie leicht flexibel sind, damit sie bei einem Erdbeben nicht so leicht umstürzen können? Ist das nicht ein Widerspruch? Was kann dieser Widerspruch uns über Singen erzählen? Warum brauchen wir beim Singen ganz dringend eine gute Portion Instabilität? Und was hat Instabilität mit Lebendigkeit zu tun?

Wir sind bewegliche Wesen

Unsere Wirbelsäule und unser ganzes Skelett ist nicht sehr stabil, erst durch gut vernetzte Faszien, Bänder und Muskeln können wir mit diesem recht wackligen Gerüst aufrecht stehen, gehen und sogar tanzen. Elastisch aufgespannt wie eine Hängebrücke oder ein Klettergerüst sind wir gleichsam beweglich und stabil. In verschiedenen Artikeln (u.a. Lebendiger Chor) habe ich darüber geschrieben, dass Singen für mich viel mit Bewegung zu tun hat. Ich möchte, dass Bewegung und Klang eine Einheit bilden und der Körper die Stimme somit optimal und auf sehr natürliche Art und Weise unterstützen kann. Manchmal weisen mich Menschen darauf hin, dass sie sich doch beim Singen – vor allem auf der Bühne – nicht die ganze Zeit wie wild bewegen könnten. Dem stimme ich voll und ganz zu. Ich versuche dann zu erklären, dass es gar nicht in erster Linie um große Bewegungen, sondern mehr um ein Gefühl innerer Beweglichkeit geht. Dieses ist für die allermeisten Menschen sehr schwer zu begreifen.

Balance braucht Instabilität

Eine ganz wunderbare Möglichkeit diesem Gefühl auf die Schliche zu kommen ist das Balancieren z.B. auf einer Balancescheibe, einem Eutonieholz oder einem Schwingbrett. Auf all diesen Spielzeugen lässt sich sehr gut spüren, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Instabilität und Balance gibt. Bin ich zu starr, falle ich genauso um, wie wenn ich zu schlapp bin. Nehme ich z.B. ein Schwingbrett, so lässt sich, wenn ich die Schwingbewegungen zuerst groß und dann immer kleiner werden lasse, eine Art Balancepunkt finden. Ich stehe in der Mitte zwischen rechts und links und bin nahezu still. Aber allein durch meine Atembewegung und auch winzige Gewichtsverlagerungen, die der Körper selber ausführt um in Balance zu bleiben, schwinge ich immer noch ganz leicht hin und her. Dieser Zustand ist für mich der Inbegriff von Instabilität. Alles ist möglich. Das Pendel kann theoretisch zu jeder Seite ausschlagen. Hänge ich an diesen inneren Zustand meine Stimme, ist vieles möglich. Solange ich mich in diesem Schwebezustand befinde und nicht aktiv dazwischenfunke, wird auch die Stimme mit Offenheit reagieren.
Auf nicht ganz so einprägsame Weise – aber dennoch klar erfahrbar – lässt sich dieser Zustand auch über eine einfache Gewichtsverlagerung von rechts nach links oder ein Kreisen über den Füßen erleben.

Aus Bewegung wird Beweglichkeit

Wie aus einer aktiven Bewegung innere Beweglichkeit wird, lässt sich auch gut erleben, wenn ich eine beliebige Bewegung so klein wie möglich ausführe. Wenn ich z.B. meinen Brustkorb oder mein Becken oder meine Wirbelsäule bewege, als täte ich es heimlich nur für mich und niemand anderer sollte von außen diese Bewegung bemerken. Mikrobewegungen dieser Art haben ihre ganz eigene Bewegungsqualität und sind von absolut hoher sensomotorischer Aufmerksamkeit begleitet. So wird äußerliche Bewegung zu einem inneren Gefühl von Beweglichkeit, Bewegungsbereitschaft oder Instabilität umgewandelt. Die Stimme erhält so den Freiraum, den sie braucht um wirklich den ganzen Körper zu durchklingen. Möglicherweise beginnt sogar die – bis dahin vibratolose – Stimme auf diese Weise leicht zu schwingen und erwirbt damit die wunderbare Fähigkeit sich durch ihre klangeigene Instabilität wiederum selbst zu stabilisieren. In meinem Artikel über die „schüttelbare Stimme“ habe ich dieses Phänomen schonmal angedeutet.

Instabilität und Lebendigkeit

Schon vor längerer Zeit habe ich in dem Buch „Warum es ums Ganze geht“ des 2014 verstorbenen Physikers HANS-PETER DÜRR eine wunderbare Beschreibung des Zusammenhangs von Instabilität und Lebendigkeit gefunden.

 „Wir stehen auf einem Bein und sind, statisch betrachtet, instabil. Wir stehen auf dem anderen Bein und sind in der gleichen wackligen Lage. Sobald wir aber gehen, wechseln wir von einer Instabilität in die andere und erreichen dadurch einen dynamisch stabilen Gang, ohne dabei umzufallen. Das ist das Wesen des Lebendigseins: statische Instabilität in eine Dynamik einzugliedern, bei der der Vorzug der Instabilität, nämlich offen zu sein (also nicht determiniert und deshalb unter Umständen auch kreativ und entscheidungsfähig zu sein), verbunden wird mit einer bestimmten Beständigkeit. Also nicht zu Boden zu fallen und in den statisch stabilen Zustand zu wechseln, der Sterben bedeuten würde.“

Lebendigkeit und Instabilität gehen also direkt miteinander Hand in Hand. Wenn wir lebendig Singen und auch Sprechen möchten, brauchen wir sowohl körperlich als auch innerlich ein gewisses Maß an Offenheit und Undefiniertheit. Sind wir zu fixiert – und sei es auch noch so gekonnt und kunstvoll – kann der Zauber des Lebendigen sich nicht entfalten. Dann hat die Stimme es schwer, sich aus dem bekannten Terrain herauszubewegen und wird immer nur das preisgeben, was wir schon kennen. Wirklich freie Bewegung auch in Gefilde hinein, die wir noch nicht kennen, ist nur möglich, wenn wir die oben beschriebene Instabilität zulassen. Ich möchte sogar sagen, sie herausfordern und uns ganz bewusst hineinbegeben.

Der Punkt höchster Sensibilität

DÜRR beschreibt den ganz besonderen Zustand höchster Instabilität mithilfe eines Pendels.

Das Schwingen eines einfachen Pendels lässt sich mithilfe physikalischer Gesetze exakt ausrechnen und vorhersagen. Selbst die Reibung, die ein Versuchspendel nach einer Weile wieder zum Stillstand kommen lässt, lässt sich abhängig von Material usw. mit einrechnen.

Aber an genau einem Punkt lässt sich keinerlei Aussage und Prognose über die Bewegung des Pendels treffen.

„Wenn ich es [das Pendel] nämlich auf den Kopf stelle, das heißt, den Pendelarm ganz oben festhalte. Wenn ich diesen loslasse, weiß ich in diesem Augenblick nicht, ob er nach links oder nach rechts fällt. Jetzt könnte man einwenden, ich müsste ja nur ganz genau hinsehen, ob der Pendelarm links oder rechts von »genau oben« steht. (…) Aber wenn ich noch genauer »ganz in die Mitte« gehe, dann passiert in steigendem Maße etwas völlig anderes: Es wird auf einmal deutlich, dass dieses Pendel nicht einfach isoliert im Raum balanciert, sondern noch andere Dinge um das Pendel herum Einfluss haben. Das bin ich zum Beispiel selbst, da ich auf der einen Seite des Pendels stehe und es anziehe, genauso wie die Sonne einen Planeten anzieht. (…) Aber nicht nur von mir hängt es ab, sondern von uns allen! Jemand greift nach seiner Nase – und schon ist meine Rechnung im Eimer. Oder ein Auto fährt vorbei, oder der Zug fährt am Hauptbahnhof ein, oder der Andromedanebel sendet ein Lichtquant ab, das dieses Pendel erreicht und letztlich entscheidet, in welche Richtung es fällt.
Das Pendel ist in der Ganz-oben-Stellung instabil. Diesen Instabilitätspunkt sollten wir besser »Punkt der höchsten Sensibilität« nennen. (…) An diesem Punkt »spürt« unser Pendel, was in der ganzen Welt los ist. Aber es »spürt« nicht die alte, sondern die neue Welt! Es »erlebt« jetzt das Hintergrundfeld, die Potenzialität, die eben keine Realität mehr ist, sondern eine Vielzahl von Verbindungen, eine Welt, in der alles mit allem zusammenhängt. Wir könnten auch sagen: Das Pendel wird an diesem Punkt »lebendig«. Es tritt in Kontakt mit dem Informationsfeld des Ganz-Einen.“(Warum es ums Ganze geht, HANS-PETER DÜRR)

Schaut man das kurze Video eines Dreifach-Pendels, welches immer wieder solche „Punkte der höchsten Sensibilität“ durchschwingt, an, scheint es nahezu lebendig zu sein, bis es irgendwann durch die Reibung doch an Schwung verliert und zur Ruhe kommt.

Wir als wahrhaftig lebendige Wesen können uns selbst als Vielfach-Pendel bzw. sogar Ansammlung unzähliger Vielfach-Pendel sehen. Immer wieder durchschreiten wir verschiedenste Punkte der Instabilität und haben somit wieder und wieder die Chance, unsere Lebendigkeit wirklich auszukosten.

Lebendiges Singen

Als Sänger können und möchten wir nun diese Momente der höchsten Sensibilität mit der Stimme „erwischen“. Wie eine Welle, auf der ich surfen kann. Wie eine Rolltreppe, auf die ich aufsteigen und mich mitnehmen lassen kann. Aber wie ist das möglich? Wie bringe ich mich in einen solchen Zustand? Das anfangs beschriebene Suchen nach Instabilität bzw. Balance über ein Spielgerät ist eine Möglichkeit. Auch das „Singen im freien Fall“, über das ich in einem meiner ersten Artikel geschrieben habe, lässt mich den Punkt der höchsten Lebendigkeit direkt erfahren. Und je besser ich dieses – eine meiner Lehrerinnen beschrieb es mal als ein „leichtes Schwindelgefühl“ – kenne, desto öfter wird es mir begegnen. Durch die Beschäftigung mit der bipolaren Atemdynamik und insbesondere dem Üben der atemtypischen Körperübungen nach E. WILK, sowie anderer faszienwirksamer Körperarbeit, kann ich mich dem körperlich nähern. Aber auch rein mental gibt es Möglichkeiten, diese Art der Lebendigkeit zu erzeugen bzw. sich aktiv und bewusst in einen Zustand der Instabilität zu begeben, die dem Singen ganz neue Dimensionen erlaubt.

Zum Ende des Jahres wünsche ich nun allen Singenden den Mut, manche Dinge noch offen zu lassen und den unbeschriebenen leeren Seiten des neuen Jahres mit Freude auf das Lebendige entgegen zu sehen!

Anna Stijohann

P.S. Wer durch diesen Artikel Lust bekommen hat, das instabile und lebendige Denken und Singen einmal auszuprobieren und noch mehr Anwendungsmöglichkeiten kennen zu lernen, könnte sich für meinen ganztägigen Workshop „Anders Denken – Anders Singen“ Anfang Januar anmelden. Es gibt noch zwei freie Plätze.

Improvisation

Improvisation. Was ist das eigentlich? Wer tut es? Kann man das lernen? Warum tun sich viele Menschen mit dem spontanen Musikerfinden so schwer? Ist es nicht im Grunde einfach ein Spielen? Erkunden? Ausloten der Möglichkeiten?
Vorletzte Woche hatten sich sechs Damen zu meinem Miniworkshop „Improvisation mit der Stimme“ angemeldet. Und wir hatten vor allem jede Menge Spaß. Über verschiedene Spiele und Improvisationskonzepte konnten wir uns herantasten an die Dinge, die mir beim Improvisieren so wichtig sind. Und nicht nur dort. Denn Improvisation ist für mich nicht einfach eine von unzähligen Möglichkeiten gemeinsam Musik zu machen, sondern eine musikalische Grundhaltung, deren unterschiedliche Facetten sich in jeder Art von Musik zeigen können und dafür sorgen, dass Musik lebendig ist und bleibt.

Improvisation heißt: Sich trauen

Improvisation hat in aller erster Linie etwas mit „sich trauen“ zu tun. Es bedeutet, sich für etwas zu entscheiden, es zu tun und dazu zu stehen. Sei es ein Ton, ein Geräusch oder sonstiger körperlicher oder stimmlicher Ausdruck. Das geht am leichtesten in einem Experimentierfeld, in dem es zunächst keine Regeln gibt, was falsch oder richtig zu sein hat. Gleichzeitig hilft es, wenn dieses Feld einen klaren und überschaubaren Rahmen hat. Spielregeln für ein solches Experiment grenzen die Auswahl dessen, was ich tun kann, ein wenig ein und erlauben so eine leichtere Orientierung.

Meine liebste Einstiegsübung in die Improvisation heißt „Linie im Raum“. Der Raum wird durch eine imaginäre Linie in zwei Hälften aufgeteilt. In der einen Raumhälfte „leben“ z.B. Konsonanten, in der anderen Vokale. Dann fällt es leicht, durch den Raum zu wandeln und – zunächst für sich selbst – mit Konsonanten oder Vokalen zu experimentieren. Schnell wird die gezogene Grenze Anregung zum Wechsel zwischen den zwei Welten und schon sind wir mitten drin im Improvisieren. Als weitere Möglichkeiten können die Kontraste zwischen Klängen und Geräuschen, Worten und Melodien, flächigen Sounds und Rhythmen probiert werden. Die Aufforderung, mit den anderen Personen der Gruppe jenseits und diesseits der Grenzlinie in Kontakt zu treten, entfacht die Spiel- und Klanglust.

Gemeinsam improvisieren heißt: Miteinander spielen

In jedem Fall hat das Improvisieren für mich mit Spielen zu tun. Wenn ich alleine improvisiere, spiele ich mit mir selbst, in einer Gruppe ist für mich die Interaktion das wichtigste Element. Es geht darum, wirklich in Kontakt zu treten, meinen Mitmusikern zuzuhören, aufzunehmen, was sich mir zeigt, und darauf zu reagieren. Was ziemlich banal klingt, ist alles andere als einfach. Viel wahrscheinlicher ist es, das jeder drauflos spielt, singt oder tönt und ein heiloses Durcheinander entsteht. Das ist nicht die Art von Improvisation, die ich meine. Vielmehr geht es um sehr einfache, aber elementare Facetten von Kommunikation im ganz allgemeinen Sinne. Durch das miteinander Improvisieren kann ich lernen oder mir bewusst werden wie wichtig es ist, den anderen Raum zu lassen und mir gleichermaßen auch selbst Raum zu nehmen. Vordergrund und Hintergrund, Solist und Begleitung, Verdichtung und Ausdünnung, Dynamik, Spannung, Entspannung – die Improvisationserfahrung ermöglicht tiefe Einblicke in die Grundregeln des Miteinander-Musizierens.

Der Unterschied ist, dass ich beim Improvisieren elementar darauf angewiesen bin. Ohne das Miteinander kann Improvisation in einer Gruppe nicht gelingen. Gemeinsames Musizieren ohne den vorgegebenen Rahmen eines Notenblattes oder eines konkreten Arrangements lebt davon, sich – wie auch immer geartet – aufeinander zu beziehen.

Als kleine Übung, die auch eine unerfahrene Gruppe schnell an den Kern dieser Sache heranführt, kann eine Art Assoziationskette dienen. Im Kreis stehend, beginnt einer mit einem beliebigen Wort, der nächste reihum nennt das erste Wort, das im dazu einfällt usw. Nach ein paar Runden kann man auch Phantasieworte oder Klänge zulassen. Später kann man Melodie- oder Rhythmusschnipsel assoziieren und dann kreuz und quer im Kreis und auch gleichzeitig einwerfen. So wird mehrdimensionales Musizieren möglich, dessen Grundhaltung und Wachheit auch dem ein oder anderen Nichtimprovisierer sicher gut tut.

Improvisation heißt: Dem Chaos vertrauen

Beim Improvisieren in der Gruppe gibt es immer wieder Momente, in denen nichts „zu klappen“ scheint. Grooves greifen nicht ineinander, Sänger hören einander nicht zu, flächige Klänge sind unausgewogen, unterschiedliche Wünsche und Ideen prallen aufeinander. Genau diese Momente ermöglichen intensives Lernen. Es geht darum Unsicherheit aushalten zu lernen und sich in undurchsichtigen Situationen besser zu orientieren. Ich habe es nicht in der Hand. Die Dinge entwickeln sich nicht so, wie ich es mir vorstelle. Ich werde innerlich unsicher, zweifle, möchte aufgeben. Doch das Chaos birgt die Chance, dass wirklich Neues entsteht. Ordnung ergibt sich von allein, wenn ich es schaffe das Chaos auszuhalten, und bringt das Gefühl mit, wieder im sicheren Hafen zu sein. Das Spüren dieses Kontrastes ist für jede Art des Musizierens und für kreative Prozesse ganz allgemein von großem Wert. So lernen wir spielerisch das Prinzip der Selbstorganisation kennen und können diesem immer mehr vertrauen – nach und nach sogar Gefallen, vielleicht sogar Lust daran finden.

Im Schutz der Gruppe kann ich mich immer wieder einfädeln in das klangliche Gebilde. Ich kann – und muss – anknüpfen an das, was schon da ist. Und selbst wenn ich alleine improvisiere, knüpfe ich an das an, was sich mir bietet. Ein hängengebliebener Ohrwurm, meine eigenen inneren Rhythmen, die Umgebung, der Raum. Auch wenn ich nicht ausdrücklich improvisiere, sondern ein vorgeschriebenes Musikkstück interpretiere, kann ich mich daran erinnern und die Musik in jedem Moment wieder neu erfinden.

Improvisieren heißt: Musik immer wieder neu erlernen

Improvisation bringt uns zurück zu den musikalischen Basics. Wenn wir auskomponierte Musik spielen oder singen, nehmen wir oft Dinge als selbstverständlich an, die eigentlich das wichtigste Moment der Musik sind. Im Improvisieren beginnen wir immer wieder am Nullpunkt und erleben, wenn wir wach und neugierig bleiben, die einfachsten Bausteine der Musik als neu und vielleicht sogar als spektakulär. Durch die ständige Ungewissheit, was passieren wird, erleben wir Zusammenklänge, Reibung, Spannung und Dynamik sehr intensiv und unmittelbar. Eine aus dem Augenblick heraus entstandene Generalpause lässt den Atem stocken, Klang, Rhythmus und Puls sind die Motoren des musikalischen Geschehens, die wir selber am Laufen halten. Wir können – ganz egal wieviel musikalische oder stimmliche Vorerfahrung wir haben – aktiv mitgestalten und wirklich kreativ sein. Das ist für Anfänger und Laien gleichermaßen interessant wie für erfahrene Profis, die zu den Wurzeln ihrer Kreativität zurückfinden möchten.

Wir lernen Details in Sprache, Rhythmik und Phrasierung wahrzunehmen, weil die innere Aufmerksamkeit beim Improvisieren ganz anderer Art ist als beim Singen nach einem vorgegebenen Arrangement. Ich persönlich genieße es in diesem Zusammenhang besonders, die Einfachheit wieder wertzuschätzen. Aus dem Einfachen erwächst Komplexität, die wirklich als solche empfunden und durchdrungen werden kann. Jeder Part ist wichtig, jeder Teilnehmer kann sich entsprechend seiner Möglichkeiten einbringen.

Interpretation ist auch Improvisation

Die innere Haltung, die für das Improvisieren nötig ist und die eben darüber wunderbar gelernt und verfeinert werden kann, ist für jede Art von Musik von unschätzbarem Wert. Eine innere Offenheit für das, was geschehen will, was in diesem Moment, in diesem Raum, in dieser Situation angemessen ist, öffnet die Tür zu wahrhaft lebendiger Interpretation. Über die Improvisation lerne ich frei zu sein, meine Handlungsoptionen zu erweitern und andere als die gängigen Möglichkeiten zu sehen. Ich lerne, wie es ist, wenn ich Grenzen überschreite und ein Risiko eingehe. Ich kann erleben, dass es Dinge gibt, die weder richtig noch falsch sind. Ich kann mein Anspruchsdenken zurücklassen und anfangen, mehr in netzartigen Zusammenhängen von Ursache und Konsequenz und weniger in Bewertungen, Verboten und Regeln zu denken. Ich lerne, meinem ganz eigenen, intuiven musikalischen Gefühl zu vertrauen und kann so zu einem wirklich authentischen Selbstausdruck finden, der nicht nur mich selber froh macht, sondern auch die Zuhörer bewegt. So kann Improvisation einerseits durch seinen Wert als künstlerische Handlung, andererseits als Spiel- und Übungsfeld für die eigene Kreativität ganz allgemein begriffen werden.

Selbst in einem sehr festgelegten Rahmen, lässt sich mit ein bisschen Übung der Spielraum für Eigenes, Spontanes und Unerwartetes aufspüren. Wenn ich diesen Spielraum immer wieder neu nutzen kann, kann ich auch Altbekanntes (z.B. bei 50 Vorstellungen mit dem gleichen Programm) immer wieder neu erleben und mit bleibender Freude lebendig singen und musizieren.

Viel Experimentierlust und Spielfreude, erlebte Leichtigkeit und zufälligen Tiefgang wünscht

Anna Stijohann

P.S. Der nächste Miniworkshop „Improvisation“ im STIMMSINN findet am 17.03.2018 statt.

Bewusstsein als Tür

In der letzten Woche hatte ich eine interessante Stunde mit einer Schülerin, die sich auch mit Meditation beschäftigt. Sie merkte an, dass sich einige der Übungen, die wir machen, für sie sehr meditativ anfühlen und wollte wissen, ob es beim Singen auch darum ginge, einen Schritt zurück zutreten und zum „Beobachter“ zu werden. Da habe ich mich an ein Kapitel meiner Abschlussarbeit zum „natural voice – teacher“ erinnert, in dem ich mich genau damit auseinandergesetzt habe. Verschiedene Ebenen von Bewusstsein haben sich in meiner pädagogischen Arbeit mit Menschen und Stimmen herauskristallisiert. Jede hat ihre eigene Qualität und ihre Berechtigung. Das Beobachten ist eine von diesen Ebenen.

Die vier Ebenen des Bewusstseins

Im Wesentlichen unterscheide ich vier verschiedene Qualitäten, wie mein Bewusstsein an dem, was ich tue, beteiligt sein kann. Dabei möchte ich das „was-ich-tue“ nicht nur auf mein aktives Tun, z.B. Körperbewegungen oder das Singen beschränken, sondern dieses lässt sich auch auf Dinge, die mit mir getan werden (z.B. Massage) oder Vorgänge wie das Lauschen oder Atmen, erweitern.

Nehmen wir ein Beispiel um die vier Qualitäten zu verdeutlichen. Ich öffne und schließe meine Hand zu einer Faust. Je nachdem, wie sehr ich an diesem Vorgang beteiligt bin, scheint die Bewegung eine ganz andere Dimension zu haben. Zunächst kann ich meine Hand öffnen und schließen und gleichzeitig mit meiner Aufmerksamkeit bei etwas ganz anderem sein, z.B. beim Abendessen, das ich später kochen möchte. Diese Stufe des Bewusstseins nenne ich das „unbewusste Tun“. (vgl. auch MIDDENDORF, „Der erfahrbare Atem“)

Als zweite Möglichkeit kann ich meiner Hand ganz genaue Anweisungen geben, was sie tun soll. Im Prinzip – von der Komplexität des Muskelzusammenspiels selbst einer so einfachen Bewegung mal abgesehen – kann ich versuchen meine Muskulatur bewusst zu benutzten. Diese Qualität nenne ich das „willentliche Tun“.

Den dritten Bewusstseinszustand nenne ich das „beobachtete Tun“. Ich lasse meine Hand sich öffnen und schließen, z.B. um etwas zu greifen, und beobachte dabei genau was geschieht.

Die vierte Ebene, die für meine Arbeit und die damit verbundene natürlich-intuive Entwicklung der Stimme besonders wichtig ist, nenne ich das „Mitschwingen“ bzw. „Anwesend sein“. Meine Hand öffnet und schließt sich und ich vollziehe die Bewegung mit meinem ganzen Sein mit.

Ich möchte, vor allem im Hinblick auf die Stimme und das Singen, die vier Aufmerksamkeitsebenen genauer beschreiben, denn wir bewegen uns stets zwischen all diesen. Jede Ebene hat ihre besonderen Eigenschaften und ihren Sinn. Je nachdem, auf welcher Stufe wir z.B. eine (Stimm-)Bewegung erlernen, lagert sie sich an einem anderen Ort in uns selbst ab und verknüpft sich anders mit anderen Dingen, die wir wissen oder erfahren haben.

Das unbewusste Tun

Wir tun jeden Tag tausende Dinge unbewusst. Wir atmen, wir bewegen uns fort, wir gehen Alltagsroutinen nach. Würden wir alle Dinge, die wir tun, bewusst wahrnehmen, wäre unser Hirn bald überfordert. Deshalb ist es gut, dass viele Dinge automatisch, also ohne Beteiligung unseres aktiven Bewusstseins ablaufen. Wir brauchen uns keine Gedanken machen, ob wir als nächstes ein- oder ausatmen müssen. Unser motorisches System hat komplexe Abläufe, wie z.B. das Gehen, zusammengefasst. Nur so ist es möglich sich überhaupt fortzubewegen. Würden wir versuchen, die Bewegung „gehen“ aus Einzelteilen zusammenzusetzen, würden wir nicht einen einzigen Schritt voran kommen.

Allerdings hat das unbewusste Tun einen entscheidenden Nachteil. Auf dieser Stufe unseres Bewusstseins ist Lernen unmöglich. Möchten wir neue Bewegungsabläufe oder ähnliches lernen, müssen wir uns auf eine höhere (oder tiefere, je nach Sichtweise) Stufe des Bewusstseins begeben. Um Lernen zu können, müssen wir wahrnehmen.

Das willentliche Tun

Auf dieser Stufe geht es vor allem um eines. Bewegungen und Vorgänge in Einzelteile zu zerlegen, immer weitere Details zu verstehen und noch differenzierter zu steuern. Unser Bewusstsein ist hellwach. Es gibt Befehle und überwacht, übt Kontrolle aus und regelt Abläufe. Beim Tanzen oder beim Singen lerne ich, wenn ich mich auf dieser Stufe der Aufmerksamkeit befinde, welche Muskulatur wann und wie an einem Bewegungsablauf beteiligt ist. Das gibt mir die Möglichkeit, im Falle eines Problems – vorausgesetzt ich schaffe es, das Problem so genau zu analysieren, dass ich weiß, wo es hakt – direkt Konsequenzen für mein Handeln zu ziehen. Der Verstand ist dabei das wichtigste Bewusstseinsinstrument.

Doch denken wir an das oben beschriebene Beispiel des Vorgangs „gehen“, so geraten wir schnell in Schwierigkeiten, wenn es um komplexe Bewegungsabläufe, wie das Singen geht. Dazu kommt, dass ich mein Instrument nicht herausnehmen und von allen Seiten anschauen kann, um wirklich alle beteiligten Komponenten zu begreifen. Wir sind keine aus technischen Einzelteilen zusammengebaute Maschine und alle am Singen beteiligten Faktoren kann ich niemals erfassen. Dennoch gibt es viele Gesangsmethoden, die genau das versuchen. Ziel des Lernens ist dann, möglichst viele Details zu kennen, benennen und kontrollieren zu können. Im Gegensatz zum unbewussten Tun, bin ich auf dieser Aufmerksamkeitsstufe sehr wohl an dem, was ich tue, beteiligt. Allerdings nicht direkt involviert, sondern als außenstehender Lenker und Denker. Ich sehe mich nur insofern in Beziehung zur durchgeführten Handlung, als dass ich steuere, befehle und korrigiere.

Das beobachtete Tun

Es gibt jede Menge Bewegungsabläufe, die sich, wenn ich mich nicht einmische, zum großen Teil selbst regulieren. Das Singen gehört mit Sicherheit dazu. Wenn ich mich zurücknehme und nicht versuche zu manipulieren, können sich einige Muskelabläufe viel feinmotorischer ordnen. Ich, der Sänger, kann die Dinge sich selbst überlassen und Beobachter, Zuschauer sein. Damit bin ich nicht Teil dessen, was geschieht, sondern stehe zu einem gewissen Maße außen vor. Durch Impulse von außen wird mein System angeregt und ich beobachte, was geschieht. Auf eine Stimulation folgt eine Reaktion. Aus einer Ursache ergibt sich eine Wirkung. Ich höre, dass sich der Klang verändert oder dass ein Ton leichter zu erreichen ist. Ich kann meine Wahrnehmung schärfen und ein immer genauerer Beobachter werden. Ich lerne, die Aktivität meiner groben Muskulatur auf ein Minimum zu beschränken. Ich lerne, welcher Stimulus zu welcher Wirkung führt, und nach und nach erwerbe ich auf diese Weise immer mehr Handwerkszeug, das ich baukastenmäßig benutzen kann, wenn ich es brauche. Ich bewerte das, was ich höre, sehe und spüre mit „richtig oder falsch“, „Erfolg oder „Misserfolg“. Ich kann aus dem, was ich beobachte, Konsequenzen ziehen. Mein Kopf ist wach.

Mitschwingen

Wir stehen am Strand und schauen aufs Meer. Die Wellen rollen unablässig gegen das Ufer. Immer wieder. Eine rollend-schwingende Bewegung zeigt sich mir. Innerlich beginne ich, wenn ich eine Weile so in die Wellen geschaut habe, die Bewegung mitzuvollziehen. Ich denke nicht: „Jetzt kommt die Welle wieder, jetzt geht sie wieder, jetzt bäumt sie sich auf, jetzt beruhigt sie sich.“ Sondern ich beginne mit der Welle zu schwingen. In mir stellt sich eine ebenso gleichmäßige, rollend-schwingende Bewegung ein. Genauso ist es bei einem Tennisspiel. Irgendwann folgt mein Kopf der Bewegung des Balls intuitiv. Ich denke nicht darüber nach. Ich schwinge mich ein in den Rhythmus des Spiels. Ich erlebe, ich nehme wahr.

Genauso erlebe ich den idealen inneren Zustand, wenn ich mich ganz dem Singen und Üben (!) überlassen kann. Ich lasse meinen Kopf immer mehr zur Ruhe kommen, bis ich ganz anwesend sein kann im Tun, wie im Loslassen. Ich „beobachte“ nicht meinen Atem oder meine Stimme, sondern ich schwinge mit. Ich lasse mich tragen von der inneren Welle. Ich empfinde körperlich mit, spüre Dynamik, Spannung, Entspannung oder Druck. Ich lehne mich an eine Bewegung oder den Klang meiner Stimme an oder lasse mich hinein gleiten. Ich bin Teil dessen, was geschieht. Ich bewerte nicht, reflektiere nicht einmal. Ich akzeptiere und nehme an, was mir begegnet. Erst wenn ich die Erlebnisebene verlasse, kann ich versuchen das, was ich erlebt habe, in Worte zu fassen. Selten wird es mir gelingen.

Und dennoch kann ich auf dieser Ebene lernen. Ich lerne nicht abprüfbares Wissen oder detaillierte Einzelheiten. Ich lerne im Zusammenhang. Vor allem im Zusammenhang mit mir. Ich lerne absolut individuell. So, wie ein Kind lernt. Wie ein Kind lernt, nach und nach die Welt zu begreifen. Es beschäftigt sich mit den Dingen. Es erlebt. Es spielt. Ein Kind vertieft sich voll und ganz in das, was es tut. Wenn ich mich auf diese Ebene begebe, lerne ich nicht auf ein Ergebnis hin. Ich habe weder Wünsche noch Ziele. Ich bin neugierig und forsche mit dem, was mir spannend erscheint. Allerhöchste innere Aufmerksamkeit ist gepaart mit einem gewissen Maß an Unschärfe. Ich sehe oder höre nicht nur, sondern nehme komplex auf vielen Ebenen gleichzeitig wahr. Emotionales Erleben ist dabei genauso Teil des Lernprozesses wie das Entdecken von körperlichen Zusammenhängen. Persönliche innere Bilder und Assoziationen sind gleichermaßen Teil des Verstehens wie sensomotorische Information.

Im Gespräch mit der Schülerin habe ich vor allem versucht deutlich zu machen, dass „Beobachten“ für mich etwas ganz anderes ist als „Wahrnehmen“. Das ist nach der Beschreibung der vier Bewusstseinsqualitäten sicher deutlich geworden. Wichtig ist mir dabei noch zu sagen, dass das Wahrnehmen beim Singen für mich eine starke körperliche Komponente hat. Sie hat mit dem Spüren der eigenen Körperlichkeit und, wie ich es gern nenne, „Fleischlichkeit“ zu tun. In unserer kopfdominierten Welt fehlt vielen Menschen eben dieser körperliche Zugang zu sich selbst, der jedoch elementar mit dem Gefühl verknüpft ist, sich wirklich durch und durch lebendig zu fühlen. Davon kann das Singen nur profitieren.

Viel Freude beim Öffnen der verschiedenen Bewusstseinstürchen wünscht

Anna Stijohann

Das magische Knistern

Als Kind lag ich oft in meinem Bett und habe in die Stille gelauscht. In meinen Ohren gab es manchmal ein Knistern. Ein inneres Rauschen, hell und wohltuend, das mich immer noch intensiver lauschen ließ. Ich fragte mich, ob andere Menschen das auch hören? Es war ein bißchen wie mein kleines Geheimnis mit mir selbst. Wie, als könnte ich mit etwas Kontakt aufnehmen, das in mir und gleichzeitig mit allem verbunden ist. So kann ich das heute rückblickend mit erwachsenen Worten beschreiben. Nun arbeite ich jeden Tag mit diesem Knistern, wenn ich selber singe, Gesang unterrichte oder innerlich auf der Suche nach Stille bin.

Ein knisterndes Chorwochenende

So auch am vergangenen Wochenende. Ich war zum Chorwochenende eines Schüler-Eltern-Lehrerchores eingeladen, mit dem ich in der Vergangenheit schon einige Male zum Thema Atemtypen und anderen Stimmbildungsthemen gearbeitet habe. Der Chor ist sehr mutig und neugierig und die Arbeit macht große Freude. Diese Mal hatte ich mir vorgenommen, mit den Sängern am „Knistern“ zu arbeiten und so den Chorklang, die Intonation und die Modulationsfähigkeit der Stimmen zu stärken. Durch meine geschätzte Lehrerin ALEXANDRA NAUMANN kam ich im Rahmen meines Studiums in Berührung mit der Lichtenberger® Methode nach Gisela Rohmert und konnte durch die Recherche für meine Examensarbeit 2008 und immer wieder im Austausch mit Kollegen meine Kenntnisse auf diesem Gebiet vertiefen.

Aber worum geht es dabei eigentlich?

Die Theorie dahinter

Die Sängerin und Stimmforscherin GISELA ROHMERT erforscht am Lichtenberger Institut seit langem die Entwicklung der menschlichen Stimme, vor allem unter dem Aspekt der klanglichen Selbstregulation. Im Rahmen ihrer Forschung und auch in Zusammenarbeit mit dem Hörforscher ALFRED TOMATIS entdeckte sie die sogenannten „Gesangsformanten (GF)“. Diese Obertongruppen – ihre Frequenz liegt bei etwa 3000 HZ (weitere bei 5000 oder 8000 HZ) – zeigen sich unabhängig von Tonhöhe und Vokal im Klang frei schwingender Stimmen und haben außergewöhnliche Fähigkeiten. Im Sinne der Synergetik können diese GF als Ordner wirken. Über Rückkopplungsmechanismen zwischen Ohr und Stimme können die hochfrequenten Teiltöne eine klangliche Selbstregulation bewirken. Die Forscher fanden heraus, dass unser Gehirn hochfrequente Klänge bevorzugt. Die Ursache dafür liegt vermutlich darin, dass wir, wenn wir uns noch im Mutterleib befinden, wie durch einen Hochpassfilter hören. Knistern und Rauschen sind neben den bassigen Herztönen der Mutter die dort vorherrschenden Geräusche. Das Gehirn des erwachsenen Menschen reagiert auf solche Klänge mit Wohlfühl- und Entspannungsinformation an den ganzen Körper. Das Nervensystem wird ausbalanciert, der Körper eutonisiert und wir werden schwingungs- und damit klangfähiger. Dadurch wird unsere Stimme zu einem reicheren Obertonspektrum angeregt, noch mehr hohe Frequenzen werden hörbar und eine Art Selbstläufer in Bezug auf die Stimmbalance wird in Gang gesetzt. Die GF in der menschlichen Stimme entstehen durch eine sehr feine Schleimhautschwingung auf den Rändern der Stimmlippen und werden in der Eustachischen Röhre verstärkt.

Die Klangwelt rückt näher zusammen

Die Tatsache, dass die GF unabhängig von der Tonhöhe immer im gleichen Frequenzbereich auftreten, sorgt beim Singen für das Gefühl, dass es etwas wie ein stetig präsentes Kontinuum gibt. Tonsprünge verlieren ihren Schrecken und die Stimmfarbe behält über alle Registerübergänge hinweg ihren ganz eigenen und kontinuierlichen Klang. Typisch ist z.B. nach einigen Knister-Übungen die Frage: „Jetzt sind wir aber tiefer als vorher, oder?“

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das sogenannte Nahohr-Fernohr-Prinzip. Demnach verfügt jeder Mensch über ein Nahohr und ein Fernohr. Über das Nahohr nehmen wir Klänge etwa im Radius von anderthalb Metern um uns herum wahr. Dabei ist unser Gehirn vor allem auf höhere Frequenzen konzentriert und kann diese auf dem Nahohr besonders gut wahrnehmen. Über das andere Ohr hören wir Klänge, die weiter als anderthalb Meter von uns entfernt sind und bassiger klingen. Am deutlichsten kann man den Unterschied in einem menschengefüllten Raum hören (z.B. in einem Bahnhof).

Als kleine Übung im Sinne der Selbstregulation durch die GF können wir folgendes probieren. Wir singen eine Phrase oder auch eine längere Liedpassage. Zunächst ohne an irgendetwas besonders zu denken. Dann wiederholen wir die gleiche Passage, knistern direkt neben einem unserer zwei Ohren aber während wir singen z.B. mit einem Papier oder betätigen einen Regenmacher oder etwas anderes, was ein hochfrequentes Rascheln/Zirpen/Reiben von sich gibt. Wir wiederholen diesen Vorgang mit dem anderen Ohr. Bei den allermeisten Menschen wird der Effekt auf den beiden Seiten sehr unterschiedlich sein. Das Prinzip kann man sich außerdem beim Singen zunutze machen und im Chor auf diese Weise seine Lieblingssitznachbarn positionieren.

Knistern hoch fünfzig

Soweit die Hintergründe. Ich hatte mir also letzte Woche für die Arbeit mit dem Chor vorgenommen, die GF einzuladen um die Selbstregulation der Stimmen voranzutreiben. Dabei habe ich mich im Wesentlichen auf die, bereits in meinem Artikel „Ohren auf!“ beschriebenen Vorgehensweisen konzentriert. Lauschen nach innen. Summen und Singen mit geschlossenen Ohren und ein inneres Aufspüren von geräuschhaften Anteilen im Ton, waren der erste Schritt der kleinen Übungsreihe. Insgesamt ist es für die Arbeit mit den GF im Grunde erstmal unwichtig, ob die hochfrequenten Klänge in den Stimmen selbst auftauchen oder ihnen „von außen zugefügt werden“. Summen auf stimmhaftem sss im Wechsel mit verschiedenen Vokalen sorgt zum Beispiel dafür, dass das Knistern – so nenne ich die GF im alltäglichen Gebrauch – nach und nach auch in den Vokalen auftaucht. In einer Gruppe kommt noch hinzu, dass sich gegenseitiges Knistern verstärkt. Meine lockere Aufmunterung für den Chor, dass die Übung aufgrund des Selbstläufereffekts mit Sicherheit gelingen würde, solange nur irgendjemand im Raum ein kleines bißchen knistere, sorgte zunächst für Schmunzeln. Dass sich die Arbeit mit den hohen Frequenzen in einer Gruppe von 50 Menschen aber so stark potenziert, stellte sich erst im Laufe des Tages heraus und überraschte wohl alle Teilnehmer, mich eingeschlossen.

Sternenstaub

Meine Lehrerin in der Hochschule nannte das „Knistern“ den „Sternenstaub auf der Stimme, die den Zuhörern Gänsehaut macht, ohne dass diese wissen, woran das liegt“. Eine wunderschöne Beschreibung, die es meiner Meinung nach, ziemlich auf den Punkt bringt. Nicht umsonst sagen wir, dass uns bestimmte Klänge „unter die Haut gehen“. Und in der Tat hat das Auftauchen der GF viel mit dem Empfinden und Wahrnehmen von Vibrationen zu tun. Manchmal scheint es mir, als könne man kaum selber zwischen eigener kinästethischer und auditiver Wahrnehmung unterscheiden. Das Wahrnehmen von Resonanz am eigenen Körper, aber auch z.B. mithilfe eines Luftballons (vgl. Ohren auf) spielt für das Locken des Geknisters deswegen eine wichtige Rolle. Bei meiner Arbeit mit dem Chor sorgte die Luftballonübung in einer Variation für einen umwerfenden Chorklang. Immer zwei Sänger unterschiedlicher Stimmen berührten dabei jeweils mit einer Handfläche den Ballon und sangen jeweils ihren eigenen Part an den Ballon. Das gleichzeitige Lauschen und Spüren der eigenen und anderen Stimme brachten den Chor wirklich zu einem unfassbar dichten und wahrhaft vibrierenden Klang. Ich war in diesem Moment nur Zuhörer und konnte nach dem Ende des Stückes dennoch ganz deutlich spüren, wie meine Handflächen kräftigst kribbelten.

Das geniale Butterbrotpapier

Eine direkte Kopplung der kinästethischen Wahrnehmung und dem „Knistereffekt“ ist bei der Butterbrotpapier-Übung zu spüren. Die Sänger erhalten jeder ein Stück Butterbrotpapier (z.B. 3 x 10cm). Sie legen das Papier locker an die Lippen und singen gegen das Papier. Das Prinzip ist das gleiche, als wolle man „auf dem Kamm blasen“. Es kommt durch die Vibration in Schwingung und erzeugt ein schnarrend schepperndes Geräusch, wie bei einem Kazzoo. Am besten geht das auf dem Vokal [u] und in der oberen Mittellage. Mit ein bißchen Übung kann das Papier bei allen Tönen – hoch, tief, laut, leise – kräftig mitvibrieren. Lässt man den ganzen Chor auf dem Butterbrotpapier singen, entsteht zunächst große Verwirrung, weil der Geräuschanteil der Töne so präsent ist. Nach und nach pendelt sich die Intonation aber ein und es bleibt beim anschließenden Singen ohne Butterbrotpapier eine obertönig-lauschende Grundhaltung der Sänger zurück, die zu einem mühelosen, natürlichen und gleichermaßen total präsenten Klang führt. Die Stimmen scheinen durch das obertonorientierte Hören und die aktive Anregung der GF durch das scheppernde Papier „bindungsbereiter“ und beweglicher zu sein. Sie finden ihren Weg ohne Umweg ins Herz des Zuhörers und sorgten am vergangenen Wochenende bei Sängern, Chorleitern und Zuhörern für tiefe Berührung und Intensität, die keiner weiteren Worte bedurfte.

Die Mail einer Teilehmerin

Als Antwort auf meine Arbeit mit dem Chor schickte mir eine der Sängerinnen einige Tage später eine Email.

„Liebe Anna!
(…)
dieses Wochenende ist mit uns allen etwas passiert, was ich noch nie erlebt habe.
Wir waren ja schon so hochkonzentriert sensibel, als Du noch da warst. Nach Deiner „Oberton“-Therapie. Mit all dem Knistern und dem Sternenstaub. Du hast es ja selber noch mitbekommen.
Und am nächsten Tag war es nicht anders. Mir liefen die Tränen, ohne jeglichen Impuls, sie wegzuwischen. Ich habe noch nie so eine „Dichte“ beim Musik machen gefühlt, wie nach diesem Tag mit Dir. Ich weiß nicht, was Du tust und wie Du das machst, Du Zauberin… Aber es war alles anders danach.
„Bloß weil wir durch ein Butterbrotpapier geblasen haben…“ (…)“

Wie eingangs dieses Artikels aus meiner ganz persönlichen Perspektive geschrieben und auch aus der Mail der Teilnehmerin gut herauszulesen, handelt es sich bei der Arbeit mit dem Knistern, die auf den ersten Blick so harmlos und simpel erscheint, um absolut tiefenwirksame Stimmarbeit. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich weg vom Tun, hin zum ureigenen Klang, der es erlaubt uns wirklich zu zeigen. Das kostet durchaus etwas Mut. Auch körperliche Blockaden und seelische Spannungen können sich beim Lauschen auf das Knistern und die Konzentration auf das eigene Vibrieren und schwingen bei dieser Arbeit lösen und sich in Form von Tränen oder ausgelassener Freude entladen. Das harmlose Knistern, das auf den ersten Lauscher, mit dem Zirpen von Grillen oder Summen anderer Insekten vergleichbar ist, verbindet uns mit unserem eigenen inneren „Sternenstaub“ und ist somit höchst persönlich.

Knisternde Klänge, die unter die Haut gehen, wünscht

Anna Stijohann

Rhythmusarbeit ist Stimmarbeit

Foto: „Clapping Hands“ // Urheber: Bara Cross

Eine meiner älteren Schülerinnen kam letzte Woche in den Unterricht mit dem Wunsch das Stück „One note samba“ von A.C. Jobim zu singen. Das Stück lebt von seinem synkopierten Sambarhythmus und erhält genau dadurch seinen gleichzeitig erdigen und schwebenden Charakter. Die Töne sind nicht schwierig zu erlernen und die Schülerin hatte auch schon recht fleißg mit verschiedenen Youtube-Aufnahmen zuhause geübt. Aber dann begann die Arbeit. Die Rhythmusarbeit um genau zu sein. Rhythmisches Gehen, Klatschen, Schwingen. Für meine Schülerin eine große Herausforderung und es kam schon nach kurzer Zeit die Frage, ob das Stück vielleicht nicht doch zu schwer sei, sie sei ja rhythmisch doch eher unerfahren und ob das unsere in den Stunden vorher begonnene, erfolgreiche Suche nach ihrer eigenen Stimme nicht eher bremsen würde. Ich sagte entschieden NEIN und hatte endlich das Thema für meinen neuen Blogbeitrag gefunden.

Rhythmusarbeit ist wichtig für den Klang

Ich versuche mit allen meinen Schülern früher oder später Rhythmusarbeit in den Unterricht einzubauen. Besonders das körperliche Empfinden von verschiedenen rhythmischen Ebenen fällt vielen schwer, ist aber als Training überaus wichtig und effektiv.

Rhythmusfähig zu werden heißt auch schwingungsfähig zu werden. Die Fähigkeit, Rhythmus und Puls körperlich zu empfinden, findet auf einer ähnlichen Ebene statt, wie Klangdurchlässigkeit. Die feinen, schnelleren Schwingungen des eigenen Stimmklangs können sich im Körper nur ausbreiten, wenn der Körper bereit ist, in Resonanz zu gehen. Die Schwingungen bei der Rhythmusarbeit sind auf den ersten Blick viel gröber, aber auch da braucht es die Fähigkeit des Körpers, gleichzeitig loszulassen und in Resonanz zu gehen.

Rhythmusübungen sind also immer auch eine Übung in Kontrollverlust bzw. entspannter Konzentration. Gleichzeit braucht es ein Mindestmaß an innerer Wachheit um z.B. einen fortlaufenden Rhythmus wirklich am Leben zu halten und innerlich weder zu verkrampfen noch abzuschweifen. Bei der Rhythmusarbeit TAKETINA, von der ich selber leider bisher nur rudimentäre Kenntnisse erwerben konnte, geht es genau darum: Sich dem Strom zu überlassen und auch zu lernen, sich in diesen Strom wieder einzufädeln, wenn man ihn verloren hat.

Meine rhythmische Basisübung

Wichtig für die Rhythmusarbeit ist mir, dass der ganze Körper involviert ist. Verschiedene rhythmische Ebenen laufen parallel und fordern den Körper in seiner Ganzheit heraus. Alleiniges Wippen mit dem Fuß oder reines Klatschen von Rhythmen hat seine Berechtigung, ist aber bei Weitem nicht so tiefenwirksam.

Meine Basisübung geht wie folgt: Die Füße laufend abwechselnd rechts und links auf eins und drei. Dabei kann ich laut oder leise zählen. Wichtig ist es, dass diese rhythmische Ebene immer stabil bleibt. Dazu kommen die Hände. Sie klatschen auf die Achtel. Gemeint ist nicht normales Klatschen, sondern eher ein rhythmisches An-einerander-Abklatschen der Hände, wie als wollte man sich beim Pizzabacken das Mehl von den Händen klopfen. Diese Bewegung ist relativ schnell und locker möglich. Zur Orientierung kann man sich eine Hand aussuchen und beobachten, wie sie erst abwärts und dann beim nächsten Schlag aufwärts „klatscht“.

Nun habe ich schon zwei parallellaufende rhythmische Ebenen. Leichter wird es, wenn dazu die Silben Ta-ke-ti-na gesprochen werden. Das Ta ist dabei immer mit den Füßen zusammen. Wer diese kleine Übung in verschiedenen Tempi locker beherrscht, kann unzählige Variationen erfinden. Sich währenddessen unterhalten ohne den Puls zu verlieren, den Rhythmus eines Liedes sprechen oder singen, verschiedene Silben (z.B. die Offbeats „ke“ und „na“) betonen, notierte Rhythmen vom Blatt sprechen oder auf Silben singen, sich darauf konzentrieren, dass der Rhythmus wirklich durch den ganzen Körper pulsiert usw.

Nicht viele verschiedene Dinge gleichzeitig – Alles ist eins

Diese sehr kleine Übung stellt für die allermeisten Menschen eine große bis sehr große Hürde dar. Oft höre ich den Satz: Das sind mir zu viele Dinge auf einmal. Aber genau das ist der Knackpunkt. Rhythmisches Bewegen auf verschiedenen Ebenen ist nicht „viele verschiedene Dinge gleichzeitig“, sondern eine einzige Sache. Sobald die Ebenen beginnen, wirklich mit einander in Beziehung zu treten, entsteht ein neues Ganzes und ein anderes Verständnis, das viel mehr Freiheit zulässt.

Und das ist beim Singen für mich exakt genauso. Singen und Bewegen sind ebenfalls nicht zwei Dinge. Auch nicht Text und Melodie. Alles geschieht aus ein und der selben Quelle heraus. Es geht weder darum, dieses und jenes zu tun, noch daran zu denken, irgendeine Technik zu beachten, aktiv zu interpretieren und dabei noch entspannt zu bleiben. Alles ist eins, dann beginnen die Einzelteile sich selbstregulativ zu organisieren und ein stimmiges Ganzes zu bilden. Rhythmusarbeit ist der perfekte Ort um genau für diese Ganzheit ein Gefühl zu entwickeln und diesen Zustand besser kennenzulernen um sich beim Singen ganz bewusst hineinfallen lassen zu können.

Wir bestehen aus Rhythmen

Neben der oben beschriebenen Basisübung kann man diese Art von rhythmischem Flow am Besten in der Improvisation erleben. Gemeinsames Laufen mit den Füßen kann auch hier helfen in einer Gruppe oder im Unterricht einen gemeinsamen Puls zu empfinden. Ein kleines Pattern bestehend aus wenig verschiedenen Tönen kann die Grundlage bilden, damit eine Improvisation oder ein Circle-Song bzw. ein Kreisgesang entstehen kann. Dabei wird das Pattern in einer Endlosschleife wiederholt, variiert oder kontrapunktiert, bis ein dichtes rhythmisch-melodisches Gebilde entsteht, in das auch unerfahrene Sänger sich leicht einfädeln können.

Eine schöne Möglichkeit ist es auch, auf einen eigenen inneren Rhythmus (z.B. eigener Puls, Rhythmus der eigenen Füße beim Gehen) zu lauschen und aus diesem eine Improvisation zu gestalten. Wir sind voll von inneren Rhythmen. Herz, Atem, Organe. In uns selbst laufen ständig verschiedene Rhythmen parallel ab. Diese Polyrhythmik auch im Außen wieder zu entdecken kann zu gesteigerter Lebendigkeit führen. Das Arbeiten mit Circle-Songs und rhythmischen Improvisationen kann regelrecht süchtig machen. Die ganzkörperliche Aktivität ist dabei elementar. Das archaische Grundmuster vom Erleben von gemeinschaftlichem Puls kann sehr tiefe Einblicke in das eigene Menschsein erlauben.

Positive Effekte der Rhythmusarbeit

Für das Anwenden der Rhythmusarbeit im Gesangsunterricht oder im Chor möchte ich noch einige positive Effekte ansprechen. Körperliches rhythmisches Empfinden – so groß die Hürde der ersten Schritte auch sein mag – führt beim Singen im Allgemeinen zu mehr innerer Sicherheit. Gerade Anfänger oder Chorsänger „schwimmen“ anfangs häufig nicht nur tonal, sondern vor allem auch rhythmisch. Kann die rhythmische Ebene über das körperliche Tun stabilisiert werden, stabilisiert sich in den meisten Fällen auch die stimmliche Seite.

Rhythmusarbeit ermöglicht außerdem die Entwicklung eines Grundgefühls von Dynamik. Spannung und Entspannung, Betonung und Unbetonung, Anschieben und Rollenlassen, Verdichtung und Zerfaserung, Beschleunigung und Innehalten, Tun und Lösen. Diese Wechsel sind für müheloses, genussvolles Singen (und auch Leben) elementar wichtig. Über das körperlich-hythmische Üben von Stücken können sich diese außerdem noch auf einer tieferen Ebene absetzen und der Sänger erhält somit mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum.

Auch Stücke, die keinen durchgängigen Puls haben oder in denen eine dehnbare Dynamik und Agogik vorliegt, profitieren von der Rhythmusarbeit. Wie sich Wellen im Meer oder auch unser Atem je nach Wetter- bzw. Stimmungslage mal beschleunigt, mal beruhigt, gibt es auch in solchen Stücken durchaus soetwas wie Puls. Diesen körperlich zu empfinden ist ebenso sinnvoll. Bin ich darin geübt, mich in durchgängige Rhythmen einzufädeln, kann ich auch ganz bewusst bremsen und aus dem „Rollen“ aussteigen.

Je genauer und selbstverständlicher ich mich körperlich in rhythmischen Zusammenhängen bewege, desto feiner kann ich auch die Unterschiedlichkeiten musikalisch-rhythmischer Metren empfinden. Das eine Stück läuft präzise wie ein Uhrwerk, ein anderes braucht ein „laidback“-Gefühl. Das eine Stück schwebt, das andere tanzt. Körperlich sind meine Empfindungen dabei jeweils völlig anders. Selbst wenn das Tempo gleich ist, fühlt sich „klebrig“ anders an als „spritzig“, „schwerfällig“ anders als „gelassen“.

Durch diese Arbeit kann der Sänger gleichzeitig Freiheit und Sicherheit und in jedem Fall neue Erzählebenen für sein Musizieren hinzugewinnen.

Pulsierende Stimmeinsichten und Mut zum Körperrhythmus wünscht

Anna Stijohann

Was ist eine schöne Stimme?

Die eigene Stimme ist persönlich. So persönlich, dass fast jeder von uns sich noch an einzelne Sätze aus der eigenen Kindheit oder Teenagerzeit erinnern kann. „Du hast aber eine schöne Stimme!“ „Ich finde, Du kannst nicht so schön Singen!“ „Du solltest lieber ein Instrument spielen lernen…“ Diese und andere Sätze prägen sich tief in unser Bewusstsein und beeinflussen oft noch Jahre später unser Verhältnis zur eigenen Stimme. Manche Menschen trauen sich aufgrund solcher Urteile gar nicht oder erst im späten Erwachsenenalter ihre Lust am Singen wieder aufzunehmen. Und selbst professionellen Sängern hängen unachtsam ausgesprochene Urteile und Geschmacksbekundungen manchmal lange nach und nähren immer wieder deren Zweifel.

Sätze die sitzen

Als Kind habe ich immer gerne gesungen. Alte Aufnahmen beweisen, mit welcher Leidenschaft und gleichzeitig abseits jeder Tonalität ich meine Lieder gesungen habe. Im Grundschulalter durfte ich bei Schulfesten oder im Krippenspiel solistisch auftreten. Doch mit dem Eintritt in die weiterführende Schule und die stimmliche Mutation, die zwar meine Singlust nicht bremsen konnte, aber durchaus für Verwirrung sorgte, kamen auch die Kommentare der Mitschüler. „Kannst Du eigentlich auch ganz normal singen?“ „Du bist zu laut!“ usw. Später trug man an mich heran, ob ich denn im Schulmusical nicht lieber Posaune in der Band spielen wollte, anstatt beim Vorsingen für die Hauptrollen mein Glück zu versuchen. So ging es weiter und mein sängerisches Selbstbewusstsein wurde kleiner und kleiner. Ich nahm Gesangsunterricht, denn der Gegenwind verstärkte meine Sehnsucht nach stimmlichem Ausdruck. Als ich mich auf die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vorbereitete, nahm meine Mutter mich ernsthaft beiseite und fragte, ob ich denn denken würde, dass das reichen könnte. „So von der Stimme her. Du bist doch eher so ein Mickey-Maus-Sopran.“ Ich bestand die Prüfung und hörte in meiner ersten Gesangsstunde: „Du hast aber auch Glück gehabt in der Aufnahmeprüfung.“

Ich singe, also bin ich

Die Stimme ist der Spiegel unserer Person. Der Wunsch, sich durch die eigene Stimme auszudrücken, gehört zu den absolut elementaren menschlichen Bedürfnissen. Vom Moment unserer Geburt transportiert die Stimme unsere Emotionen, ermöglicht Kommunikation mit uns selbst und anderen und ist gleichzeitig die ursprünglichste Form des Musizierens. Singen macht Freude, ist Therapie und für den kulturellen Zusammenhalt einer Gesellschaft immens wichtig.

Doch wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wir möchten in allem besser und erfolgreicher sein und tun kaum noch Dinge einfach aus dem Grund, weil wir sie gern tun. Wir werden bewertet und bewerten auch die Stimmen unserer Mitmenschen. „Ich habe keine so schöne Stimme!“ Diesen Satz höre ich manchmal von Menschen in der ersten Gesangstunde. Puh, was für ein Urteil über sich selbst.

Geschmack hin oder her

Natürlich ist es legitim, einen persönlichen Geschmack bezüglich einer Stimme zu haben. Wir finden auch nicht alle Menschen sympatisch und verstehen uns nicht mit jedem gleichermaßen gut. Manche Stimme klingt klar und mühelos, manche nicht. Manche scheint außergewöhnlich, manche passt besonders gut zu einer ganz bestimmten Stilistik. Mancher beherrscht sein Stimm-Handwerk geradezu kunstvoll, ein anderer hat Mühe, eine Melodie sauber nachzusingen oder einen längeren Ton auszuhalten.

Und trotzdem gibt es Momente, da geht uns eine Stimme besonders zu Herzen. Egal ob schön nach den gerade angesagten gesellschaftlichen Maßstäben oder nicht, manchmal trifft uns ein Ton oder eine Phrase so direkt und unvermittelt, dass wir eine Gänsehaut bekommen oder weinen müssen. Oder wir haben nach einem Konzert das Gefühl, ein bißchen in den Sänger verliebt zu sein, weil er uns für einige Momente erlaubt hat, wirklich etwas von ihm zu sehen.

Ganzheit ist Schönheit

Eine Stimme ist für mich immer dann schön, wenn sie in dem Moment wirklich die Person durchklingen lässt (per-sonare = durch-klingen). Dann ist die Stimme mit dem Menschen und dem Klang-Körper stimmig und eine Frage der Bewertung stellt sich nicht mehr. Wie ein besonders charismatischer Mensch steht diese Stimme für sich, erfährt ihren Wert aus sich selbst heraus.

Aber ist es möglich das überhaupt zu lernen? Hat nicht der eine das „gewisse Etwas“ und der andere nicht? Ich glaube diese Tür steht jedem offen. Und es gibt unzählige verschiedene Möglichkeiten, den Sänger dabei zu unterstützen. Orientieren wir uns an den Grundlagen der Persönlickeitsentwicklung nach C.G. Jung, so ist es das Ziel der inneren Entwicklung, immer mehr Anteile der eigenen Persönlichkeit zu integrieren und somit immer vollständiger zu werden. Die Bewusstseinsfelder, die im Schatten liegen, also noch unbewusst sind, sollen ans Licht kommen und den Mensch als Ganzes bereichern.

Für mich verhält es sich mit der Stimme genauso. Dabei sind Körper und Seele des Menschen gleichermaßen an der Stimmentwicklung beteiligt. Unerforschte Bereiche können erforscht werden. Stimmliche Anteile, die wir bewusst oder unbewusst ablehnen oder einfach noch nicht kennen, möchten integriert werden. Wir betreiben aktive Forschungsarbeit in uns selbst, anstatt uns an einem vorgegebenen Ideal oder stilistischem Geschmack zu orientieren. Die Ganzheit und damit die vollkommene Schönheit einer Stimme wird dabei niemals erreicht werden, bildet aber den Motor für eine stetige Weiterentwicklung.

Verantwortung als Gesangspädagogen

Egal ob wir mit Profis oder mit Laien arbeiten, mit Anfängern oder Fortgeschrittenen, wir sollten uns der Tragweite und der seelischen Komponente der Stimmarbeit bewusst sein. Natürlich gilt es, bei der Vorbereitung für Aufnahmeprüfungen oder der Entscheidung, ob ein Schüler das Singen zum Beruf machen kann oder nicht, eine ehrliche Einschätzung zu geben. Doch eine Bewertung ob jemand schön singt oder nicht, ob er es wert ist gehört zu werden, liegt für mich außerhalb meines Kompetenzbereiches. Ich sehe es als meine Aufgabe, die Menschen, die zu mir kommen, darin zu unterstützen, ihren ganz persönlichen Zugang zu ihrer Stimme zu finden und diese als echtes Mittel des Ausdrucks kennen und lieben zu lernen.

Im Laufe der Arbeit wird die Stimme immer freier und freier. Körperliche Hilfsspannungen können weichen, der Atemfluss wird immer organischer und der Sänger kann mit der Zeit immer mehr zu dem stehen, was er ist und wie er klingt. Die Stimme lernt, sich ihre Klangressourcen selbst aus dem perfekten Zusammenspiel von Körper und Atem zu holen und kann ihr eigenes Timbre mehr und mehr entfalten. Die Lust am Klingen und Entdecken spielt dabei eine wesentliche Rolle. Der Sänger muss nicht mehr gestalten und kontrollieren, sondern tritt beiseite und kann geschehen lassen.

Wenn jeder sein Eigenes findet, ist für alle Platz

In meinem eigenen Singen und auch in der Arbeit mit Schülern habe häufig das Gefühl, dass die Stimme durch diese Arbeit immer selbstverständlicher und auch ein stückweit unaufgeregter und harmloser wird. Wobei das nicht zu verwechseln ist mit Belanglosigkeit. Ich empfinde es als Gelassenheit. So wie ein gelassener Mensch, der mit beiden Beinen im Leben steht, handlungsfähiger ist, als jemand, der mit sich und der Welt hadert, so wird auch die Stimme ge-“lassen“.

Natürlich macht das auch Angst. Angst, zu wenig zu sein, Angst mit dem, was ich bin, nicht genug zu sein. Sich nicht genug anzustrengen, nicht hart genug zu arbeiten. Aber es ist auch gleichermaßen entlastend und erfüllend. Eine freie Stimme muss nicht ackern. Sie ist, wie eine Blume auf einem Feldweg, einfach nur da und erfreut sich ihrer selbst. Kommt jemand vorbei, nennt der Betrachter sie womöglich „schön“. Schön aus sich selbst heraus. Wohl proportioniert, strahlend, dynamisch und vielleicht von kräftiger Farbgebung. Jede Blume ist anders. Kommen viele Blumen zusammen, entsteht eine noch größere Schönheit, die durch die Vielfalt und das Zusammenkommen vieler Einzigartigkeiten entsteht. Auch unter Sängern tritt die sonst so häufig vorhandene Konkurrenz in der Hintergrund, wenn jeder sich auf die Suche nach seiner ganz eigenen Stimmschönheit macht. Schönheit, die durch die Freude am Tun, am Klang, am körperlichen Erleben und an der Musik entsteht.

Vor einigen Jahren sagte bei einem Meisterkurs ein namhafter Lehrer mit einem herrlich breiten amerikanischem Akzent zu mir: „Ich verstehe nicht genau, was Du mit Deiner Stimme machst. Es ist so „eigenartig“.“ Wunderbar! Und erst vor ein paar Wochen sagte mir nach einem Konzert mit Kinderliedern – unspektakulärer geht es wohl kaum – der Veranstalter, meine Stimme sei „sensationell“. Solche Sätze machen mich nicht eitel. Zum Glück. Ich schmunzel in mich hinein und gehe den begonnenen Weg weiter.

Ich wünsche viel Mut zur Eigenheit und vor allem Freude, Freude, Freude am Singen!

Anna Stijohann

Kontrollverlust – Ja Bitte!

Singen ist wie innerlich fliegen. Das sagte neulich eine meiner ältesten Schülerinnen. „Weil ich da so gar nichts mehr tun muss. Die Dinge ergeben sich von alleine.“ Was für ein beglückendes Gefühl. Am darauffolgenden Tag konnte ich in einer Chorzeitung die Kolumne einer Kollegin lesen, die beschrieb, wie wichtig und gleichermaßen schwierig und langwierig zu erlernen die sogenannte „Atemkontrolle“ sei. Harte Arbeit führe letztlich zum Erfolg. Dem möchte ich aus meiner tiefsten Überzeugung widersprechen und ein völlig unkontrolliertes Plädoyer halten für die Stimmfreiheit und den puren Singgenuss.

Singen ist wie Fahrradfahren

Singenlernen ist nicht linear. Stimmentwicklung braucht durchaus Disziplin und Durchhaltevermögen, aber die wirklich wichtigen Entwicklungsschritte geschehen meist unerwartet. Das erlebe ich bei mir selbst und auch bei meinen Schülern. Es ist wie beim Fahrradfahren. Kein Kind lernt Fahrradfahren durch kontinuierliche harte Arbeit. Das Kind probiert, lotet aus, riskiert, fällt, balanciert und irgendwann fährt es los. Natürlich ist man am Anfang noch nicht so flexibel. Die Fahrt ist noch störanfällig, aber je mehr ich fahre, desto sicherer werde ich. Bleibe ich mit beiden Beinen auf der Erde, werde ich nie die Lust und die Freude am Schwung erfahren. Ein ängstliches Kind braucht einen gut zuredenden Begleiter, ein forsches Kind vielleicht eine mahnende Stimme. Letztendlich lernt das Kind aber durch sein eigenes Tun und Erleben.

Eine andere Definition von Können

Das Ergebnis von Lernen ist Können! So sagte einst meine Lateinlehrerin Frau Dr. Brunnert. Ja und Nein. Ich möchte Singen „können“. Dem stimme ich zu. Wer würde denn bestreiten, dass es Menschen gibt, die besser oder sicherer Radfahren als andere? Manche können sogar freihändig fahren oder Kunststücke vollführen. Und Singen muss – zumindest im professionellen Bereich und zum Wohle aller Chorleiter auch in einem Wald- und Wiesenchor – auch abrufbar sein. Wie kann das zusammen gehen mit einer spielerischen Herangehensweise statt harter Arbeit? Mit Lernen in einem Umfeld ohne Kontrolle und Druck? Ohne Bewertung und Beurteilung?

Wer einmal Fahrradfahren kann, wird es nicht wieder verlernen. Wenn ich lange Zeit nicht fahre, bauen sich Muskeln ab. Keine Frage. Aber die Art der innerlichen Speicherung ist beim Singen und Fahrradfahren im Idealfall die Gleiche. Wir überlassen dem Körper und dem blitzschnellen Zusammenspiel unserer Reflexe die „Kontrolle“. Aber es ist eine andere Art der Kontrolle; vielleicht ist es treffender sie als Balance zu bezeichnen. Eine Balance, die wir immer besser kennenlernen und uns ihrer nach und nach so sicher werden, dass wir sie bis an die Grenzen ausreizen können. So kommen wir in den Genuss von Schwung und nehmen gekonnt Fahrt auf.

Warum tut das nicht einfach jeder?

Diese Frage stelle ich mir in letzter Zeit sehr häufig. Aber der Preis für die Freiheit, die ich neu hinzugewinnen kann, ist die Sicherheit. Meine ältere Schülerin würde antworten, sie hätte jetzt in ihrem Alter doch nichts mehr zu verlieren. Und die Freude, die ihr das Singen macht, wenn es leicht und wie von selbst geht, sei das Risiko auf jeden Fall wert.

Aber viele andere Menschen diesseits und jenseits der 60 haben Angst vor diesem Kontrollverlust. Die Stimme tut plötzlich Dinge, die mir nicht vertraut sind. Meine sonst so sichere Intonation wackelt, weil sich die Stimme neu sortieren möchte. Eine einfühlsame Begleitperson ist dann wichtig, damit sich ein gesundes Vertrauen in die Selbstorganisationskräfte entwickeln kann. Je öfter der Schüler durch einen Destabilisierungsprozess geht, desto weniger ängstlich blickt er dem entgegen. Ich selber freue mich sogar schon auf diese Situationen. Wenn das Alte ein paar Risse bekommt und ich noch nicht weiß, was und wie es sich neu zeigen will, dann bin ich vorfreudig auf ein Abenteuer, das am Ende zu einer neuen Stimm- und Singqualität führt.

Meistens wackelt nicht nur die Stimme

Unsere eigene Stimme hat immer auch mit unserm Selbstbild zu tun. Bringen wir die Stimme ins Wanken und verschaffen ihr mehr Freiheit zu Klingen, bringen wir uns immer auch persönlich in Gefahr. Dann fließen auch schonmal Tränen der Rührung, des Trotzes oder einfach aus Überraschung vor der eigenen Courage. Innere Offenheit und Verletzlichkeit gehen einher mit einem ganz anderen Stimmerleben. Und auch ich als Lehrerin habe meine wackligen Momente. Wenn jemand im Unterricht weint, der gute 30 Jahre älter ist als ich, werde auch ich innerlich weich. Oder ich freue mich wie verrückt, wenn die „Kiste“ sich endlich öffnet. Ein freier Klang macht nicht nur den Sänger, sondern auch mich glücklich. Ich bin manchmal regelrecht begeistert, wenn Menschen sich trauen, ihre aktive Kontrolle aufzugeben.

Wie kann ich es lernen, die aktive Kontrolle beim Singen loszulassen?

Verschiedene Lern- und Stimmkonzepte beschäftigen sich mit diesem Thema. Ich empfehle das – eigentlich von einem Tennistrainer entwickelte – Konzept des „Inner Game“. In dem Buch „Inner Game of Music“ gibt es viele konkrete Tipps und Übungen, um die aktive Kontrolle gegen alternative Lernstrategien auszutauschen und somit nachhaltiger und gleichsam lustvoller und spielerischer zu lernen. Eine der Voraussetzungen damit das möglich ist, ist die „entspannte Konzentration“. Diese stellt sich immer dann ein, wenn wir neugierig erleben statt zu manipulieren. Wir können uns auf unsere Wahrnehmungen konzentrieren. Das Wie erleben, statt das Was beeinflussen zu wollen. Hören, Sehen, Fühlen.

Wenn uns etwas interessiert, wird automatisch unsere Wachsamkeit im Augenblick erhöht und wir lernen schnell und konzentriert. Dieser Zustand stellt sich ganz von selber ein. Die Autoren GREEN und GALLWEY schlagen viele verschiedene Techniken vor um die eigenen inneren Kontrollzwänge zu überwinden und stattdessen selbstregulative Ressourcen anzuzapfen. Sie heißen „Rollenspiele“, „Den Körper ausführen lassen“, „Etwas Vertrautes tun“, „die Umgebung miteinbeziehen“ oder „Etwas Lächerliches Tun“. Wenn ein Schüler bei den verrücktesten Übungen plötzlich sagt: „Ich kann doch nicht alles auf einmal. Auf einem Bein stehen, meinen Brustkorb bewegen und spüren, ob die Worte eher von meiner Ober- oder Unterlippe geformt werden…“ berufe ich mich auf mein persönliches Lieblingsprinzip „Kontrollverlust durch Überforderung“. Meist mündet dieses Gespräch in ausgelassenes Gelächter und das letzte bisschen Festhalten kann sich auflösen.

Atembalance statt Atemkontrolle

Zuletzt möchte ich kurz auf das ganz oben angesprochene Phänomen Atemkontrolle eingehen. Diejenigen Stimmen, die wirklich frei klingen, bedienen sich – meiner Erfahrung nach – keiner aktiven Atemkontrolle. Freie Stimmen nutzen die Dynamik ihres eigenen Atemrhythmus und wissen dessen Schwung exzellent zu nutzen. Sobald wir in Kontakt kommen mit unserem ganz eigenen individuellen Atemrhythmus entsteht eine Leichtigkeit, die nur durch eine kunstvolle Balance, nicht aber über aktive Muskelmanipulation und Kontrolle geschehen kann. Unser Körper weiß sich auf subtilste Art und Weise auszudrücken, wenn wir ihn lassen. Das Lernen erscheint im Zuge dessen fast wie ein Wiedererkennen. Der Körper beginnt nach dem leichtesten Weg zu suchen, sobald er einmal einen klaren Impuls in diese Richtung erfahren hat. Es ist ein innerliches Suchen, bei dem der Lernende meist genau weiß, wann er gefunden hat, was er suchte. Nicht der Lehrer bestimmt das, was zu Lernen und damit anschließend zu Können sei. Der Schüler erlebt und gestaltet den Lernprozess und die Entstehung des Neuen aktiv durch seine wache Aufmerksamkeit. Und wird am Ende fündig: Ich kann fliegen!

Eine Woche mit mehr fliegen und weniger harter Arbeit wünscht,

Anna Stijohann

Mit vier Ohren singen

Anknüpfend an meinen Artikel von letzter Woche, möchte ich nochmal auf meinen „Ohren auf!“ Workshop zurückkommen. Wenn wir kommunizieren – und das tun wir selbstverständlich, wenn wir singen – treten wir immer auf unterschiedlichen Ebenen in Kontakt. Hier möchte ich das – vor langer Zeit von meiner ehemaligen Lehrerin Alexandra Naumann in einer Projektwoche im Rahmen meines Studiums vorgestellte – Modell „Mit vier Ohren singen“ beschreiben. Ursprünglich wurde diese Idee unter dem Titel „Das Kommunikationsquadrat“ vom Kommunikationsforscher FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN entwickelt und ausgearbeitet. Das Modell eignet sich hervorragend, um verschiedene Aspekte des Singens – allein unter der Dusche, in einer Gruppe, auf der Bühne oder in einem Chor – aber auch in der gesangspädagogischen Arbeit zu konkretisieren und miteinander in Beziehung zu setzen.

Die Ampel ist rot
Wir stellen uns ein Ehepaar vor, welches in einem Auto fährt. Nehmen wir an, die Frau sitzt am Steuer und ihr Partner sitzt auf dem Beifahrersitz. Er sagt:“ Die Ampel ist rot!“ Was können wir allein aus diesem kleinen Sätzchen über die Situation erfahren? Zum Einen geht es um den puren Sachinhalt der Aussage. Die Ampel ist rot. Die obere, rot gefärbte Lampe der Ampelanlage leuchtet.

Doch nach SCHULZ VON THUN gibt es drei weitere Kommunikatonsebenen. Zunächst den Appell. „Die Ampel ist rot. Halte an!“ ein Aufruf, eine Aufforderung geht vom Sender an den Empfänger. Unser Beifahrer kann den Satz aber auch auf der Beziehungsebene meinen. Vielleicht als Versuch der Kontaktaufnahme nach einer Redepause, aus liebevoller Zuwendung, aber auch als Beschimpfung oder aus Machtgehabe. „Hast Du keine Augen im Kopf?“ „Wir sind doch schon spät dran!“ „Weil Du das Auto abgewürgt hast, stehen wir immer noch hier.“ Aber auch: „Ich kann das von meinem Standpunkt aus besser sehen als Du, also helfe ich Dir.“ Durch die jeweilige Betonung, den Stimmklang, die Sprachmelodie und die enthaltene emotionale Information, kann der gleiche Satz ganz unterschiedliche Informationen auf der Beziehungsebene übertragen.
Ebenso erzählt die Art und Weise, wie er diesen Satz sagt, natürlich auch über ihn selbst. „Ich bin genervt.“, „Ich habe Angst.“, „Ich fühle mich gehetzt.“ oder „Ich bin müde.“. SCHULZ VON THUN nennt diese Ebene den Selbstoffenbahrungsaspekt.

Störung der Kommunikation
In jeder Kommunikation werden sowohl vom Sender, als auch vom Empfänger Informationen auf allen diesen vier Ebenen ausgesandt, beziehungweise gehört. Kommunikationsprobleme treten immer dann auf, wenn der Sender auf der einen Ebene spricht und der Empfänger auf einem anderen Ohr hört oder aber einer der Kommunikationspartner eine der Ebenen nicht wahrnimmt und somit Information unterwegs verloren geht. Wenn unser Beifahrer eigentlich ausdrücken möchte „Ich bin müde.“, seine Partnerin aber auf dem Beziehungsohr hört, wird sie sich vielleicht ganz ohne Grund angegriffen fühlen.

Wie kann dieses Modell nun auf das Singen übertragen werden? Welche Apekte des Singens werden auf welchem Ohr gehört, wie kann der Sender seine Klarheit auf der einen oder anderen Ebene verstärken?

Der Sänger hat vier Ohren
Als Sachinhalt beim Singen, betrachte ich die äußere Form dessen, was gesungen wird. Welche Tonhöhe wird auf welchem Vokal gesungen, welche Silbe, welches Wort findet wann statt? Ist der Ton laut oder leise, lang oder kurz? Sauber intoniert oder leicht schräg? In welchem rhythmischen Ablauf finden die Töne statt? Welche Akkorde ergeben sich, wenn mehrere Stimmen zusammen singen? Welche Formteile hat das Lied? Usw.
Sehr häufig beschäftigen wir uns intensiv mit dieser Ebene. Wir möchten richtig und schön singen, rhythmisch klar sein und die zweite Strophe mit dem richtigen Text nach der ersten singen. Doch Singen ist so viel mehr als das.

Singen ist Appell. Der Chor möchte die Menschen zum Lachen oder Weinen einladen, der Sänger einer Partyband, möchte dass die Menschen mitklatschen oder tanzen. Die klassische Liedsängerin möchte innere Bilder in den Menschen hervorrufen, das Orchester möchte nach dem kraftvollen Schlussakkord mit Applaus belohnt werden.

Gleichwohl ist Singen immer auch Selbstoffenbahrung. Wir Sänger möchten uns ausdrücken, uns öffnen. Mal als der, der wir wirklich sind, mal in einer Rolle. Manchmal möchten wir uns auch nicht zeigen und auch das offenbahrt viel von uns selbst. „Ich bin aufgeregt. Ich habe Lampenfieber. Das Singen macht mir Freude. Ich leide mit der Figur. Das Lied berührt mich. Ich überspiele meine Unsicherheit mit Lautheit oder unverfänglichen Klischees.“ Das sind nur einige wenige von vielen Aussagen, die der Zuhörer auf seinem Selbstoffenbahrungsohr empfangen kann.

Und dann gibt es noch die Beziehungsebene. Der Sänger baut eine Beziehung auf, indem er in Resonanz geht. Mit seinen Mitmusikern, mit dem Raum, mit dem Publikum. Diese Ebene ist für mich am schwierigsten konkret zu erfassen, aber sie scheint mir gleichzeitig die Wichtigste zu sein. Wir möchten, dass unsere Kommunikation, unser Singen ankommt. Musikmachen lebt von der Resonanz. In den musikalischen Sternstunden scheinen Musiker und Zuhörer zu verschmelzen und treten in einen Austausch. Öffnen die Zuhörer (oder auch die Mitmusiker) ihr Beziehungsohr, kann der Klang ankommen. Treten die Chormitglieder miteinander in Resonanz, kann Zusammenklang gelingen. Tritt der Solosänger wirklich in Resonanz mit dem Raum, in dem er singt, wird sich die Dynamik dem Raum angemessen entwickeln.

Singen ist mehr als Sachinhalt
Als kleines Experiment empfehle ich, ein Lied „mit verschiedenen Ohren“ zu singen. So wird zum Beispiel im Chor sehr schnell deutlich, auf welcher Ebene noch Potential ungenutzt ist. Singen und Hören wir auf dem Sachinhaltsohr, geht es vor allem um die Frage „Richtig oder Falsch?“, „Schön oder nicht schön?“. Natürlich möchte ich als Chorleiterin, dass mein Chor die korrekten Töne singt. Aber ich bin mir auch bewusst, dass die Arbeit auf dieser Ebene schnell zu Stress und Frustration führen kann, weil es häufig um eine Bewertung geht. Die neutrale Aussage, der Tenor habe da ein fis und kein f, mag manchem helfen und in mancher Situation richtig und wichtig sein. Sie führt aber in den wenigsten Fällen dazu, dass eine lebendigere Musik entsteht. Wenn Menschen damit beschäftigt sind, Dinge richtig zu machen und das zu erfüllen, was von Ihnen erwartet wird, werden sie häufig unflexibel. Sie möchten die Dinge unter Kontrolle bringen und können somit nicht mehr auf ihre Intuition und stimmliche und musikalische Selbstregulationsmechanismen zurückgreifen.

Ich will eure Hände sehn!
Singen wir ein Lied mit Betonung auf dem Appellaspekt, klingt es ganz anders, als wenn wir uns auf den Sachinhalt konzentrieren. Vom Frontsänger einer Tanzband wird klar erwartet, dass er implizit oder explizit die Zuhörer auffordert, sich zu bewegen. Doch auch im Chor ist es spannend zu sehen, was geschieht, wenn ein Musikstück plötzlich mit der Betonung auf dem Appellaspekt gesungen wird. Wird nicht näher erwähnt, welcher Art die Aufforderung sein soll, gibt es in der Gruppe Missverständnisse. Der eine möchte zum Mitklatschen auffordern, der andere lieber die volle Aufmerksamkeit des Lauschens von den Zuhörern einfordern. Hier ist es Aufgabe des Chorleiters, auf dieser Ebene Klarheit zu schaffen. Das gehört genauso zum Stück, wie die richtigen Töne mit dem richtigen Text an richtiger Stelle.

Selbstoffenbahrung hat mit Offenheit zu tun
Der Solosänger möchte häufig vor allem das Selbstoffenbarungsohr seiner Hörerschaft erreichen. Er möchte etwas von sich zeigen. Sich selbst mitteilen, den emotionalen Inhalt der Musik transportieren. Gelingt es ihm, seine eigene Lust und Freude am Tun zu zeigen, ist schonmal viel gewonnen. Das kann, vor allem, wenn viele Menschen zusammenkommen, sehr mitreißend sein. Ein Gospelchor, der die kraftvolle Energie der Musik wirklich auskostet, kann dabei genauso begeistern, wie ein Jazzensemble, dass die harmonische Komplexität der Stücke und die damit verbundenen Spannungen klar erlebt. Schwierig wird es meiner Meinung nach immer dann, wenn verschiedene gegensätzliche Informationen dieser Ebene sich überlagern. Wollen und Lampenfieber, Schüchternheit und Extrovertiertheit oder eine innere Erwartung, wie etwas zu sein hat und der Wunsch nach Authentizität.

Egal was sich offenbahrt, für mich ist es immer am schönsten, wenn es echt und stimmig ist. Möchte ich als Sänger etwas ganz bestimmtes offenbaren, ist es meine Aufgabe, dieses Etwas wirklich in mir zu finden und auch festzustellen, was den freien Ausdruck dessen vielleicht noch behindert. Möchte ich als Chorleiter meinen Chor aus der Reserve locken, muss ich geschickt vorgehen um die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Sonst entsteht z.B. statt einer echten Begeisterung schnell eine forcierte Lautheit oder statt einer wirklich gemeinsam empfundenen Innigkeit eine zähe, leisere aber nicht besonders präsente Chorsoße.

Beziehung hält die Ebenen zusammen
In meiner Arbeit wird vor allem die Kommunikation auf dem Beziehungsohr immer wichtiger. Ohne Beziehung laufen der Appell und die Selbstoffenbahrung ins Leere. Ich lasse häufig meinen Chor ganz bewusst beim Singen eines Stückes Beziehung aufnehmen. Zu zweit Rücken an Rücken, lauschend in den Raum, oder durch Übungen, die die Schwarmintelligenz herausfordern.
Zu meinen Lieblingsübungen gehört es, dass der Chor im Kreis sitzt und immer zwei Menschen sich anschauen, dann aufstehen und ihren Platz tauschen. Immer nur ein Paar soll diese Aktion durchführen, niemals stehen mehr als zwei Menschen gleichzeitig.
Aber auch harmonisches Hören im Chor ist Beziehung. Anstatt einzelne Stimmen wieder und wieder linear zu üben, kann ich schon recht früh zwei Stimmen zusammen singen lassen, damit die Sänger lernen, sich am Zusammenklang zu orientieren.
Allein die Aufforderung an den Chor oder die Musiker, mit denen ich als Solist zusammenarbeite, die eigene Aufmerksamkeit auf die Beziehung zu lenken, kann einiges Bewirken.

Im Idealfall schaffe ich es, alle vier Ohren meiner Zuhörer zu erreichen. Die Freude am Tun und an der Gemeinschaft, sowohl im Chor, als auch mit den Mitmusikern oder mit dem Publikum, kann dabei in vielen Situationen ohr- und herzöffnend sein. In diesem Moment entsteht eine Kommunikation, die keiner Worte bedarf und die jenseits aller Bewertung oder Konkurrenz ist. Letztendlich geht es um echten, aufrichtigen Kontakt. Dann macht Singen besonders froh!

Eine Woche mit offenen Ohren wünscht,

Anna Stijohann

Ohren auf!

Die Verbindung zwischen Ohr und Stimme fasziniert und beschäftigt mich bereits seit meinem Studium und deswegen möchte ich in diesem Beitrag ein wenig davon berichten. Am vergangenen Wochenende waren fünf Damen zwischen 15 und 65 Jahren zu einem dreistündigen Workshop zum Thema „Ohren auf!“ ins STIMMSINN gekommen. Es ging ums Lauschen – mit den Ohren, mit den Händen, mit dem ganzen Körper. Lauschen nach innen und außen, lauschen auf mich und die anderen, und als Konsequenz auf das, was mit der Stimme passiert, wenn wir beginnen unsere Ohren zu öffnen.

Aktives Lauschen
Wie klingt meine Stimme? Schon wenn wir sprechen, lohnt es sich aufmerksam hinzuhören. Gerade wenn mehrere Menschen in einem Raum sprechen, wird deutlich: Jede Stimme ist anders. Jede Stimme hat ein anderes Timbre, hat ihre Ecken und Kanten, ihre Sanftheit oder ihre Durchschlagskraft. Wenn wir es schaffen ganz neutral und ohne Bewertung auf unsere Sprechstimme zu lauschen während wir sprechen, klingen wir anders. Die Atmosphäre im Raum verändert sich, unsere eigene Präsenz verändert sich und wir nehmen auch die Stimmen der anderen Menschen anders wahr.

Bewegen wir uns in einem Raum und legen nacheinander unsere Aufmerksamkeit eine Weile auf das Sehen, dann aufs Hören und dann auf unsere innere Körperwahrnehmung wird sofort klar, dass aufmerksames Lauschen mit Kontakt zu tun hat. Lauschen schafft die Verbindung zwischen innen und außen. Wir können nur aufmerksam zuhören, wenn wir auch mit uns selbst in Kontakt bleiben. Wenn wir uns lauschend in einem Raum bewegen, gehen wir anders, als wenn unsere Konzentration auf dem Sehen liegt. Wenn die Ohren sich öffnen, organisieren sich Atem und Stimme anders.

Dem Klang des Atems lauschen
Neben dem Öffnen der Ohren für den ganzen Raum, ist es auch höchstspannend, nach innen zu lauschen. Die Grenze zwischen Hören und kinästhetischer Wahrnehmung verschwimmt und ich kann manchmal selbst kaum unterscheiden, ob ich Vibrationen spüre oder Klänge übers Ohr wahrnehme.

Die Bewegung des eigenen Atems wahrzunehmen, seinen Weg zu verfolgen von der Nasenspitze durch den Nasenrachenraum bis hinunter in die Lunge ist ein wenig, wie dem Wind zuzuhören. Erlaube ich dem Atem „aus Versehen“ an den Stimmlippen vorbei zu streichen, wird dieser lautlose Hauch plötzlich hörbar. Als Reibelaut oder als zarter, müheloser und völlig ungeformter Klang. Halte ich mir zudem noch die Ohren zu, so kann ich ganz und gar versinken im inneren Lauschen auf den Klang meines Atems. Ich nehme die Resonanz der Töne im Kopf wahr und wenn ich genau hinlausche, gibt es unterschiedlichste Klanganteile zu hören. Den Grundton, Obertöne und auch Geräuschanteile. Das Spiel mit Konsonaten und Klingern kann ebenso spannend sein, wie der Wechsel verschiedener Vokale und Tonhöhen.

Das Innen nach Außen bringen
Öffne ich dann nach und nach die Ohren, bleibe aber mit meiner Konzentration im inneren Lauschen, schaffe ich eine Verbindung zwischen der Intimität des Innenraums und der zusätzlichen Resonanzmöglichkeit des Außenraums. Wie klingen meine ganz persönlichen inneren Töne im Raum? Kann und will ich diese ungeformten Klänge teilen? Sind sie mir „schön genug“? Kann ich die Intensität und/oder Verwirrung, die möglicherweise entsteht, aushalten? Kann ich mit anderen Stimmen in Beziehung treten ohne meinen Innenkontakt zu verlieren?

Eine weitere, etwas handfestere Möglichkeit in Kontakt zu bleiben, ist das „Lauschen mit den Händen“. Unser Körper ist Resonanzkörper und dementsprechend schwingt unser ganzes Gewebe. Sich einmal wirklich ausgiebig Zeit zu nehmen, die feinen Vibrationen der verschiedenen Vokale zu ertasten, ist äußerst meditativ. Wie weit reicht das „Gekribbel“? Wo spüre ich welchen Vokal in welcher Tonhöhe? Was unterscheidet ein [a] von einem [i] von einem [e] von einem [o]? Verändert sich die Intensität des Klangs durch den Kontakt meiner Hände? Kann ich womöglich durch das Tasten die Vibrationen noch ausbreiten?
Ton ist Schwingung und auf diese Weise als feine Bewegung im Resonanzkörper „greif“bar. Am Brustkorb, am Hals, im Gesicht, auf und im Schädel und bis in die Arme und Hände sind die Vibrationen auch noch eine Weile nachdem die Töne verklungen sind, deutlich spürbar. Das Gefühl, wirklich durch und durch zu klingen kann auf diese Weise intensivst ausgekostet werden und sich möglicherweise auch beim Singen von (einfachen) Liedern wieder einstellen.

In Resonanz gehen
Insgesamt ist das Gefühl in Resonanz gehen zu können eine Art Verstärker für das Singen. Jeder kennt das Gefühl, in einem akustisch total trockenen Raum singen zu müssen. Schnell beginnt man aus dem Wunsch heraus gehört zu werden und der Angst nicht laut genug zu sein zu drücken und zu schieben. Ganz anders ist das in einem Raum, dessen Akustik das Singen trägt. Ich brauche den Klang nicht zu produzieren oder mich anzustrengen. Ich kann in Resonanz gehen und mitschwimmen. Mit einer sehr kleinen, aber wirkungsvollen Übung kann man sich das zunutze machen. Man braucht dazu nur einen aufgeblasenen Luftballon.

Ich halte den Ballon mit beiden Händen mit ein wenig Abstand vor mein Gesicht. Wenn ich nun spreche oder singe, kann ich an meinen Handflächen spüren, wie der Ballon in Resonanz geht. Er vibriert kräftig mit. Auf dem Vokal [u] ist es am klarsten zu spüren. Hohe Töne vibrieren anders als tiefe. Ganz Phrasen oder Lieder lassen sich gegen den Ballon singen. Und am spannendsten ist natürlich, was übrig bleibt, wenn man danach ohne Ballon singt. Ich kann diese Übung auch für den Chor nur empfehlen. Der Zusammenklang der Stimmen verändert sich und vor allem diejenigen Chormitglieder, die zum „Überschreien“ und scharfen Klangfarben neigen, haben durch die direkte Klangrückmeldung des Ballons eine Chance ihre Stimmbalance wiederzufinden. Natürlich sorgen bunte Ballons in der Chorprobe außerdem für gute Laune und Spiel-/Singfreude…

Lauschen auf das, was da ist
Wir sind ständig von Geräuschen umgeben. In der Stadt sind es andere Geräusche als auf dem Land, in Gebäuden dringen andere Klänge an unsere Ohren als auf der Straße. Anstatt unsere Umgebungsgeräusche als störend zu empfinden, können wir uns einmal ganz darauf konzentrieren. Das Knarzen der Holzdielen, ein tropfender Wasserhahn, vorbeifahrende Autos, Kinderlachen, das Gemurmel der Nachbarn. Das alle bietet ein wunderbares Spielfeld, um wirklich eine Weile intensiv zu lauschen. Wenn ich es schaffe, die Geräusche wie ein Musikstück wahrzunehmen – mit wiederkehrenden Themen und Instrumenten, überraschend oder gleichförmig und in verschiedenen dynamischen Abstufungen – fühle ich mich vielleicht eingeladen, mit der Stimme einzusteigen.(vgl. auch Losgehen mit dem, was ist)

Und sollte es wirklich einmal so still sein, dass wir glauben nichts zu hören, können wir unseren eigenen Puls ertasten. Zu welchen Klängen und Rhythmen inspiriert uns die „Musik“, die uns am Leben hält? Als Abschlussimprovisation meines kleinen „Ohren auf!“-Workshops war das auf jeden Fall ein Highlight des Tages.

Es ist schon alles da. Nichts muss produziert werden. Es reicht, die Ohren zu öffnen.

Eine klangreiche Woche wünscht,

Anna Stijohann

Was soll der Geiz?

Nein, in diesem Artikel soll es nicht um die den Niedergang der Kulturlandschaft oder die durchaus nicht immer üppige Bezahlung von uns Künstlern und Musikern gehen. Darüber sollen andere schreiben. Dennoch ist mir in den letzten Wochen immer wieder in verschiedensten Zusammenhängen das Thema „Geiz“ begegnet. Deswegen soll dieser Blogbeitrag ein Plädoyer für die Großzügigkeit sein. Großzügigkeit mit uns und unserer Stimme, Großzügigkeit mit Kollegen und Schülern und Großzügigkeit im musikalischen Gestalten und Erleben. Ich liebe das Gefühl, beim Singen und im Leben wirklich „aus dem Vollen zu schöpfen“. Klänge, Sensationen, Reibungen, Musik oder Bewegungen intensivst auszukosten und sich dadurch lebendig und erfüllt zu fühlen. Wie wunderbar, wenn man es schafft, dieses Gefühl an andere Menschen weiterzugeben und es zu teilen.

Dankbarkeit und Anerkennung
In den Ferien hatte ich mich mit einer Kollegin getroffen um uns über unser Unterrichten und auch das eigene Singen auszutauschen. Die Zeit verging wie im Fluge und allerhand Übungen und Tipps wurden ausprobiert. Nach etwa zwei Wochen klingelte plötzlich mein Telefon. Eben jene Kollegin rief mich an um sich nochmal bei mir zu bedanken. Meine Tipps und die kleinen Übungen, die ich mit ihr gemacht hatte, hatten sich für sie als so wertvoll herausgestellt, dass sie sich überschwänglich und äußerst freudig bei mir bedankte. Wie großartig es sich anfühlte, dass ihr Dank und ihre Begeisterung direkt zu mir zurückkamen! Auch ich erzählte ihr von meinen Erlebnissen mit ihren Ideen, vor allem im Chor, und dankte ihr für den wundervollen Austausch. Nachdem wir aufgelegt hatten war ich noch eine ganze Weile sehr erfüllt und beglückt von dieser gegenseitigen Welle an Dankbarkeit und mir drängte sich die Frage auf, warum wir häufig so geizen mit gegenseitiger Anerkennung und Dank.

Warum sollte ich?
Gerade im Kontakt mit Kollegen habe ich es schon öfter erlebt, dass man sich kritisch beäugt und manche Begegnung nach außen zwar freundlich, aber doch von Konkurrenz geprägt ist. Geht es um Austausch ist mancher Kollege und manche Kollegin entweder zurückhaltend, weil er seine „besten Tricks“ nicht preisgeben möchte, oder zieht „dermaßen vom Leder“, dass am Ende des Gesprächs nicht der Informationsaustausch und die gegenseitige Hilfe, sondern vor allem das aufgeblasene Ego des Kollegen im Mittelpunkt steht.

Natürlich nehme ich mich selbst da nicht aus, doch ich versuche mich stets zu erinnern, dass kollegialer Austausch einen unfassbar großen Pool an Wissen und neuen Inspirationen mit sich bringt. Sich gegenseitig zu unterstützen und bereitwillig und großzügig Ideen miteinander zu teilen ist in jedem Fall gut für alle.

Mein lockeres Treffen mit der oben genannten Kollegin hat eine riesige Welle an neuer Bewegung mit sich gebracht. Wenn wir, egal in welchem Zusammenhang, miteinander und mit uns selbst geizig sind, kann solch eine Welle nicht entstehen. Alles bleibt an seinem Platz, Neues kann nicht entstehen.

Wir leben in einer geizigen Gesellschaft
Erst kürzlich erschien in der Kundenzeitschrift eines Drogeriemarktes ein Artikel mit dem Titel „Der Geiz des Herzens“. Auch die Autorin MIRNA FUNK sagt: „Wir leben in einer geizigen Gesellschaft.“ Wir sind geizig mit anderen, aber vor allem auch mit uns selbst. Wir geizen mit Intensität. Wir bewegen uns an der Oberfläche und sind viel zu selten bereit, das was darunter liegt, zu teilen, ja sogar uns selbst zu erlauben. Dabei ist doch gerade die Intensität unserer Gefühle, zwischenmenschlichen Kontakts, guter Musik oder durchtanzter Nächte das, was das Leben lebenswert macht. Geiz hinterlässt in uns stets das Gefühl eines Mangels. Gestatten wir uns dagegen Großzügigkeit, empfinden wir Wohlstand und inneren Reichtum.

Aber warum fällt es uns trotzdem so schwer, wirklich aus dem Vollen zu schöpfen. Die Dinge, das Leben, das Singen, das Miteinander auszukosten und zu schmecken, bis wir sie ganz und gar durchdringen und wir selber vollkommen durchdrungen sind?

Mir scheinen vor allem zwei Gründe plausibel.

Wir wollen Rendite
Wir haben verlernt, Dinge einfach zu tun, weil wir sie tun wollen. Wenn Kinder ein Spiel spielen, spielen sie vor allem, weil sie Freude am Spiel an sich haben. Sie gehen voll auf in dem was sie tun. Kein Kind macht sich darüber Gedanken, welchen Lernerfolg es bei der Beschäftigung mit einem bestimmten Spielzeug wohl erzielt. Kinder erleben. Sie er-leben sich ihre Welt und lernen und erfahren dabei unendlich viel über die Zusammenhänge und sich selbst.

Wir Erwachsene tun die allermeisten Dinge – auch beim Singen und Singen-lernen – ergebnisorientiert. Wir tun etwas, um am Ende etwas zu haben, zu können, zu wissen oder zu erreichen. Die Philosophin NATALIE KNAPP nennt das „Rendite-Denken“. Wir denken immer über das nach, was uns am Ende unter dem Strich übrig bleibt. Kein Wunder, dass wir geizig werden. Wir sparen für schlechte Zeiten und wollen uns alle Optionen offen halten. Doch im Leben, wie im Singen oder Musizieren, gelten andere Gesetze als an den Finanzmärkten. Es lohnt sich, großzügig zu sein. Wer aus dem Vollen schöpft, gewinnt an Lebensfreude und -qualität.

Wir haben Angst
Der zweite Grund, warum wir so geizig sind, ist Angst. Wir haben Angst uns zu zeigen und Angst unsere eigene und andererleuts Intensität auszuhalten. Stattdessen ist uns alles peinlich. Ausufernd tanzen ist peinlich, schief singen ist peinlich, laut singen ist peinlich, lachen oder weinen auf offener Straße ist peinlich. Wir sind Könige des Fremdschämens und vermeiden es tunlichst, im Alltag die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen auf uns zu ziehen. Wir beschneiden uns in unserer eigenen Freiheit und bezahlen diesen Geiz mit dem Verlust an Lebensfreude und Intensität. Wir sind geizig mit Anerkennung, Komplimenten und Toleranz anderen Gegenüber und bringen uns damit um die Möglichkeit echter zwischenmenschlicher Beziehung oder zumindest Kontaktaufnahme.

Natürlich ist es nicht immer leicht über seinen eigenen Schatten zu springen und den Geiz durch Wohlwollen zu ersetzen. Aber eine meiner Lehrerinnen sagt etwas sehr kluges: „Angst und Abenteuerlust sind zwei Seiten der gleichen Medaille.“ Wir können uns entscheiden, ob wir die Angst wählen, die uns lähmt oder die Abenteuerlust, die uns neue Erfahrung ermöglicht.

Beim Singen aus dem Vollen schöpfen
Natürlich möchte ich konkret auf Situationen eingehen, in denen mir das Thema Geiz direkt im Zusammenhang mit dem Singen begegnet ist. Eine klassische Kollegin kam mit meiner Art des Singens mit Kindern nicht zurecht. Sie wollte einen „kopfigeren“ Zugang und unterschied explizit die Singstimme von der Sprechstimme. Sicher hatte sie in einigen Punkten recht mit ihrer Kritik, aber trotzdem hatte ich in der Situation das Gefühl, dass sie geizig war. Die Kinder haben es sichtlich genossen, mit dem ganzen Körper zu singen. Meine lockere Art und die Tatsache, dass ich sehr spielerisch mit ihnen gearbeitet habe, hat sie begeistert und in ihrem ganzen Wesen angesprochen. Ihre Neugier war geweckt und gemeinsam haben wir gleichermaßen Kopfresonanzen und andere Klänge erkundet. Die Kinder mussten nichts erfüllen, nicht mit ihrer Lebendigkeit haushalten und es ging nicht darum etwas zu lernen, um es hinterher perfekt abliefern zu können, sondern einfach darum es zu tun und eine positive Erfahrung zu machen. Gerade weil es Kinder sind, finde ich es umso wichtiger, ihnen den Geiz erst gar nicht anzuerziehen, sondern sie zu ermuntern aus dem Vollen zu schöpfen und ihr reichlich vorhandenes Potential auf allen Ebenen zu entdecken.

Im Unterricht mit den Erwachsenen fällt es mir häufig auf, dass sonst genau das im fortgeschrittenen Alter zum Problem werden kann. Eigentlich sing-erfahrene Menschen fühlen sich nicht (mehr) wohl beim Singen, weil sie sich nicht mit ihrer Stimme identifizieren können. Sie suchen nach der Verbindung von Stimme und Person, nach einem authentischen Ausdrucksmittel und der Freiheit einfach so „lossingen“ zu können. Häufig sind eine von Richtig-und-Falsch geprägte Stimmerziehung und damit verbundene Hemmungen der Grund, dass sie nicht (mehr) in der Lage sind, das Singen als sinnlich, lustvolle Tätigkeit zu erleben und es im schlimmsten Falle einfach viele, viele Jahre gar nicht mehr tun. 

Auch in Chören begegnet mir manchmal der Geiz. Aus Angst vor falschen Tönen klingt manch 45köpfiger Chor wie ein Kammerensemble. Klanglich wird das Potential in jeglicher dynamischer Richtung nicht ausgeschöpft. Die emotionale Intensität der Gruppe wird durch dynamische Bezeichnungen in den Noten ersetzt und brav „abgearbeitet“. Dabei gibt es kaum großartigeres, als wenn die Intensität einer Gruppe sich wirklich aus sich selbst und der gemeinsamen Freude am Singen heraus musikalisch ausdrücken darf.

Auch auf der Bühne ist und bleibt es eine Herausforderung, großzügig aus dem Vollen zu schöpfen, sich zu zeigen, etwas zu riskieren und somit unvergessliche Momente zu ermöglichen. Egal ob „hohe Kunst“ oder „kommerzielle Partymusik“, wenn wir mit innerer Aufmerksamkeit geizen, entsteht Belanglosigkeit. Alles zu geben, voll involviert zu sein und den Zuhörern die Party ihres Lebens oder aber tiefgreifende musikalische Augenblicke zu schenken, ist weit mehr erfüllend für alle Beteiligten.

Aus dem Vollen zu schöpfen heißt nicht „sich erschöpfen“.
Ich schöpfe aus dem, was gefüllt ist. Ich gebe das, was ich zu geben habe. Ich teile, wovon ich im Überfluss habe. Es macht somit Sinn, die eigene Quelle zu kennen, die den inneren Brunnen speist. Und auch zu wissen, wann die Kraft knapp ist und ich mir eine Zeit der Regeneration gönnen darf. Denn auch das hat mit Großzügigkeit zu tun. Eigene und andere Bedürfnisse ernst zu nehmen. Sich etwas gönnen. Anderen etwas gönnen. Den Schülern ihr eigenes Tempo gönnen. Dem Chor die Zeit gönnen, einen einzigen Akkord wirklich klanglich zu „schmecken“. Sich zu erlauben, die volle Aufmerksamkeit beim Singen auf den Klang oder die körperlichen Sensationen zu legen.

Die Butter dick auf das Brot zu schmieren, die Liebesschnulze mit allen Klischees auszukosten, und gelegentlich mit vollem Genuss und offenem Herz zu scheitern.

Genussvolle Gänsehautsekunden und raketenstarke Krachmomente wünscht,

Anna Stijohann