Über den Tellerrand

Zu Beginn der Sommerferien habe ich mich mit vier engagierten Gesangspädagogikkollegen zum Austausch getroffen. Dieses Treffen hat in mir noch lange fortgewirkt und gerade die offenen Fragen, die unterschiedlichen Meinungen und Schwerpunkte regen mich noch immer zum Nachdenken an. Eines der Themen, die uns intensiv beschäftigt haben, ist die Frage nach der Selbstverantwortung jedes einzelnen Schülers. In einigen meiner vergangenen Artikel kam dieses Thema und meine Meinung dazu schon zur Sprache (vgl. Wieviel muss ich üben? oder Die Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit), aber durch die Diskussion mit den Kollegen konnte ich noch neue Einsichten hinzugewinnen. Die möchte ich heute und hier mit euch teilen.

Was brauchst Du?

In der Regel beginne ich jede Einzelstunde mit der Frage an meine Schüler: „Was brauchst Du?“ Oder auch mal: „Was kann ich heute für Dich tun?“ Diese Fragen habe ich bisher immer schon als genügende Aufforderung an den Schüler verstanden, sich Gedanken zu machen was gerade anliegt. Die Fragen bieten die Gelegenheit in sich hineinzuhorchen, zu reflektieren, wo man gerade steht, was man sich von der Stunde verspricht und für mich die Chance dort anzuknüpfen, wo der Schüler aus sich selbst heraus ein Interesse hat. (vgl. Wieviel muss ich üben? oder Losgehen mit dem was ist) hat.

Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus. Von „Was ist das für eine blöde Frage?“ von einer schlechtgelaunten Schülerin über schwammige Beschreibungen des eigenen Zustandes bis zu ganz konkreten Fragen zu einem Stück oder einer technischen Angelegenheit begegnet mir alles. Viele Schüler müssen sich erst langsam an die Eigenverantwortung gewöhnen und antworten gar mit: „Ja, ich finde, wir können einfach da weiter machen, wo wir aufgehört haben.“ oder „Dir fallen immer so tolle Sachen ein, mach Du mal!“

Und damit sitzen wir in der Falle. Die Aufforderung nach Selbstverantwortung wird an mich zurück gegeben und im schlechtesten Fall entsteht eine reine, innere Konsumhaltung, frei nach dem Motto: „Du gibst, ich nehme. Bespaß mich. Jetzt!“

Was ist das Problem? Woran können wir das üben?

Eine meiner lieben Kolleginnen ist im praktischen Einfordern der Selbstverantwortung viel konsequenter als ich. In unserer kleinen internen Fortbildung hat sie eine Schülerin von mir unterrichtet und begann die Stunde mit: „Woran willst Du arbeiten?“. Das war für meine Schülerin gar nicht so leicht zu beantworten. Nach einigem Hin und Her, merkte die Schülerin an, dass sie manchmal in Chorproben das Gefühl hat, dass sich ihr nach einer Weile des Singens der Hals zuschnürt und das Singen anstrengend wird. „Gut“, sagte meine Kollegin, „gibt es eine konkrete Situation, ein Stück oder eine bestimmte Stelle, in der das passiert? Ich möchte, dass wir gemeinsam etwas ganz Konkretes finden, an dem wir arbeiten können.“ Diese Auffordung war für meine Schülerin aber eher überfordernd, und ich konnte es mir nicht verkneifen, ein wenig vermittelnd einzugreifen und vorzuschlagen, das Stück, an dem wir zuletzt gearbeitet hatten, zu nehmen und zu schauen, ob es dort eine konkrete Stelle gibt, die sich eignet, daran zu arbeiten.

Wie weit geht die Selbstbestimmung?

Höchst spannend war das für alle Beteiligten. In der anschließenden Diskussion unter uns Pädagogen berichtete die Kollegin von ihren grundsätzlichen Erfahrungen mit dieser Einstellung. Sie erzählte auch von ihren eigenen Schwierigkeiten zu Beginn, wirklich hartnäckig zu bleiben und die Schüler quasi zur „Verantwortung zu erziehen“. Gerade in der Musikschule und mit jüngeren Schülern, die ansonsten nur selten gewohnt sind Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen, konnte sie – nach einer Weile der gegenseitigen Orientierung – sehr gute Erfahrungen machen. Schüler begannen, sich selber Stücke rauszusuchen, genau hinzuhören, was ihre Vorbilder machen und Ehrgeiz und eine ganz konkrete Vorstellung zu entwickeln, was sie lernen möchten. Eine äußerst erfreuliche Entwicklung, dem stimmten wir im Kollegenkreis zu. Dem ein oder anderen von uns kamen eigene Unterrichtssituationen in den Sinn und in allen Köpfen fingen Konzepte an sich zu bewegen und zu verschieben.

Was will ich lernen?

In mir hat diese Erfahrung noch reichlich nachgewirkt und ich habe mich gefragt, warum ich nicht ebenso konsequent bin im Einfordern der Selbstverantwortung. Bin ich einfach nicht vehement genug und auf der persönlichen Ebene zu vorsichtig? Hatte ich Angst, dass ein Schüler mich mit einem Problem konfrontiert, für das ich keine Lösung parat habe? Vielleicht.

Aber bei meinen Überlegungen bin ich auch zu zwei wichtigen Einwänden gekommen, warum ich nur sehr selten vom Schüler ein ganz konkretes Anliegen einfordere.

Zum Einen fällt es Schülern manchmal wirklich schwer, überhaupt zu spüren, was ihr Bedürfnis gerade ist. Anfänger möchten manchmal einfach nur „singen lernen“ und haben gleichzeitig überhaupt keine konkrete Vorstellung davon, wie das gehen kann. Was bedeutet es, singen zu können? Wo ist der Maßstab für das, was man lernen kann? Orientiere ich mich an äußeren Anforderungen – hoch singen können, Töne treffen, so zu klingen wie das eigenen Idol – oder nehme ich mein eigenes Gefühl als Gradmesser für meinen Lernfortschritt? Das ist mitunter sehr schwierig. Mir sind schon Menschen begegnet, die jahrelang und teilweise auch bei namhaften Kollegen Unterricht hatten und nach meiner Stunde völlig überrascht waren, dass Singen wirklich so leicht und genussvoll sein kann.

Über den Tellerrand singen

Und damit komme ich zu meinem zweiten wichtigen Einwand, der mich bestärkt, dass Selbstverantwortung beim Singenlernen wichtig ist, aber auch seine Grenzen hat. Jeder von uns – egal ob Profi, fleißiger Chorsänger oder Anfänger – hat seinen eigenen Sing- und Stimmkosmos, in dem er sich bewegt. Wir hören bestimmte Musik, mögen bestimmte Sänger und haben eine Vorstellung davon, wie Singen zu sein hat. Orientieren wir uns an unseren eigenen ganz konkreten Problemen oder Wünschen beim Singen, so bleiben wir, selbst wenn wir sehr fleißig und auch neugierig sind, fast immer innerhalb unserer eigenen Grenzen. Je konkreter das Anliegen, desto konkreter das Ergebnis. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?) Das ist manchmal wünschenswert und nötig, aber eben manchmal auch nicht.

Wäre ich nicht in manchem Workshop und mancher Unterrichtsstunde mit Dingen konfrontiert worden, die ich mir selber niemals zum Thema gewählt hätte, ja, die mir sogar manches Mal zuwider waren, so wäre ich um viele Erfahrungen und meine Stimme um viele Klangfacetten ärmer.

Ergebnisoffen arbeiten öffnet den eigenen Horizont

Gerade durch das Arbeiten ohne Ziel, ohne konkrete Problemstellung und in reichlich Vertrauen auf meine Lehrerin und die Gruppe, die mein Lernen unterstützte, konnten sich ganz neue Welten öffnen. Welten und stimmliche Dimensionen, von denen ich vorher nicht wusste, dass sie überhaupt relevant sind, manchmal nicht einmal wusste, dass sie existieren. Gerade im Arbeiten mit Anfängern liegt es in der Verantwortung des Lehrers Möglichkeiten aufzuzeigen und den Schüler zu ermutigen, einen anderen Weg und einen anderen Fokus zu suchen, als den bekannten. Aber auch mit gestandenen Profis halte ich es immer wieder für wichtig, aus dem bekannten Kosmos auszusteigen und sich ganz und gar überraschen zu lassen, wohin das eigene Singen noch gehen kann. Diese innere Offenheit ermöglicht es uns immer wieder, wirklich unser ganz eigenes Potential zu entfalten.

An dieser Stelle reibe ich mich mit der Einstellung meiner geschätzten Kollegin und ich bin zutiefst dankbar dafür. Auf diese Weise kann ich mein eigenes Handeln und meine eigenen Prinzipien nochmal anders hinterfragen und werde in Zukunft vielleicht in einigen Situationen anders handeln als zuvor.

Jede Situation, jeder Schüler ist anders

Auf jeden Fall bin ich sensibilisiert für die unterschiedlichen Bedürfnisse und Situationen meiner Schüler. Mit einem Studenten an der Uni, bei dem es einerseits darum geht Handwerkszeug zu erwerben, aber andererseits auch um einen Einstieg in die Weiten des Singens, das Finden der eigenen Neigungen und musikalischen Vorlieben und ein Kennenlernen von Neuem, gehe ich anders um, als mit einer Anfängerin, die zu mir kommt, weil sie „immer schon singen lernen wollte“ und sich nun endlich mal durchgerungen hat Stunden zu nehmen.
Ich lege sehr viel Wert darauf, dass meine Schüler lernen selbst Verantwortung zu übernehmen. Vor allem Wachheit für die eigenen Erfahrungen spielt da für mich eine Rolle. Aber ich habe auch großes Verständnis, wenn jemand – gerade am Anfang – den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht und erlebe es auch immer wieder, dass jemand ein so starres Selbstbild hat, dass es meiner Meinung nach nötig ist, zunächst die eigenen Grenzen aufzubrechen.

Diese kleine dreistündige interne Fortbildung mit den Kollegen hat mich auf jeden Fall äußerst inspiriert. Das kann ich nur allen anderen ans Herz legen. Tut euch zusammen und reibt euch! Weitere Themen, die auftauchten und über die es sich sicher auch zu schreiben lohnt, waren „Was ist nötige Detailarbeit und was ist bloßes „Gefuckel“, das vom eigentlichen Singen ablenkt?“ und „Wieviel Psychologe bin ich als Gesangspädagoge bzw. möchte ich sein? Wo ziehe ich da die Grenze?“ Hochspannend und wohltuend zu merken, dass manche Fragen, egal wie unterschiedlich jeder auch arbeiten mag, jeden auf seine Weise beschäftigen.

Forschen lebt von Austausch und Reibung! Danke an alle Kollegen, die das wertschätzen können!

Schülerorientiertes Unterrichten und tellerrandübergreifende Ereignisse wünscht,

Anna Stijohann

Was ist Präsenz?

Jeder Sänger und jeder Chor wird mit dem Thema „Präsenz“ spätestens dann konfrontiert, wenn es ums Auftreten geht. Mancher Mensch hat eine natürliche Präsenz und kann diese auch auf der Bühne behalten, andere müssen sich jene erst mühsam erarbeiten. Aber geht das überhaupt? Hat man nicht einfach das „gewisse Etwas“ oder eben nicht? Natürlich gibt es da Unterschiede, aber wenn es um eine natürliche Präsenz geht, können wir uns wieder an Kindern orientieren. „Stelle niemals Kinder oder Tiere auf die Bühne, sie werden alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen“, das ist eine alte Theaterweisheit. Nicht ohne Grund.

Präsenz hat mit Gegenwart zu tun

Präsenz und Präsens (= Gegenwart) liegen im Deutschen nah beeinander. Präsenz hat für mich ausgesprochen viel mit der Fähigkeit zu tun, im jetzigen Augenblick anwesend zu sein. „Hier und Jetzt“, „Im Moment sein“ und „Achtsamkeit“ sind derzeit die Schlagworte, um Menschen in unserer schnellen Gesellschaft – weg von Burn-Out, Erschöpfung und Sinnlosigkeit – wieder in ihre Lebensfreude und Leichtigkeit zu bringen.

Aber was bedeutet das konkret? Wahrnehmung und Bewusstsein sind für mich die Schlüsselworte. Wenn ich etwas ganz bewusst wahrnehme, z.B. meinen Körper, meine Atmung oder meine Gedanken bin ich ganz und gar mit dem jetzigen Augenblick beschäftigt. Ich spüre Wärme, Kälte, Bewegung, Raum, Enge, Schwingung, Vibration. Ich schenke meine gesamte Aufmerksamkeit dem, was sich gerade jetzt zeigt. Vielleicht spüre ich sogar darüber hinaus, wie die Dinge zusammenhängen. Meinen Atem und die zugehörige Atembewegung, meine Töne und ihre Schwingungen, meine eigene Bewegung im Raum und die der anderen Menschen um mich herum. Präsenz üben hat viel damit zu tun, sich im Wahrnehmen im jetzigen Augenblick zu üben.

Den Wahrnehmungsradius erweitern

Je mehr Dinge ich gleichzeitig wahrnehmen kann, desto größer ist mein Aufmerksamkeitsradius. Natürlich kann ich nicht alle Details in voller Schärfe wahrnehmen. Je mehr Aspekte hinzukommen, desto unschärfer, aber auch weiter und offener wird meine Wahrnehmung. Je mehr ich meinen Körper in seiner Ganzheit spüren kann, desto unwichtiger werden seine Einzelteile. Je mehr ich meinen Gesang im Bezug zum Rest der Musik – Reibung, Rhythmus, Klangstruktur – erlebe, desto mehr kann ich mich öffnen. Sich nicht im großen Ganzen zu verlieren, sondern trotzdem aufmerksam und wach bei sich zu bleiben bedarf einiger Übung. Immer wieder den Bogen von den Einzelteilen zum größeren Zusammenhang herzustellen, ist in diesem Falle wichtig. Nach und nach entsteht so im Sänger, im Musiker ein Wahrnehmungsnetz. Atem und Bewegung verschmelzen zu einer Einheit, Stimmansatz und Körperlichkeit werden zu einem Ereignis, Klang und Resonanzgefühl kommen zusammen.

Wahrnehmung ist drinnen, Präsenz ist draußen

Achtsamkeit ist vor allem ein inneres Phänomen. Wahrnehmung geht von mir selbst aus und geschieht von außen kaum sichtbar. Eine hohe innere Aufmerksamkeit alleine reicht demnach nicht aus, um wirklich „präsent“ zu sein. Zwei Aspekte scheinen mir besonders wichtig zu sein, damit der Transfer nach Außen gelingen kann. Das Eine ist der Genuss an dem, was ich erlebe. Meine eigene Neugier, meine Lust am Entdecken und die Freude an dem, was ich wahrnehmen kann. Die Qualität einer Bewegung zu erleben und als freudvoll, spielerisch, spaßig und genussvoll zu spüren, lässt die Intensität der Bewegung auch äußerlich wirken. Vibrationen zu spüren und sich im „Klang zu baden“, bewirkt das Gleiche. Sich in die Musik fallen zu lassen, sich mit ihr durch die Freude am Tun zu verbinden, lässt die Zuhörer mitschwingen.

Innere Abwehr, Scham oder Unmotiviertheit unterbrechen diese Verbindung von Innen nach Außen.

Eine innere Entscheidung ist nötig

Und genau das ist der zweite Punkt, der mir wichtig scheint, wenn wir von der inneren Wahrnehmung zu einer äußeren Präsenz kommen möchten. Es braucht eine aktive Entscheidung das Erlebte und den Genuss daran mit der Außenwelt teilen zu wollen. Scham und Überwindung, die immer wieder im Zusammenhang mit Präsenz auftauchen, ist hier für viele Menschen der Knackpunkt. Ich kann mich ganz bewusst entscheiden, inwieweit ich dem Publikum Einblick in meine Wahrnehmungswelt gestatte. Ich kann mich bewusst entscheiden, das Unwohlsein, das Ungewohnte, die Scham, das Herzklopfen, die zweifelnden Gedanken auszuhalten, weder innerlich noch äußerlich zu kommentieren und so meine eigenen Grenzen ausloten. Je mehr ich mich öffne, je mehr ich riskiere wirklich gesehen zu werden, desto größer ist meine Präsenz.

Gesehen werden

Im Bühnenpräsenzunterricht während meines Studiums war eine der ersten Übungen, sich vor den Kommilitonen auf eine Bühne zu stellen und sich anschauen zu lassen. Eine sehr einfache und doch wirkungsvolle und gleichzeitig schwierige Aufgabe. Nichts weiter tun, als sich anschauen zu lassen – so kommt man dem eigenen Schamgefühl schnell auf die Schliche. Aber auch der eigenen Lust an der Präsentation, die die andere Seite der Medaille darstellt. Als Künstler und vielleicht überhaupt als Menschen bewegen wir uns permanent genau in diesem Spannungsfeld. Es ist unser großer Wunsch gesehen zu werden und gleichzeit haben wir Angst davor. Je öfter wir uns bewusst in solche Situationen begeben, desto vertrauter sind sie uns. So üben wir unseren Mut und trainieren den inneren Schalter, der uns erlaubt präsent im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

Inneres Zuhause finden

Unsicherheit und Scham können durch viele verschiedene Techniken, Übungen, Methoden und Aufgaben, die das Selbstbewusstsein stärken, immer unwichtiger werden. Welcher Weg für mich der Richtige ist, kann ich nur selber entscheiden. Meditation, Körperarbeit, innere Arbeit, Gespräche mit Freunden und Lehrern, Therapiesitzungen oder auch positive, freudvolle Erlebnisse z.B. beim Singen und Musizieren können enorm viel in Bewegung bringen. Präsenz hat immer auch mit innerer Reife zu tun. Innere Reife, d.h. für mich, zu dem stehen zu können, wer ich bin, was ich tue, was ich kann und was ich nicht kann. Als Kinder kennen wir kaum Schamgefühle, bis wir von unserer Außenwelt ganz klar gezeigt bekommen, wo die Grenzen sind. Was sich gehört und was sich nicht gehört, was richtig und was falsch ist, und dass eine pure, überschwengliche Freude an dem, was wir gerne tun, uns von außen angreifbar macht. Uns von diesen Einschränkungen zu befreien und wieder – nun mit dem Wissen um die möglichen Konsequenzen, aber deswegen nicht weniger lustvoll – voll und ganz in dem aufzugehen was wir tun, ist für mich die zentrale Aufgabe jedes Künstlers, Musikers und eines reifen, charismatischen Menschen überhaupt.

Präsenz beim Singen und Musizieren

Beim Singen und Musizieren gibt es ganz verschiedene konkrete Ebenen, denen ich meine Aufmerksamkeit widmen kann um meine Präsenz zu üben. Zum einen kann ich mich auf meinen Körper konzentrieren. Das liegt beim Singen noch näher als beim Spielen eines Instruments, weil der Körper eben genau das Instrument darstellt. Aber auch beim Spiel eines Instrumentes kann die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper und seine Zusammenhänge die Präsenz des Klangs und des musikalischen Vortrags enorm verändern.

Was spüre ich? Wie tue ich was? Was tut mein Rücken, mein Brustkorb, was kann ich in meinem Becken wahrnehmen? Kann ich mein eigenes Körpergewicht spüren? Wo liegt meine Zunge, was machen meine Lippen oder meine Finger usw.? Dabei wird es im Sinne einer echten Präsenz (und auch im Sinne einer selbstregulativen Stimmentfaltung) nicht um ein richtig oder falsch oder gar eine Manipulation, sondern vor allem um eine geschärfte Wahrnehmung gehen. Durch die erhöhte Aufmerksamkeit kann die „Anstrengung“, das „Versuchen“, das „Bemühen“ ersetzt werden durch echte innere Anwesenheit. (vgl. Inner Game).

Weitere Ebenen der Wahrnehmung können z.B. das aktive Lauschen (vgl. Ohren auf!), das Tasten und Spüren von Resonanz, meine direkte Umgebung (Gegenstände, Atmosphäre, Dynamik in Raum und Gruppe) oder die emotionale Information des Musikstücks sein und sogar einige Spielarten des Denkens (vgl. Analoges Denken und Intuition) und der Imagination können gegenwärtige Aufmerksamkeitspunkte bieten.

Wichtig ist es, bei all dem zu verstehen, dass das Wahrnehmen oder die gewählte Art des Denkens mit einer Bewertung der Situation nichts zu tun hat. Aufmerksamkeit ist zunächst mal neutral; betrachtend, erlebend, akzeptierend. Trotzdem ist mir das, was ich erlebe keinesfalls egal. Ich bin hochgradig wach für das was geschieht, was ich tue, was ich erlebe. Ich greife jedoch nicht aktiv ein, um etwas zu „optimieren“, mehr „Ausdruck“ zu geben, mehr „Emotionen zu senden“ oder was auch immer. Ich kann nur meine Aufmerksamkeit bündeln und intensivieren (vgl. Bewusstsein als Tür), meine Freude am Tun voll auskosten und mutig mein Herz öffnen und das Publikum teilhaben lassen.

Bewusste Genussmomente im Großen wie im Kleinen wünscht,

Anna Stijohann

P.S. Am Sa, den 23.09.2017 von 15-18 Uhr wird es im STIMMSINN einen Miniworkshop zum Thema „Stimme – Körper – Präsenz“ geben. Eine praktische Möglichkeit, die eigene Präsenz und ihre Wirkung kennenzulernen und auszuloten.

Wie sag ich’s meinem Schüler?

Ich vermeide in meinem Unterricht wenn möglich die Begriffe „richtig“ und „falsch“.

Ist das sinnvoll? Geht das überhaupt? Gibt es ein konkretes Ergebnis, wenn ich als Gesangspädagoge mich mit Bewertungen und Urteilen so gut es geht zurückhalte?

Ich denke ja und bin sogar der Meinung, dass wirklich tiefgehende Erkenntnis und Entwicklung nur möglich sind, wenn mein Tun, mein Experimentieren nicht im Sinne eines „objektiven“ Maßstabes bewertet wird.

Lösung für alle Probleme. Jetzt!

Wenn wir Gesangsunterricht nehmen, möchten wir wissen, wie „es geht“. Wir möchten, dass der Lehrer uns ganz genau sagt, was wir richtig und gut machen und was wir noch verbessern müssen. Wir möchten am liebsten auf Knopfdruck die Lösung für alle unsere Probleme und die Antwort auf alle Fragen. Wir möchten am Ende „Singen können“. Dieses Leistungsprinzip haben wir alle durch unsere Schulausbildung und über die Grundsätze, nach denen unsere Gesellschaft zu funktionieren scheint, tief verinnerlicht. Schade eigentlich. Wir nehmen uns damit in vielen Fällen die Chance, über uns selbst hinauszuwachsen und etwas zu lernen, was sich nachhaltig einprägt und uns wirklich eigen ist.

Niemand kann einem Singen beibringen

Singen ist eine sehr persönliche und zudem komplexe Angelegenheit (vgl. Singen ist nicht kompliziert!). Es gibt keine objektiven Maßstäbe, keine ultimativen Methoden und nicht das eine Patentrezept, dass jeden von uns plötzlich frei singen lässt. Wir sind immer auf dem Weg und niemals vollständig angekommen. Ich als Lehrer begleite einen Schüler auf diesem Weg, weise auf Fortschritte oder Kreuzungen hin und mache auf die Dinge aufmerksam, die ich aufgrund meiner Erfahrung klarer sehe als der Schüler.

Trotzdem ist jeder Lehrende auch noch Lernender. Niemand weiß alles und vor allem kann kein Lehrer dieser Welt seinem Schüler „beibringen“ zu singen. Singen lernen ist wie Fahrrad- oder Skifahren. Wir müssen es durch Ausprobieren, Üben und durch eine aufmerksame Begleitung, die hilft, wenn wir ins Schleudern geraten, trotz allem aus uns selbst heraus lernen.

Mein kleiner Sohn kann seit ein paar Monaten Fahrrad fahren. Niemals würde ich auf die Idee kommen ihm zuzurufen: „Nein, die Kurve hast Du falsch genommen. Du musst mehr Gewicht auf Deine linke Pedale geben. Das war nicht richtig. Beim richtigen Fahrradfahren muss man den Kopf auf genau diese Weise halten. Mach das noch mal und streng Dich mehr an.“

Singen ist nicht schwarz-weiß

Bewertungen suggerieren uns, es gäbe die eine „ultimative Wahrheit“, einen objektiven Maßstab, wie Singen zu sein habe. Natürlich gibt es Merkmale, an denen ich erkennen kann, ob eine Stimme frei schwingt, ob sie gut mit dem Körper verbunden ist, ob ein Ton tragfähig ist, ob ein Klang im Rahmen einer Stilistik verwendbar ist. Aber wie im richtigen Leben lassen sich die allerwenigsten Situationen in schwarz und weiß beschreiben. Die Zwischentöne und Nuancen sind das Wichtige. Nur so bleiben wir beweglich und entwicklungsfähig.

Wir können den Klang einer Stimme oder eines Tons sehr wohl beschreiben ohne ihn zu bewerten. Das ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die ich versuche auch meinen Schülern mit auf den Weg zu geben. Ebenso möchte ich auch meine eigenen Empfindungen beim Singen wahrnehmen lernen, ohne sie zu werten. Natürlich darf ich mich freuen, wenn das Singen plötzlich viel leichter ist als noch zuvor, und mich fragen, warum das nicht immer so ist. Ich möchte aber auch in meiner Sprache immer darauf achten, dass ich nicht durch vorschnelle Abwertungen und scharfe Selbstkritik eine „Tür zu schlage“.

Unschärfe hilft das Ganze zu sehen

Betrachten wir einen Ameisenhaufen von weiter weg, denken wir vielleicht, es sei nur ein Erdhügel. Kommen wir aber näher heran, sehen wir, wie es wuselt und lebt. Gehen wir noch näher heran, sehen wir die einzelne Ameise, verlieren aber damit auch den Blick auf das ganze zusammenhängene Gefüge. Je genauer und detallierter wir auch beim Singen unsere Worte wählen, desto mehr verlieren wir das große Ganze aus dem Blick. Denn das Ganze ist stets mehr als die Summe seiner Teile. Deswegen lasse ich sehr oft die Schüler mit eigenen Worten beschreiben, was sie erleben. Ebenfalls sehr oft bekomme ich als Antwort zu hören: „Aber ich kann das ja nicht so genau sagen, ich kenn mich da nicht so aus, wie das wirklich ist…“

Dabei sind die eigenen Empfindungen – in eigenen Worten ausgedrückt – häufig mehr wert als jede „anatomische Korrektheit“. Rein physiologisches Wissen muss sich mit Erlebtem verbinden, sonst bleibt es inhaltsleer. Manchmal erläutere und ergänze ich das, was der Schüler selber wahrnehmen konnte: „Ja, das kann man so ausdrücken. Hier und da geschieht rein muskulär dann das und das. Vielleicht hilft dir das ja, Deine eigene Wahrnehmung nochmal genauer zu greifen. Mach das doch noch einmal und spür genau hin.“ So kann seine Aufmerksamkeit vielleicht auf etwas gelenkt werden, was vorher noch nicht in seinem Bewusstsein war.

Zwei verschiedene Autobahnen

Sich „unscharf“ oder „unwissenschaftlich“ auszudrücken, hat in diesem Fall also rein gar nichts mit inhaltsleerem Geschwafel zu tun. Nein, ich entscheide mich häufig ganz bewusst dafür. Es kommt mir vor, als wären die zwei verschiedenen Arten sich auszudrücken – klar, nüchtern, wissenschaftlich, bewertend, vermeintlich objektiv auf der einen Seite – umschreibend, ermutigend, erlebend, subjektiv auf der anderen Seite – zwei völlig verschiedene Straßen auf denen ich mich bewegen kann. Jede hat ihren Nutzen und ihr Ziel, aber manche Ziele erreiche ich eben nur über die „offene“ Spur.

Zwischentöne und zutiefst menschliches und damit auch persönliches, authentisches und berührendes Singen, ist über die „kritische“ Spur nur schwer zu erreichen. Wenn überhaupt. Außerdem nährt bewertendes Verhalten vor allem unsere Selbstzweifel. Wir möchten gut sein und die von uns geforderten Erwartungen erfüllen. Gelingt das nicht direkt, reagieren die allermeisten von uns mit Frust und das Lernen wird zusätzlich erschwert. Die Glaubenssätze, die sich z.B. in unserer Kindheit in uns abgesetzt haben – „Sei nicht so laut“, „Du singst schief“, „In unserer Familie sind eben alle unmusikalisch“ – werden so immer wieder angefeuert und lebendig gehalten. (vgl. Inner Game of Music)

Aufgaben ohne „richtiges“ Ergebnis und eine umschreibende Sprache lassen uns die „Spur“ ganz bewusst wechseln. Neugier, Offenheit und Lernbereitschaft sind die Folge.

Wörter können trennen oder verbinden

Fachbegriffe sind wichtig. Ohne Frage. Dennoch halte ich es nicht immer für sinnvoll, diese Fachbegriffe im Unterricht zu verwenden. Ich vermeide z.B. wann immer möglich die Begriffe „Brust-“ und „Kopfstimme“. Ich spreche von „Mischung“ und erläutere möglicherweise die funktionalen Zusammenhänge anhand eines Modells mit Gummibändern o.ä. Wie sollen wir eine Vielfalt an Klangfarben entwickeln, wenn wir in unseren Köpfen ein „entweder – oder“ – Modell haben? Trennen wir Dinge mit Worten, so erscheinen sie uns auch in der Praxis getrennt.

So gut wie nie spreche ich davon einen „Ton zu produzieren“ oder einen bestimmten „Klang herzustellen“. Ich als Sänger bin das Instrument und somit mittendrin. Ich bin der Klangkörper und meine Stimme ist persönlich. Ich kann mich nicht von meiner Stimme trennen. Durch die Art meiner Sprache kann ich Verbindung oder Distanz schaffen. Möchte ich, dass mein Singen persönlich klingt und ich mich im Klang wiederfinde, brauche ich die Nähe.

Pfui Stütze!

Ein weiterer Begriff ist die „Stütze“. Es gibt so viele Konzepte davon, wie der Körper die Stimme beim Singen unterstützen kann, wie es Gesangslehrer gibt. Und ich bin mir sicher, jeder muss selber herausfinden, wovon seine eigene Stimme am meisten profitiert. Der eine denkt ganzkörperlicher (z.B. Faszienarbeit), ein anderer empfindet ganz bestimmte Resonanzraumausnutzung als wichtige Unterstützung. Jemand drittes erlebt Bewegung als Schlüssel zum vollen, ausbalancierten Ton, noch jemand anderem hilft eine „Zug-Gegenzug“-Erfahrung z.B übers Saugen. Auch die Bauchpresse alter Schule geistert immer noch durch Chöre und unter Kollegen.

Spreche ich von „der Stütze“ suggeriere ich dem Schüler, es gäbe die eine ganz konkrete Problemlösung, die man entweder drauf hat oder eben nicht.

Ebenso spreche ich ungern von „Kontrolle“, sondern eher von „Kontakt“, „Mitgehen mit dem Schwung“ oder suche gemeinsam mit dem Schüler nach dem Moment, wo einfach „alles zusammenpasst“. Begreifen über den Körper oder auch über Imagination kann genauso konkret und abrufbar, ja sogar tiefgehender sein, als kognitives Verstehen und Etikettierung mit Fachbergriffen.

Profi sein oder Wissen ist Macht!

Gerade unter Kollegen fällt es mir auf, dass häufig mit schlauen Begrifflichkeiten um sich geworfen wird. Sowohl im persönlichen als auch im schriftlichen Austausch wird mir manchmal ganz schwindelig vor lauter Fachchinesich. Nicht, dass ich nicht die meisten Begrifffe auch kennen würde und um ihre Bedeutung wüsste. Es scheint mir jedoch manchmal, als wolle der Kollege oder die Kollegin vor allem seine eigene Kompetenz und sein Wissen in den Vordergrund stellen. Ich nehme mich selbst davon nicht aus und stelle es auch immer mal wieder fest, dass ich, wenn ich versuche „auf Augenhöhe“ mit einem (vielleicht vermeintlich erfahreneren) Kollegen zu sprechen, gegebenenfalls etwas dicker auftrage, weil ich Angst habe, eine allgemeinere Sprache könnte mir als Zeichen von Schwäche und Unwissen ausgelegt werden.

Auch auf das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer hat die Art der Sprache große Auswirkungen. Stelle ich mich als Lehrer als „Experte“ dar und wähle meine Worte entsprechend, schaut der Schüler vielleicht zu mir auf. Ich stelle eine klare Hierarchie her, in dem ich deutlich mache: Ich bin wissend, Du bist unwissend. Ich bin groß, Du bist klein. Ich traue meinem Schüler nicht zu, dass er selber weiß, was für ihn gut ist. Abhängigkeit spielt möglicherweise eine Rolle. (vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit)

Wähle ich dagegen Worte, die dem Schüler nah sind, erreiche ich ihn anders und begegne ihm auf Augenhöhe. Die Lernumgebung verändert sich. Druck wird ersetzt durch Vertrauen. Beiderseitiger Respekt schafft einen Raum, in dem wirklich Entwicklung möglich ist.

Fachsprache ist manchmal nötig

Natürlich ist es nötig bestimmte Fachbegriffe zu kennen. Sie wurden erfunden um Kommunikation zu erleichtern und konkrete Sachverhalte möglichst ohne Missverständnisse in ganz konkrete Worte zu fassen. Allein um Fachliteratur zu verstehen, brauche ich ein bestimmtes Fachvokabular. Deshalb ist es mir auch ein Anliegen, fortgeschrittene Schüler und Studenten mit einigen Begriffen vertraut zu machen. Ich selbst habe viel aus Büchern gelernt und das wäre anders gar nicht möglich gewesen. Trotzdem sollten wir im Hinterkopf behalten, dass auch alle Fachbegriffe nur der Versuch sind, Dinge und Phänomene zu versprachlichen, die eigentlich viel komplexer sind als das, was unser Verstand begreifen kann. Einen Muskel benennen zu können kann in der Kommunikation helfen, weil dann klar ist, worüber geredet wird, wirklich weiterhelfen tut es aber dennoch selten.

Begriffe helfen uns, unsere Wahrnehmungen zu sortieren. Am Ende braucht aber jeder für sich sein eigenes Ordnungssystem.

Wenn es wichtig ist, dass etwas „richtig“ gemacht wird

In manchen Unterrichtssituationen ist es dennoch wichtig, dass der Schüler etwas „richtig“ macht. Z.B. eine Übung korrekt ausführt, die ansonsten nicht den gewünschten Effekt hervorbringt. Selbst in so einer Situation versuche ich, den Schüler nicht zu bewerten und seine Bemühungen als „falsch“ abzustempeln, sondern ihn auf die andere, von mir eigentlich angestrebte Möglichkeit hinzuweisen.

Scheint meint Plan aufzugehen, ermutige ich durch Kommentare wie „gut“, „ja genau“ oder „jetzt passiert was“. Dass dieses „gut“ eine subjektive, positive Bestärkung und keine objektive Bewertung ist, ergibt sich in der Regel direkt aus dem Kontext.

Merke ich z.B. dass der Schüler eine Aufgabe zuvor schon genauer erledigt hat, aber nach einiger Zeit mit der Konzentration abschweift oder ungenau wird, bemühe ich mich ihn freundlich oder auf humorvolle Art („Nä! Mach nochmal…“, „War xy noch in Deinem Bewusstsein?“ usw. ) wieder ins genaue Arbeiten zurückzuholen. Gelingt das nicht oder nur schlecht, probiere ich meistens etwas anderes aus. Meine Erfahrung ist, dass sich Dinge, die uns interessieren, am Besten manifestieren. Der Schüler muss sich für etwas begeistern, „Lunte riechen“ und eine Übung muss interessant genug sein – im Tun oder im Ergebniss – dass er sich von alleine neugierig weiter auf den Weg macht (vgl. Wieviel muss ich üben?)

Ob der Schüler dann das lernt, was ich ursprünglich vorgesehen hatte oder etwas anderes, ist mir dabei ziemlich egal!

Lust an der offenen Sprache und Freude an der Begegnung auf Augenhöhe wünscht,

Anna Stijohann

Singen ist Singen

Noch immer gibt es viele Missverständnisse zwischen klassischen Sängern und Gesangspädagogen und Kollegen aus dem Bereich Pop, Jazz oder Musical. Die einen sängen „mit dem Körper“ die anderen nur „aus dem Hals“, bei den einen könne man „sowieso nie den Text verstehen“ oder „wer einmal klassischen Unterricht gehabt habe, könne nie wieder glaubhaft einen Popsong singen“.
In einem Austauschtreffen mit meinen Lehrauftragskollegen der Universität Koblenz hat dazu ein Kollege den Nagel auf den Kopf getroffen: „Singen ist zuallererst einmal Singen. Und wir müssen lernen zu unterscheiden, was ist Technik und was ist Stilistik.“
In diesem Sinne möchte ich mich in diesem Artikel als Mittler und Dolmetscher versuchen um einige Vorurteile und Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Technik und Stilistik

Wie der oben schon zitierte Kollege angemerkt hat, gibt es einen klaren Unterschied zwischen Gesangstechnik oder, wie ich es lieber nenne, „Handwerk“ und Stilistik. Ob ein Ton frei klingt oder unnötige Hilfsspannungen vorhanden sind, sollte jeder Kollege – egal ob Klassiker oder aus dem Popbereich – hören können. Ist der Ton klar und ist die Stimme gut an den Körper angebunden? Können die benötigten Resonanzräume angesteuert werden? Gibt es ein Bewusstsein über die klangliche Struktur der eigenen Stimme? Hat die Stimme klangliche und dynamische Variationsmöglichkeiten? All diese Fragen lassen sich völlig unabhängig von einer bestimmten Stilistik beantworten. Und es lohnt sich, auch im eigenen Unterricht immer mal wieder für sich selbst zu hinterfragen und auch für die Schüler transparent zu machen, auf welcher „Baustelle“ man gerade unterwegs ist.

Natürlich klingen

Ich arbeite mit Schülern aller Genres. Da ich Jazz-Popgesang studiert habe und auch selber hauptsächlich in diesem Bereich tätig bin, liegt hier natürlich mein Schwerpunkt. Dennoch bin ich davon überzeugt, auch jeden Schüler, der mit mir an einer Arie oder einem Kunstlied arbeiten möchte, unterstützen zu können. Oft sage ich direkt im ersten Gespräch, dass ich stilistisch im Bereich Klassik zwar nicht weiterhelfen kann, weil ich wenig über Verzierungen, stiltypische Klang- oder Phrasierungsvariationen weiß und somit musikalisch nur rudimentär helfen kann. Aber natürlich bringe ich all meine Erfahrung und mein Wissen ein, wenn es ums Singen an sich geht. Wenn der Schüler dann einen natürlichen, mühelosen Zugang zu seiner Stimme gefunden hat, lassen sich stilistische Feinheiten z.B. mithilfe eines anderen Lehrers leicht umsetzen. Ist die Stimme beweglich und kennt der Schüler sein Instrument gut, hat er alle Möglichkeiten. Seine Hörgewohnheiten und die persönlichen Emotionen, die er mit bestimmter Musik verbindet, werden ihm und seiner Stimme den Weg weisen, damit er die verschiedensten Spielarten des Singens authentisch bedienen kann.

Stimmbildung „neutral“

Stimmbildung ist für alle Gesangsstilistiken wichtig. Die Zeiten in denen man davon ausging, dass Stimmbildungsunterricht einer Karriere als Popsänger eher schaden als nützen würde, sind zum Glück vorbei. Doch ich möchte betonen, dass es sich um „natürliche“ Stimmbildung handeln muss. Diese ist für mich vor allem funktional orientiert. Das bedeutet, dass die Stimme zu allererst zu ihrer Mühelosigkeit findet. In diesem Prozess ist es eher hinderlich, wenn es von Anfang an darum geht, einen bestimmten Klang zu finden oder gar zu „produzieren“. Das Kennenlernen der Stimme und ihrer Zusammenhänge mit dem Körper und überhaupt dem ganzen Menschen übers Experimentieren und Erleben eignet sich hier am Besten. Ich verwende vor allem Übungen, die bestimmte Aspekte verstärken und so begreifbar machen. (vgl. z.B. Tun und Lösen oder Geschüttelt nicht gerührt). Körperbewegungen während des Singens (vgl. Bewegung als Schalter) lassen den Schüler Zusammenhänge selber spüren. Resonanzräume werden über spielerische Klänge oder aktives Lauschen (vgl. Ohren auf!) aktiviert und so ins Bewusstsein geholt. Auf diese Weise lernt der Schüler vor allem über sein Körpergedächtnis, welches zum Glück kaum klanglich-stilistisch vorgeprägt ist und viel direkter und effektiver lernt als unser Verstand .

Körperliches Singen

Früher dachte ich selber, dass „körperliches“ Singen und ein klassischer Stimmklang direkt miteinander einhergehen. Oh, wie habe ich geflucht, wenn eine meiner Lehrerinnen mich versucht hat in die höchsten Höhen zu locken um Resonanzräume zu öffnen, von denen ich kaum ahnte (vgl. Jubilieren gegen Höhenangst). „Ich brauche das nicht! In solchen Höhen singe ich niemals. Was soll ich da? Ich will nicht „schallern“!“ Heute weiß ich, dass das Kennenlernen des gesamten Körpers als Resonanzkörper von großer Wichtigkeit ist. Je intensiver ein Körper schwingt, desto leichter fällt das Singen und desto individueller kann sich das Timbre entfalten. Je weniger Resonanzräume ich benutze, desto mühsamer ist das Singen und desto weniger klangliche Möglichkeiten habe ich zur Auswahl. Singen mit dem ganzen Körper ist also keineswegs der klassischen Schule vorbehalten. Körperliches Singen klingt – z.B. mit einer sprachnahen Färbung der Vokale – kraftvoll und ist durchaus pop-, jazz- oder musicaltauglich.

Ein Klang oder Vielfalt?

Eine klassische ausgebildete Kollegin, die einige Stunden bei mir nahm, fragte mich einmal, als sie – meiner Ansicht nach völlig mühelos – eine schwierige hohe Passage gemeistert hatte: „Aber ging der Klang durch? War der Klang die ganze Zeit derselbe?“ Ich fand diese Frage einerseits befremdlich und andererseits wurde mir dadurch auch einer der wichtigsten Unterschiede des klassischen und populären Gesangs deutlich. Die Einen sind stets auf der Suche nach dem einen, perfekt ausbalancierten Klang, der sich durch alle Lagen hindurch einheitlich und verbunden zeigt. Die Anderen suchen die klangliche Vielfalt. Je mehr unterschiedliche Klangfarben ich als Popsänger zur Verfügung habe, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten habe ich. Extreme Sounds wie rufen oder säuseln, kratziges oder gewollt-halsiges Singen und überhaupt die volle dynamische Spannbreite menschlicher Klangmöglichkeiten (ich hör da oft meinem dreijährigen Sohn zu und bin immer wieder beeindruckt) sind ebenso willkommener Teil der künstlerischen Gestaltung, wie klare, warme ausbalancierte Töne, die das ganz eigene Timbre des Sängers durchscheinen lassen.

Die Phrasierung macht’s

„Ich würde gern Jazz singen, aber meine Stimme klingt wohl eher klassisch.“ Das ist einer der Sätze, die ich schon oft von Schülern zu hören bekommen habe. Hier bin ich völlig anderer Meinung. Die Brücke zwischen verschiedenen Genres kann gelingen und in den allerwenigsten Fällen liegt es, falls der Übergang schwer fällt, am eigentlichen Stimmklang. Ein purer, neutraler, gut ausbalancierter Stimmklang lässt sich durch die geschickte Anwendung stiltypischer Phrasierung sehr breit nutzen. Wie gehe ich mit Sprache um? Nutze ich klare oder umgangsprachliche Vokale? Singe ich einen Ton gerade an, oder schleife ich ihn ein wenig von unten an? Orientiere ich mich an den Vokalen und ihrer klanglichen Verbindung untereinander oder nehme ich ganz bewusst die Konsonanten als rhythmisch, percussive Elemente der Musik wahr? Fragen wie diese und der neugierige und höchst aufmerksame Umgang mit stimmlichen Feinheiten dieser Art können dafür sorgen, dass ich, egal in welcher Stilistik ich mich gerade bewege, mich stets mit meiner Stimme identifizieren kann und mein Singen für mich selbst genau das bleibt, was es ist. Singen.

Ich wünsche allen neugierigen Sängern und Kollegen viel Mut beim Ausprobieren und Hinaussingen über den eigenen Tellerrand!

Anna Stijohann

Innen und Außen

Singen bewegt sich ständig zwischen Innen und Außen. Meist sind wir im Außen mit hören beschäftigt. Wie klingt meine Stimme? Treffe ich den Ton? Klingt mein Gesang so, wie ich es mir vorstelle? Im Inneren können wir spüren. Wie fühlt sich ein Ton an? Wie erfüllt der Klang mich mit Resonanz? Wo gibt es Spannung oder Gewicht?

Nur wenn Innen und Außen beide gleichermaßen präsent sind, sind wir und damit unsere Stimmen es auch. Sind wir nur im Außen, wirkt unser Gesang gekünstelt und ist in den allermeisten Fällen viel anstrengender als nötig. Sind wir nur im Innern, mag unser Singen uns selbst erfüllen, ist aber weder bühnen- noch chortauglich. Wenn wir nur in uns selbst klingen, ist es schwer mit anderen – sei es Publikum oder Mitsänger – in Kontakt zu treten. Und das ist es, was wir ja schließlich möchten: Mit dem Außen in Kontakt treten um unser Innerstes mitzuteilen. Ja vielleicht sogar, in einen echten beiderseitigen Austausch zu geraten.

Nach innen lauschen

Vielen Menschen ist es mittlerweile fremd geworden, wirklich nach innen zu lauschen. Weil unsere Welt soviel Aufmerksamkeit im Außen einfordert, aber auch weil wir in uns selbst nicht immer nur Frieden vorfinden, sondern möglicherweise auf Zweifel, Widersprüche und Ängste stoßen. Meine Lieblingsübung um den Kontakt nach innen aufzunehmen ist das „Ohren zu halten“. (vgl. Ohren auf!) Auf diese Weise kann ich mich für einen Moment von der Außenwelt abschirmen und mich ganz auf mich selbst konzentrieren. Wie geht mein Atem? Höre ich meinen Herzschlag? Wie klingt es innen in mir, wenn ich ganz sanft und suchend beginne Töne zu machen? Verschiedenene Töne, verschiedene Vokale und Klinger, kurze und lange Töne. Wie wohltuend ist es, wenn ich mich einmal ganz ohne äußere Kontrolle nur auf mein Inneres beziehen kann. Wie klingt mein Lieblingslied, wenn ich es nur für mich allein in meinem Kopf singe? Wie klingt der Text eines Liedes, wenn ich die Worte in mich hinein spreche?

Innenraum erkunden

Spannend finde ich es auch, mit den Händen kleine Schalen zu formen und diese wie Kopfhörer auf die Ohren zu setzen, so dass die Handkanten und der Daumen Kontakt mit den Schädelknochen haben. Wie kleine Muscheln, in denen man das Meer rauschen hören kann, kann ich, wenn ich nun töne, eine starke Resonanz im Kopf wahrnehmen. Auf dem Vokal u geht das besonders gut und schnell gesellen sich zur Grundtonresonanz Obertöne (vgl. Das magische Knistern) hinzu, bis sich der ganze Schädel nach und nach mit Klang füllt. Die Aufmerksamkeit einmal so intensiv auf das innere Hören und Resonanzempfinden zu lenken, ist fast meditativ. Eine Schülerin sagte neulich, sie fühle sich wie in einem Vakuum. Ganz und gar in einem geschützten Raum.

Dann kann ich nach und nach die Hände von den Ohren nehmen. Kann meine Konzentration beim Innenklang bleiben? Kann ich die Obertönigkeit des Klanges auch im Außen wiederfinden?

Außenraum wahrnehmen

Das Außen ist uns meist viel vertrauter. Doch auch hier können wir achtsam Kontakt aufnehmen. Wie klingt ein leerer Raum? Was für Geräusche sind da, obwohl wir sie im Alltag gar nicht bewusst wahrnehmen. Und wie klingt meine Stimme, wenn ich ihr ganz bewusst im Raum nachlausche? Wie klingen meine Töne an verschiedenen Orten im Raum? Nah an der Wand? Wie klingen die Stimmen meiner Mitsänger im Raum? Kann ich ganz neutral ohne Wertung darauf lauschen? Und wie klingt die Stille im Raum nachdem gesungen wurde?

Außen heißt für uns meist Kontrolle, Bewertung und auch Kritik vom Lehrer oder Korrepetitor. Was geschieht, wenn wir dem Außen zwar Aufmerksamkeit schenken, die Bewertung aber zunächst außen vor lassen?

Innen und Außen im Wechsel

Durch den Fokus unserer Aufmerksamkeit können wir steuern, ob wir mit dem Innen oder dem Außen in Kontakt treten. Allein diese innere Entscheidung kann Klänge, Töne, Lieder und das komplette Singgefühl verändern. Besonders in der Gruppe ist es reizvoll damit zu spielen. Man singt, tönt oder improvisiert und lenkt abwechselnd das Bewusstsein nach innen und nach außen. Vielleicht jeder in seinem Tempo, vielleicht auch alle gleichzeitig. So können wir unsere „Innen-Außen-Achse“ ausdehnen und den Wechsel üben.

Auch körperlich können wir mit den beiden Polen Innen und Außen spielen. Ich kann mich ganz und gar nach innen zusammenknautschen – Hände, Brustkorb, Gesicht – kann mich zu einem winzigen Paket zusammenfalten. Im Gegenzug kann ich mich ausdehnen im Raum. Große Bewegungen machen, mich dehnen und strecken und auch meinen Blick für den Raum öffnen. In diesen Wechsel kann ich auch meine Stimme einbeziehen. Wieder kann ich nur empfehlen, dieses Experiment in einer Gruppe zu erleben.

Atem als Schwingtür

Der ständige Wechsel zwischen Ausdehnung und Zusammenziehen ist uns angeboren, denn unser Atem tut genau das immer wieder. Mit jedem Einatemzug dehnen wir uns aus, mit jedem Ausatemzug kommen wir wieder zurück zu uns selbst. Jedes Einströmen ist ein Hineinholen des Außens nach Innen, mit jedem Ausatem geben wir etwas von uns hinaus in die Welt. Dieses Hin- und Herschwingen ist es, das uns im Singen und auch sonst eine Dynamik ermöglicht. Das stetige Wechselspiel der Pole Innen und Außen sorgt dafür, dass die Stimme sich mit dem Singen und durch das Tönen frei entfalten kann und sich aus sich selbst heraus nährt und immer intensiver wird (vgl. Tun und Lösen). Je gewohnter uns dieses Schwingen ist – im Atem, in der Aufmerksamkeit, im Lauschen oder körperlich – desto mehr verschwimmen die Grenzen. Nach und nach durchdringen sich Innen und Außen.

Ich stelle mir statt einer festen Tür, die mal geöffnet und mal geschlossen ist, eine Schwingtür vor. Sie federt leicht in beide Richtungen, verbindet beide Räume miteinander und trennt sie gleichermaßen, damit wir nicht die Orientierung verlieren.

Innere Öffnung

Diese innere Öffnung ermöglicht uns das Erlebnis von Verbindung. Verbindung mit dem Raum um uns, Verbindung mit Mitsängern, aber auch Verbindung zu uns selbst, zu unseren Emotionen und zu unserer ganz eigenen, persönlichen Stimme. Sie erlaubt dem Publikum einen tiefen Einblick in uns hinein und im Idealfall verschmelzen in der Konzertsituation Sänger und Zuhörer zu einer Einheit. Sie sind ein Organismus. Die Musik wird für alle zum Erlebnis.

Das ist auch im Chor äußerst wichtig. Jeder Chorsänger sollte gut mit sich in Kontakt sein, aber eben auch offen nach außen zu den Mitsängern und auch zum Chorleiter. Der gemeinsame Klang ist das verbindende Element. Eine gute Balance zwischen Innen und Außen ermöglicht der ganzen Gruppe das Gefühl der Teilhabe und des Aufgehobenseins.

Traue ich mich, die innere Schwingtür gut geölt in beide Richtungen schwingen zu lassen, kann Geben und Nehmen sich abwechseln. So kann echte Dynamik und Lebendigkeit entstehen. Planung und Absprachen werden weniger wichtig, der Moment des Tuns entscheidet, was genau passiert. Musik, die aus einer Gruppe entsteht, die in dieser Art der inneren Offenheit geübt ist, wird eine völlig andere Intensität und Kraft entwickeln. Impulse können aufgegriffen und eingebracht werden, (Klang-)Entwicklung geschieht organisch und damit stimmig.

Das ist aufregend für Sänger, Musiker und Publikum! Lasset die Spiele beginnen…

Ich wünsche allen eine fröhliche Osterzeit,

Anna Stijohann

Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit

Ich habe immer gerne gesungen. Und wie viele Menschen habe ich mir immer gewünscht es auch wirklich gut zu können. Als ich 18 war, habe ich mit Gesangsunterricht begonnen, doch meine Lehrer hatten nicht immer das Selbe im Sinn wie ich. Heute weiß ich, dass ich eigentlich nie wissen wolte, wie man „richtig“ und „gut“ singt. Mein Anliegen seit jeher war es, die sängerische Freiheit zu entdecken und es gab ür mich immer die Gewissheit, dass diese Freiheit wirklich möglich ist. Einfach drauflossingen zu können und dabei die eigene Stimme, den Gesang, die Musik wirklich genießen zu können, ist vielleicht der wahre Grund, warum so viele Menschen singen lernen möchten.

Warum nehmen Menschen Gesangsunterricht?

Jeder von uns trägt seine ganz eigene Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit in sich. Diese Sehnsucht ist für mich etwas sehr persönliches, intimes. Der Wunsch des Menschen, eine „Stimme zu haben“ geht direkt einher mit seinem Selbstwertgefühl, seinem Wunsch angenommen zu werden wie er ist und gesehen und gehört zu werden. (vgl. Was ist eine schöne Stimme?) Ich glaube dieser Wunsch ist es, der all die Menschen zu uns Gesangslehrern treibt. Die Schnelllebigkeit unserer Zeit und die Suche nach Sinn lässt genau diese Sehnsucht der Menschen umso lauter werden. Und damit tragen wir Pädagogen eine große Verantwortung. Wir sind Stimm- und Sinnsucher gleichermaßen und können, wenn wir uns dieser Verantwortung bewusst sind, großen Einfluss auf das Singen und Leben unserer Schüler nehmen.

Das Geschäft mit der Sehnsucht

Jeder Lehrer, jede technische Strömung, jede Methode, jedes Konzept hat dabei seine eigene Herangehensweise. Manche Kollegen werben mit dem Slogan: „Wir bieten die Lösung für alle Deine Probleme!“ Manche weisen ihre Schüler darauf hin, dass Singenlernen ein langer, schwerer und steiniger Weg ist, der vor allem mit viel Disziplin und Arbeit verbunden ist. Manche sagen dieses, andere das genaue Gegenteil, jeder weiß genau Bescheid und möchte sich vor allem gut verkaufen und von den Anderen möglichst klar abgrenzen. Manche Randphänomene versuchen dieser Mühle zu entfliehen und finden ihre handvoll „Verrückte“ die im gängigen „System“ an ihre Grenzen gestoßen sind. Wo hat in all dem die ganz persönliche Stimm- und Singsehnsucht ihren Platz?

Wo wird nicht nur mit der Sehnsucht der Menschen Geld gescheffelt und das eigene Ego ins Zentrum gerückt, sondern wirklich Freiheitsarbeit betrieben?

Ich weiß es nicht

Ich maße mir kein Urteil an, welcher Unterricht gut oder schlecht ist. Jeder Sänger folgt seiner Sehnsucht auf ganz eigene Weise. Der eine braucht das klare technische Konzept, den anderen hindert es. Und ich glaube, dass es in jeder gesangspädogogischen Richtung solche und solche Lehrer gibt. Unter den Technikern gibt es einfühlsame, die sich ihrer Verantwortung voll bewusst sind und genauso gibt es unter den Stimm“esos“ LehrerInnen, die eigentlich nur ihre eigene gescheiterte Sängerkarriere zu verdauen haben und denen die wahren Sehnsüchte ihrer Schüler vollkommen schnuppe sind.

Vermutlich sind es genau diese, die sich nie ernsthaft auf die Suche nach ihrer eigenen inneren Freiheit gemacht haben. Die nie erlebt haben, wie es ist, wenn das eigene Herz überläuft vor Freude, weil das Singen so wohltuend ist.

Selber Verantwortung übernehmen

Ich hatte das große Glück, immer wieder Lehrer zu haben, die mich ermutigt haben, mich selber auf die Suche nach der Freiheit zu begeben. Manche Lehrer verbieten ihren Schülern bei anderen Kollegen Unterricht zu nehmen. Ich habe fast immer bei mehr als einem Lehrer gleichzeitig Unterricht gehabt. Manche Hochschulprofessoren erziehen ihre Studenten zur Abhängigkeit. Weil sie natürlich am Besten wissen, was gut für ihre Schüler ist. Leider verpassen die Schüler dadurch die wichtige Gelegenheit zu lernen, auf sich selbst zu vertrauen. Diese Schüler – auch in der Breitenarbeit gibt es diese Fälle mehr als genug – trauen ihrem eigenen Instinkt nicht. Sie kennen nicht ihre eigenen Bedürfnisse, folgen nicht dem roten Faden ihrer Sehnsucht, sondern sind immer auf die Bewertung von außen angewiesen, ob etwas richtig ist oder falsch. Sie sind es nicht gewohnt, wirklich hinzuspüren und für sich selbst Schlüsse zu ziehen, weil sie sich nie oder viel zu selten wirklich ausprobieren konnten.(vgl. Wieviel muss ich üben?)

Das eigene Puzzle

Dabei steht zumindest für mich fest, dass man das eigene innere Singpuzzle nur für sich selbst vervollständigen kann. Niemand kann einem diese Aufgabe abnehmen. Wenn ich als Lehrer immer wieder sage: Mach es so, nimm dieses Teil, es gehört dahin oder dorthin, nein, damit kannst Du jetzt noch nichts anfangen usw. dann wird mein Schüler nicht sein eigenes Puzzle lösen. Klar, ich kann und muss – das ist meine Aufgabe als Lehrer – immer wieder Impulse geben. Hinweisen auf Dinge, die der Schüler nicht oder noch nicht sehen kann. Ihm helfen seine Wahrnehmung zu schärfen, ihm Möglichkeiten aufzeigen, ihn herausfordern.

Aber das Puzzle an sich muss jeder für sich alleine lösen. Jeder Sänger entwickelt seine eigene Strategie und im Idealfall mache ich mich als Lehrer irgendwann selber überflüssig. Nicht, weil der Schüler dann „alles kann“, sondern weil er weiß, wo und wie er selber weiter suchen kann.

Genuss ist Freiheit

Immer dann, wenn ich für mich persönlich ein neues Puzzlesteinchen finde, weht mir der Wind der Freiheit um die Nase. Dann entdecke ich einen neuen Zusammenhang und es ist wie fliegen, weil das Singen plötzlich ganz leicht geht oder weil ich mich etwas traue, das ich mich zuvor nicht getraut habe. Plötzlich kann ich nicht nur eine technische Herausforderung leichter meistern, sondern mein eigener Genuss beim Singen vermehrt sich.

Im Gedächtnis geblieben ist mir in diesem Zusammenhang noch der allererste Workshop bei einer Lehrerin, die mich mittlerweile seit vielen Jahren begleitet. Das Gefühl beim Singen war unbeschreiblich. In dem Moment wusste ich: Das ist es, was ich immer gesucht habe. Das bin ich. Ich klinge. Ich singe. Es singt mich.

Ebenso erinnere ich mich an einen meiner ersten Auftritte während meines Studiums. Nach einem Lehrerwechsel hatte sich mein sängerisches Selbstbild sehr gewandelt und schon während dieses einen Liedes, das ich auf der großen Bühne der Hochschulaula singen durfte, wusste ich, hier passiert etwas, das mein Leben und Singen wegweisend in Richtung Freiheit verändert.

Feine Freiheiten

Mittlerweile sind die Erlebnisse der Freiheit kleiner, feiner und weniger spektakulär geworden. Aber immer noch bin und bleibe ich auf der Suche danach und bin von Herzen beglückt, wenn ich „einfach drauflos singen kann“. Sei es auf der Bühne, beim eigenen Üben und Ausprobieren von spannenden neuen Ideen, in Workshops oder beim Improvisieren. Zu spüren, wie die Stimme sich ihren eigenen Weg bahnt und Klang oder Groove mich wirklich durchströmen, ist immer wieder kostbar. Manchmal muss ich daran denken, dass ein Freund mir mal erzählte, dass er mit der klassischen Cellistin, die ab und an seine Band unterstützte, über eben solche Momente gesprochen hat. Sie hatte nur geantwortet, dass ihr so etwas noch nie passiert sei.

Singen ohne Sinn?

Warum mache ich Musik, wenn nicht aus dem tiefen Bedürfnis heraus, wirklich aus dem Inneren meiner Seele zu klingen? Wie kann ich Sänger sein, wenn das einzige Problem, das mich beschäftigt diese oder jene technische Schwierigkeit ist, die es zu beherrschen gibt? Wie kann ich behaupten eine Melodie, ein Lied, oder eine Arie wirklich zu können, wenn ich nicht mal drei kleine Töne ganz pur aus mir heraus einfach so singen oder über einen einfachen Rhythmus improvisieren kann?

Immer wieder begegnen mir Menschen und Sänger, die sich mit ihrer Sehnsucht auf die Suche machen wollen. Ihr Wunsch nach Freiheit ist groß genug, dass sie beschließen sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen. Der Schritt über diese Schwelle ist sicher nicht leicht. Denn der Gegenpol der Freiheit ist bekanntlich die Sicherheit und die aufzugeben ist nicht immer angenehm.(vgl. Kontrollverlust – Ja Bitte!)

Freude als Sicherheitsnetz

Mit der Freiheit tritt eine neue Form von Sicherheit auf den Plan. Eine Sicherheit, die aus einem echten sängerischen Selbstbewusstsein erwächst. Eine Sicherheit, die die eigene innere Freude als Gradmesser anlegt und die sich freigemacht hat von Konkurrenz, Vergleich und äußeren Ansprüchen.

Natürlich gibt es Tage und Situationen in denen man sich mit anderen vergleicht und in denen die Konfrontation mit äußeren Ansprüchen unvermeidlich ist. Klar. Bei Vorsingen, in Proben oder einfach so. Aber es bleibt wohltuend zu wissen, dass mir das, was mir beim Singen am Wichtigsten ist – nämlich meine eigene Freude und das Gefühl von Freiheit des persönlichen Ausdrucks – niemand nehmen kann.

Wenn ich ganz ich selbst sein und mich beim Singen frei fühlen kann, bin ich sowieso am Besten. Und auf jeden Fall außer Konkurrenz.

Den roten Faden der Singsehnsucht wünscht,

Anna Stijohann

Wieviel muss ich üben?

Jeder Musiklehrer kennt diese Frage. Wieviel muss ich denn üben? Oder ein Schüler kommt am Anfang einer Stunde und beichtet: „Ich habe mal wieder nicht geübt.“ Manche kokettieren fast damit. „Ich üb ja nicht, aber …“ oder „Wenn ich üben würde, wäre das wahrscheinlich anders.“ In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bietet diese Frage auf jeden Fall reichlich Konfliktpotential. Das weiß ich noch gut aus eigener Erfahrung. In meiner Arbeit im STIMMSINN und auch als Chorleiterin habe ich aber vor allem mit Erwachsenen zu tun und wundere mich doch das ein oder andere Mal, wenn mir Menschen diese Frage stellen. Meine Antwort ist stets die gleiche. Niemand muss üben, aber, ja, es hilft voran zu kommen.

Woher kommt der Druck?

In unserer Leistungsgesellschaft tun wir die allerwenigsten Dinge einfach, weil sie Freude machen. Wir beschäftigen uns vor allem mit „sinnvollen“ Dingen und betreiben Daueroptimierung. Natürlich ist mir das klar und natürlich ist das Lernen eines Instruments – und dazu zähle ich auch den Gesang – mit Übung verbunden. Dennoch versuche ich meine Schüler auf eine andere „Übeschiene“ zu locken. Ich arbeite im Unterricht sehr spielerisch und versuche die Entdeckungslust und Experimentierfreude der Menschen wieder zu wecken. Denn nur so kann wirklich nachhaltiges Üben stattfinden. Wenn ich mir meinen knapp dreijährigen Sohn anschaue, kann ich viel übers Üben lernen. Er übt allerhand Dinge jeden Tag. Mit einigen Dingen beschäftigt er sich, weil er sie gerne können möchte. Zum Beispiel selber Saft einschenken, Kaffee kochen, den Computer bedienen. Aber egal was er übt, eine Bedingung muss immer erfüllt sein. Das, was er tut, muss interessant genug sein, sich damit zu beschäftigen und vor allem Spaß machen.

Wenn mich etwas interessiert, beschäftige ich mich damit

Genau diesen Grundsatz versuche ich meinen Schülern nahezulegen. Habt Vertrauen! Wenn wir etwas im Unterricht machen, einen Stein anstoßen, ein neues Singgefühl erkunden oder ein neues Musikstück anfangen, dann werdet ihr schon üben. Und wenn nicht, dann ist das, was wir gemacht haben, noch nicht interessant genug. Dann braucht es vielleicht noch eine andere Anregung oder der Moment ist einfach nicht der richtige. Irgendwann siegt die persönliche Neugier. Neulich kam z.B. eine meiner Anfängerinnen in den Unterricht und erzählte total begeistert davon, wie sie „so richtig lange“ zuhause mit einem Ball im Rücken an die Wand gelehnt und in Bewegung gesungen hatte und dabei „ganz tolle Sachen“ entdeckt hat. So ähnlich hatten wir es im Unterricht auch gemacht und offensichtlich hatte der Sog der Neugier sie gepackt.

Üben heißt nicht nur Tonleitern rauf und runter singen

Manchmal fragen mich Schüler nach einer tollen, experimentellen und spielerischen Stunde, „was sie denn jetzt üben sollten?“. Menschen können sich kaum vorstellen, dass Gesang-Üben nicht notwendigerweise mit dem Singen von Tonleitern oder anderen Übungen, die schwierig sind und harter Arbeit bedürfen, verknüpft ist. Die „Spielchen“, die wir im Unterricht machen, nehmen Schüler, die mich und meine Arbeitsweise noch nicht so gut kennen, manchmal gar nicht so ernst, als dass es sich lohnen würde, diese Dinge zuhause zu „Üben“.

Üben darf leicht gehen und Freude machen. Denn sonst kann ich es mir gleich sparen. Wir möchten mit Freude Singen, warum sollten wir nicht mit Freude üben?

Die Dauer ist nicht entscheidend

Meine Lehrerin in der Musikhochschule hat mir zu Beginn meines Studiums gesagt, ich solle bloß nicht zu viel üben. Das hat mich verwundert. Sie wollte mich damit vor zu verbissenem Üben warnen. Aber auch vor unbedachtem, zeitabsitzendem Üben, stupidem Tonleiterjodeln und Tönebimsen. Die Zeit in der ich übe ist nicht entscheidend. Ich kann eine Stunde üben und es bringt überhaupt nichts, oder ich kann fünf Minuten üben und ich entdecke etwas Elementares, das mich in meinem Singen wirklich voran bringt. Wichtig ist, mit welcher Aufmerksamkeit ich bei der Sache bin. Wenn ich wirklich eintauche in ein Spiel oder eine Übung und das Wesentliche erlebe und es mir wichtig und einprägsam erscheint, reicht das häufig schon als Anstoß für Veränderung und Weiterentwicklung. Neu und interessant sind dabei Schlüsselworte, die uns zeigen können, wohin der Weg weitergeht. Dieses Neue ganz intensiv wahrzunehmen und in eigene Worte zu fassen hilft dem Körper, der Stimme und dem Verstand die Dinge zu begreifen, die dann beim nächsten Mal als Anknüpfungspunkt dienen, das Verständnis noch weiter zu vertiefen.

Auch Wahrnehmen kann man üben

Die wichtigste Voraussetzung für ein Lernen, das aus dem Schüler selbst passiert, ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung. Das kann die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner inneren Zusammenhänge oder Schwingungsfähigkeit sein, aber auch das Lauschen auf die feinen hörbaren Unterschiede der Stimme im Raum oder in ihrer inneren Resonanz. Auch das Wahrnehmen der eigenen Denk- und Lernmuster kann man üben. Je genauer wir lernen die Dinge wahrzunehmen, wie sie sind, desto feiner und effektiver können wir üben. Wer seine eigenen Verspannungen wahrnimmt, hat eine größere Chance sie zu lösen. Wer merkt, dass das Singen plötzlich weniger anstrengend ist, wird wieder nach dieser Leichtigkeit suchen, wer unterschiedliche Resonanzräume erlebt, kann sich mit seiner Stimme besser orientieren.

Auch Wahrnehmen kann und muss man üben. Das braucht Zeit, ist aber von elementarer Bedeutung. Und das Gute daran: Wahrnehmen üben können wir immer und überall.

Üben im Alltag

Als Sänger haben wir gegenüber den Instrumentalisten einen entscheidenden Vorteil. Wir tragen unser Instrument immer und überall mit uns herum. Somit ist es möglich immer und überall zu üben ohne sich extra Übezeit nehmen zu müssen. Dieses Üben im Alltag wird oft unterschätzt oder gar nicht als solches erlebt. Wie schade, denn genau hierhin bahnen sich die Dinge ihren Weg, die uns bedeutsam erscheinen. Die Erinnerung an eine Übung oder ein Gefühl aus dem Unterricht taucht plötzlich auf und wir können uns ihr direkt widmen. Wir können beim Blumengießen die Unabhängigkeit von Lippen, Zunge und Kiefer üben, können mit dem Fahrrad über Kopfsteinpflaster fahren um die Stimme loszuschütteln (vgl. Geschüttelt nicht gerührt). Wir können in der Straßenbahn auf unseren Atem lauschen oder innerlich den Beckenboden erkunden. Beim Telefonieren können wir unbeobachtet unser Becken oder den Brustkorb in Bewegung bringen (vgl. Bewegung als Schalter) und dabei vielleicht sogar merken, dass wir den Menschen am anderen Ende der Leitung direkter erreichen als vorher.

Singen üben hat viele Ebenen

Üben hat viele verschiedene Facetten und es kann sehr helfen, sich selbst und die Schüler immer wieder daran zu erinnern. Seine Stimme zu erkunden kann losgelöst von einem musikalischen Kontext sinnvoll sein, aber auch mal mitten drin. Mal möchte ich eine Stelle oder ein Problem ganz genau unter die Lupe nehmen, mal suche ich größere Zusammenhänge. Ein Lied können heißt nicht nur zu wissen, wann ich welchen Ton mit welchem Text singen muss. Ich möchte mir auch innere Bilder erschaffen und einen mir passenden Spannungsbogen finden. Das kann ich in Gedanken auch morgens an der Bushaltestelle. Rhythmen lassen sich hervorragend beim Gehen erforschen. Auch das aufmerksame Hören von Musik gehört für mich zum Üben. Solange ich mich irgendwie mit meiner Wahrnehmung oder etwas anderem, das im weitestens Sinne mit meiner Stimme, meinem Körper, meinem Atem, einem Musikstück oder sonstigen musikalischen Phänomenen zu tun hat, beschäftige, übe ich.

Üben in der musikalischen Wirklichkeit

Sobald die allerersten musikalischen Schritte gegangen sind, wird das Üben in der musikalischen Wirklichkeit wichtig. Such Dir einen Chor oder eine Band, sing mit Freunden oder begleite Dich selbst auf der Gitarre! Das rate ich meinen fortgeschrittenen Anfängern. So lernen sie nach und nach, selber die Verantwortung für ihr weiteres Lernen zu übernehmen. Ich als Lehrer werde immer unwichtiger bzw. kann dann im Unterricht viel gezielter auf Dinge eingehen, die der Schüler in anderen Zusammenhängen selber schon erforscht hat. Beim feuchtfröhlichen Rudelsingen mit hundert anderen Sängern kann ich im Schutz der Gruppe meine Scheu überwinden. Im Chor bekomme ich durch den Chorleiter und die musikalischen Anforderungen neue Anregungen. Das, was ich schon gelernt habe, kann sich festigen und neue interessante Fragen tauchen auf. Ich bekomme ein Gefühl dafür, was mir bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist und kann lernen zu dem zu stehen, was gerade ist.

Der eine übt, der andere nicht

Üben heißt für mich, Zusammenhänge erkennen. Habe ich für eine Sache wirklich Feuer gefangen, habe ich auch Lust diese immer wieder aufzusuchen. So kann ich an meinen Aufgaben wachsen. Wer sich nicht immer wieder selber auf diese Suche begibt, kommt nicht voran, denn kein Gesangslehrer, kein Chorleiter, kein Bandleader und auch sonst niemand kann das stellvertretend übernehmen. Natürlich gibt es neugierige Zeiten und weniger neugierige. Ebenso neugierige Menschen und weniger neugierige.

Ich als Lehrer und Chorleiter der äußerst lernhungrigen Spezies muss mir das immer wieder vergegenwärtigen und meine Ungeduld zügeln, wenn ich zum x-ten Mal versuche in einem Schüler oder einem Chor die Übelust zu entfachen.

Jeder muss selber entscheiden, wieviel er üben will. Nichts muss, aber es hilft ungemein.

Neue Übelust und gierigen Lernappetit wünscht,

Anna Stijohann

Seufzen auf Krankenschein

Seit einiger Zeit biete ich einmal wöchentlich eine Körperklangstunde an. Dabei geht es nicht um schöne Töne oder Singen als Kunstform sondern um das pure Erlebnis. Es geht ums Tönen, Seufzen, Summen, Brummen, Atmen, Singen und vor allem ums Ausprobieren. Ein Experimentierraum für Stimme und Bewegung, ein Wahrnehmungsraum rund um Körper, Klang, Rhythmus und Lebendigkeit. Bei der letzten Körperklangstunde bekam ich eine besonders schöne Rückmeldung einer neuen Teilnehmerin. „Das hier sollte es auf Krankenschein geben!“

Tönen, summen, seufzen

Unser Alltag ist klangarm. Nicht geräuscharm – im Gegenteil – aber wir selbst geben nur wenig Töne ab. Abgesehen vom Sprechen sind menschliche Stimmäußerungen in unserer Gesellschaft fast verschwunden. Selbst im privaten Rahmen seufzen, jammern, jaulen oder juchzen wir nur noch selten. Dabei brauchen wir eben diese stimmlichen Ausdrücke dringend für unser Wohlbefinden. Sich stimmlich zu äußern erlaubt es uns innere Spannungen, Wohl- oder Unwohlsein nach Außen zu bringen und die damit verbundenen Gefühle auf diese Weise zu transformieren. Kinder tun das den ganzen Tag. Es vergeht kaum eine Minute, in der mein kleiner Sohn (2 ½) sich nicht stimmlich äußert. Stimme und Gemüt sind direkt verknüpft und nicht nur durch Schreien oder Quengeln bauen Kinder Spannung ab. Kinder erleben und genießen auch ihre Lust am Töne machen. Sie können stundenlang mit ihrer Stimme herumexperimentieren. Warum haben wir Erwachsene es damit so schwer? Was hält uns davon ab zu fauchen, zu schnauben, zu zischen, zu brummen und zu gackern? Und was passiert, wenn sich plötzlich ein Raum öffnet, in dem all das sein darf, ja sogar erwünscht ist?

Sich stimmlich äußern heißt sich zeigen

Jeder von uns hat das Bedürfnis, sich zu zeigen. Mensch zu sein mit allem, was zu ihm gehört. Wir möchten akzeptiert und geliebt werden wie wir sind. Doch sich zeigen ist mit einem persönlichen Risiko verbunden. Jeder von uns hat in seiner Kindheit und Jugend unzählige Male erlebt, dass er von einem Erwachsenen dafür gerügt wurde, dass er „komische Geräusche“ gemacht hat oder sich sonstwie „schlecht benommen hat“. Zu laut gelacht, zu schrill gequietscht, zu schief gesungen, zu nervig getrommelt, zu penetrant gestampft, zu wild gezappelt. Na klar, manche dieser Situationen hatte einzig und allein das Ziel dem Erwachsenen auf die Nerven zu gehen, aber viele andere sicher nicht. Sie waren Ausdruck unserer inneren Befindlichkeit und Laune oder haben einfach Spaß gemacht. Unsere Gesellschaft akzeptiert solches Verhalten bei erwachsenen Personen jedoch nicht und deswegen haben wir es uns schlicht abgewöhnt. Das Singen an sich ist dabei ein Sonderfall, denn „zivilisiertes Singen“ ist ja durchaus erwünscht. Es sei denn es findet auf der Straße, in der U-Bahn oder in einem Supermarkt statt.(vgl. Was ist eine schöne Stimme?)

Wo bleibt die Lebensfreude?

Dass wir uns kaum mehr gestatten, die Geräusche und Klänge von uns zu geben, die in uns sind und die sich eigentlich ausdrücken möchten, halte ich für äußerst ungesund. Wir schneiden uns ab von einem Teil unserer ureigensten Lebendigkeit und verneinen das, was uns menschlich macht. Ecken und Kanten, Wünsche und Sehnsüchte, Freude und Schmerz und insbesondere auch Körperlichkeit und Lust. Wir erleben Kinder genau aus dem Grund als „lebendig“ oder „lebensfroh“, weil sie sich bewegen, singen, tanzen, Geräusche machen, lachen, hüpfen und spielen. Wir Erwachsenen erleiden im Gegenzug genau deswegen oft einen Mangel an Lebendigkeit und Lebensfreude, weil wir all diese Dinge nicht tun. Und nicht nur auf der Gefühlsebene bleiben wir unter unserem Potential sondern auch körperlich. Unser faszinierender Körper kann viele Dinge selbst regulieren. Unser Nervensystem ist Spezialist darin, mit Stresssituationen umzugehen und im Anschluss daran eine innere Balance wieder herzustellen. Wichtigste Voraussetzung dafür ist unser innerer Kontakt mit dem Körper und uns selbst.

Sprung über die Schwelle

In meiner Körperklangstunde versuche ich einen Raum zu schaffen, in dem für all die oben genannten Dinge Platz ist. Über Bewegungen wird spielerisch die Stimme angeregt (vgl. Bewegung als Schalter) und durch Vorstellungs- und Wahrnehmungsaufgaben wird die Experimentierlust geweckt. Am Anfang der Stunde sind die TeilnehmerInnen meist noch sehr verhalten, aber nach und nach finden sie Freude am Ausprobieren und Erleben der eigenen Stimme. Das innere Kind wird sanft wieder hervorgelockt und es ist ein befreiendes Gefühl, Klänge und Geräusche machen zu dürfen, die man als Erwachsener sonst einfach „nicht macht“. Natürlich wird man – mich eingeschlossen – auf diese Weise auch mit Themen konfrontiert, die die eigene Persönlichkeit betreffen. Bin ich zu laut oder zu leise? Tue ich das Richtige? Wie gehe ich mit einer Anweisung um, die mir total fremd ist? Wie verhalte ich mich, wenn mich etwas begeistert oder nervt? Sich in einer Gruppe, die man vielleicht noch nicht gut oder sogar gar nicht kennt, so pur zu zeigen braucht auf jeden Fall Mut. Ist der Sprung über die Schwelle aber erstmal geschafft, kann die Freude ganz von selbst wirken. Die seelische Gesundheit und das Selbstbewusstsein profitieren alle mal.

Im eigenen Körper lebendig sein

Aber auch das körperliche Wohlbefinden wird durch die Stimmarbeit angeregt. Schon durch eine „normale Chorprobe“ werden Glückshormone u.ä. ausgeschüttet. Darüber haben andere Autoren häufig genug geschrieben. Beim freien Tönen und Singen, bei dem es in keinster Weise um ein Ergebnis sondern ums Erlebnis geht, geht die körperliche Reichweite noch tiefer. Ganz bewusst zu erleben, dass der eigene Körper schwingt, pulsiert und vibriert ist ein intensives Auskosten der eigenen Lebendigkeit. Atemrhythmus und Herzschlag bewusst wahrzunehmen bringt uns direkt in Kontakt mit dem, was uns am Leben hält. Diese Rhythmen als Basis für Improvisation und Rhythmusspiele zu nutzen (vgl. Rhythmusarbeit ist Stimmarbeit) macht nicht nur riesig Spaß, sondern lädt uns mit Energie auf und macht schlicht glücklich.

Vielschichtige Körperarbeit

Besonders auf der Faszienebene findet durch die Verbindung von Körperarbeit und Stimme Anregung statt, die sich ganz konkret in mehr Beweglichkeit und Bewegungsfreude, in müheloserer Aufrichtung und somit ökonomischerer Nutzung unserer Muskulatur äußert. Das fühlt sich gut an und ist definitiv gesund. Wenn ich mich mehr in meinem eigenen Körper zuhause zu fühle, bewege ich mich sicherer durch meinen Alltag und unsere schnelllebige Welt. Ich bin gelassener und gerate nicht so leicht in Stress. Die spürbaren Vibrationen der Stimme durchdringen den ganzen Körper und können so auch auf sehr feinen inneren Ebenen ihre Wirkung entfalten. Durch das Experimentieren ohne Anspruch auf Schönheit oder künstlerische Verwertbarkeit entdecke ich Resonanzen und Zusammenhänge ganz allein aus mir selbst heraus. Auf diese Weise wird gleichzeitig meine Wahrnehmung geschult, die für ein gutes Körpergefühl unerlässlich ist und im Endeffekt dazu führt, dass ich lerne immer genauer zu wissen was ich eigentlich brauche, damit es mir – nicht nur beim Singen – gut geht.

Aufgehoben in der Gruppe

Kann ich eine solche Körperstimmarbeit auch alleine machen? Ja und nein. Sicher ist es besser mit sich allein zu tönen und zu seufzen, als gar nicht. Jedoch ist die Wirkung einer Gruppe Gleichgesinnter nicht zu unterschätzen. Gemeinsam „Dummheiten“ zu machen ist auf jeden Fall leichter, als auf sich allein gestellt zu sein. Macht sich einer „zum Affen“, haben auch alle anderen die Erlaubnis dasselbe zu tun. Lässt einer in der Gruppe seiner Stimme freien Lauf, trauen sich auch die anderen mehr. Das erlebe ich oft in Gruppen, die von ihrer Erfahrung her sehr heterogen sind. Erfahrene Töner und Klinger ermuntern die Unsicheren, auch mehr und mehr loszulassen. Beim gemeinsamen Ausprobieren von Klängen und Improvisieren ist es wohltuend, sich mit den anderen Stimmen zu verzahnen und sich in ein Ganzes einzufügen. Und das entspricht ja auch einer unserer größten Sehnsüchte. Wir möchten dazugehören und unseren Anteil mitgestalten.

Im Sinne einer vielschichtigen, gesundheitsunterstützenden Maßnahme kann uns also nichts Besseres passieren als eine genussvolle Körperklangstunde 🙂

Ich glaube, ich rufe morgen mal bei der Krankenkasse an…

Kindliche Klanglust und tiefgreifende Gesundheit wünscht,

Anna Stijohann

Intuition und Singen

In meinem Kurs „Anders Denken – Anders Singen“ am ersten Samstag diesen Jahres ging es unter anderem um den Begriff „Intuition“. Um natürlich und stimmig zu singen, braucht es meines Erachtens nach eine gute Portion Intuition. Aber was bedeutet das eigentlich? Heißt intuitiv Singen einfach „aus dem Bauch heraus“ zu singen? Bedeutet das, dass dem Einen das Talent in die Wiege gelegt ist und dem anderen nicht? Kann ich intuitives Singen lernen? Gibt es ganz allgemein so etwas wie intuitives Lernen? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Intuition als eine Spielart des Denkens

Singen ist, wie ich in meinem Artikel „Singen ist nicht kompliziert“ schon vor längerer Zeit beschrieben habe, eine komplexe Angelegenheit und deswegen auf Selbstorganisationsprozesse angewiesen. Und genau an dieser Stelle kommt für mich der Begriff „Intuition“ ins Spiel. Aber eins nach dem anderen. Meine Inspiration zu diesen Überlegungen entstammt übrigens dem Buch „Quantensprung des Denkens“ meiner Lieblingsphilosophin NATALIE KNAPP. KNAPP nennt die Intuition eine „Form des Denkens“. Wie kann das sein? Denken und Intuition scheinen sich beim ersten Hinschauen zu widersprechen. NATALIE KNAPP definiert Denken „als das Ordnen und Strukturieren von Wahrnehmungen“. Die Ordnungssysteme können dabei ganz unterschiedlicher Art sein (vgl. Analoges Denken). Wir benutzen den Begriff Denken im Alltag meist synonym mit dem, was KNAPP „rationales Denken“ nennt. Dabei geht es um Analysieren, Zerlegen, logisches Folgern und die Bewertung des Ergebnisses mit richtig oder falsch, mit gut oder schlecht.

Unbewusste Intuition

Im Kontrast dazu steht unser Alltagsbegriff der „Intuition“. „Aus dem Bauch heraus“, „spontan“ und „unreflektiert“ sind Begriffe, die uns sofort in den Sinn kommen. Auf diese Form der Intuition sind wir im Alltag elementar angewiesen. Müssten wir jeden Tag alle Entscheidungen neu treffen und immer wieder rational abwägen, wären wir mit selbstverständlichen Dingen wie Zähneputzen oder Kaffeekochen schnell überfordert. Das ist beim Singen nicht anders. Gewisse Denkprozesse laufen unbewusst ab und Entscheidungen und Handlungsmuster werden innerhalb von kürzester Zeit ohne unsere direkte Kontrolle getroffen bzw. aktiviert.

Und genau das ist der Vorteil der Intuition. Besonders in komplexen Zusammenhängen ist die intuitive Entscheidung einfach viel schneller als die rationale. Da macht es keinen Unterschied, ob wir beispielsweise ein Auto kaufen oder innerhalb eines Liedes Entscheidungen treffen möchten. In beiden Fällen kann unser Unbewusstes äußerst effektiv helfen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der unbewusste Teil unseres Denkens etwas hat, auf dessen Basis er seine Entscheidungen treffen kann. KNAPP nennt diese Basis Gedankenformen.

Gedankenformen

Gedankenformen sind Denkmuster, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Strukturen, die sich als effektiv herausgestellt haben und die wir wieder und wieder benutzen, bis sie uns so vertraut sind, dass sie in unser Unterbewusstsein übergegangen sind. Auch beim Singen sind wir auf solche Gedankenformen angewiesen. Vielleicht scheint uns dort das Handeln wichtiger als das Denken und somit Handlungsformen bedeutsamer als Gedankenformen. Nehmen wir aber NATALIE KNAPPS Definition des Denkens (Ordnen von Wahrnehmungen s.o.), so sind die Gedankenformen auch im Singen präsent.

Die Einschätzung der stimmlichen Tagesform und damit verbunden die Wahl unseres Einsing- oder Regenerationsprogramms könnte so eine Gedankenform sein. Weiterhin die Verortung und Ansteuerung von Resonanzräumen in uns und in Bezug zum Raum in dem wir singen. Klangfarben und Dynamikgestaltung wird im besten Falle ebenfalls über vorhandene Gedankenformen abgerufen bzw. über den Vorgang der unbewussten Intuition, die auf die Gedankenformen zurückgreift.

Intuition braucht Erfahrung

Nicht jede intuitive Entscheidung ist eine passende. Kenne ich mich auf einem Gebiet gut aus, werde ich intuitiv auch angemessen entscheiden. Ein erfahrener Koch wird intuitiv eher ein leckeres Abendessen zaubern als jemand der sonst nie kocht. Je intensiver wir uns mit einer Sache beschäftigt haben, desto vielschichtiger sind unsere Gedankenformen dazu. Wer viel Auto fährt hat vermutlich mehr und differenziertere Gedankenformen in Bezug auf den Straßenverkehr usw.

Damit wir also beim Singen intuitiv auf einen möglichst großen und vielseitigen Pool an Erfahrungen und Entscheidungen zurückgreifen können, ist es wichtig, dass wir diese vielseitigen Erfahrungen machen und immer wieder üben bis sie uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. Es ist wichtig, dass wir immer wieder unsere Wahrnehmungen ordnen – nicht nur rein rational, sondern auf verschiedenste Arten z.B. durch unser Körpergedächtnis oder das Analogisieren. Das Hören von Musik und somit das Einfühlen in eine bestimme genrebestimmte Musik- und Gesangsästhetik, die dann, wenn wir uns selber auf diesem Gebiet bewegen, intuitiv einfließen kann, fällt für mich ebenfalls unter diese Kategorie.

Bewusste Intuition

Wie aber funktioniert dann lernen? Wie kann ich zu neuen Erkenntnissen kommen, die über meine bisherigen Gedankenformen hinausgehen? Auch hier können wir unsere Intuition bemühen. Allerdings nicht die oben beschriebene spontane, unbewusste, sondern – wie KNAPP sie nennt – eine „bewusste Intuition“.

Ich möchte ein Beispiel aus meinem Alltag bemühen zu verdeutlichen, was damit gemeint sein könnte.

Nehmen wir an, ich möchte meine Wohnung umräumen. Mit der Aufteilung der Zimmer und auch mit den Stauraummöglichkeiten bin ich unzufrieden. Die Wohnung ist klein, die Möglichkeiten sind scheinbar begrenzt, jedes Familienmitglied hat seine Bedürfnisse und Wünsche, die zunächst kaum kompatibel erscheinen. Was kann ich tun?

Für gewöhnlich zeigt sich in mir zunächst der Wunsch nach Veränderung. Dann schleiche ich einige Tage wie „die Katze um den heißen Brei herum“. Ich beginne weder spontan und sofort mit dem Umräumen, noch mache ich mir aktiv darüber Gedanken, wie wohl die beste und platzsparendste Möglichkeit aussehen würde. Ich lasse die Situation auf mich wirken. Ich erlaube innere Bilder und Bewegungen. Nehme meine Gedanken und Impulse, aber auch Stimmungen und Atmosphärisches wahr und versuche gleichzeitig, diese nicht direkt zu bewerten.

Um das tun zu können, muss ich meine Gedankenformen gut kennen um zu vermeiden, dass ich nur zu einer Lösung komme, die ich bereits kenne und die für die aktuelle Situation nicht taugt. Ich nehme eine beobachtende Haltung ein und versuche die Situation als Ganzes zu erfassen. Ich lasse zu, dass ich manche Fragen (noch) nicht beantworten kann und Zusammenhänge nicht verstehe.
Und irgendwann taucht eine ganz neue Möglichkeit auf. Eine Möglichkeit, die mein rationaler Verstand nicht zustande gebracht hätte. Plötzlich weiß ich, welches Regal ich noch brauche, wo es stehen muss und welche anderen Möbel ich wohin bewegen muss, damit alle Familienmitglieder zufrieden sind. Eine wirklich neue Erkenntnis stellt sich ein.

Bewusste Intuition beim Singen

Wie kann ich diese offene, sich selbst ordnende (vgl. Synergetik) Spielart des Denkens nun für mein Singen nutzen? Zunächst möchte ich sagen, dass es sowohl auf Seiten des Lernenden, als auch von der Position des Lehrers her durchaus eine große Herausforderung sein kann, sich auf diese Lernform einzulassen. Nicht immer ist es leicht, Fragen unbeantwortet zu lassen und zu akzeptieren, dass ich bestimmte Dinge gerade nicht verstehe.

Gerade als erfahrerener Pädagoge – und da nehme ich mich auf keinen Fall aus – hat man schnell und gerne eine Patentlösung im Ärmel. Diese hat auch sicher ihre Berechtigung und eine gute und spontane Intuition, was ein Schüler gerade braucht, ist fürs Unterrichten elementar nötig. Aber manchmal können wir als Lehrer durch eine offene Haltung, die erstmal nicht bewertet und nicht immer Lösungen parat hat, einen Raum öffnen, der wirklich neue Erkenntnisse möglich macht.

Der große Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass wir den Schüler wirklich dort abholen können, wo er sich gerade befindet und die Chance hat aus sich selbst heraus zu lernen. Erlebt der Schüler z.B. einen neuen Resonanzraum oder einen anderen Zugriff auf die stimmgebende Muskulatur, so hilft es bei der Tiefe und Nachhaltigkeit dieser Erkenntnis häufig mehr, wenn der Schüler vom Lehrer angehalten wird, seine eigenen Wahrnehmungen – gerne auch schwammig und vielleicht zunächst ohne einen erkennbaren Zusammenhang – zu beschreiben und somit nach und nach für sich selbst und ganz persönlich greifbar zu machen, als wenn der Lehrer das Phänomen mit seinen Worten oder sogar einem Fachbegriff beschreibt und somit „abhakt“.

Bewusste Intuition üben

Die beobachtende Wachheit, die es braucht, damit die bewusste Intuition ihre Arbeit verrichten kann, ist eine innere Grundhaltung, die regelrecht geübt werden muss. Damit die Verschiebung der eigenen Aufmerksamkeit weg von Bewertungen, Leistungsdruck, Anspruchsdenken oder auch Zweifeln hin zur Jetzt-Situation, auf die es sich einzulassen gilt, gelingen kann, muss ich innehalten und die Unterrichts- oder Übesituation verlangsamen. So kriege ich leichter mit, wenn Gedankenformen greifen möchten und kann mich bewusst anders orientieren.

Wir können auch im Unterricht(en) und im eigenen Üben, wie oben in meinem Alltagsbeispiel beschrieben, um den „heißen Brei“ herumschleichen. Dann ergeben sich häufig Lernsituationen, die ganz anders sind als erwartet und fast immer mit einem wirklich neuen, tieferen Verständnis einhergehen. Auch für mich als Lehrer. Meine Unterrichtsanalogien und mein Übungsrepertoire erweitern sich oder ich begreife sogar ein stimmliches Phänomen auch für mein eigenes Singen nochmal anders.

Lust auf offene Fragen und Mut zum Nichtwissen wünscht

Anna Stijohann

P.S. Eine Neuauflage des „Anders Denken – Anders Singen“ – Kurses gibt es am So, den 16.07.2017

Jubilieren gegen Höhenangst

Ich arbeite in meinem Unterricht und in meinen Chören mit Sängern ganz unterschiedlichen Levels. Wenn ich mit Anfängern arbeite, höre ich häufig den Satz: „Ich kann nicht hoch singen.“ Manchmal auch in der Form: „Meine Stimme ist immer so piepsig oder schrill, wenn ich hohe Töne singe.“ Gerade in den letzten Wochen habe ich mich besonders über diese „Höhenangst“ gefreut, denn es gibt kein besseres Mittel dagegen als Jauchzen, Frohlocken und Jubilieren. Und wann könnte man das besser tun, als zur Weihnachtszeit.

Die vertraute Mitte

Jede Tonhöhe geht für mich – je nach Genre nochmal in ihrer Qualität unterschiedlich – mit bestimmten inneren Haltungen einher. Solange wir in unserer gewohnten Sprechlage singen, fühlen sich die meisten Menschen dabei mehr oder weniger wohl. Hier kennen wir die feinen Nuancen, in denen die Stimme sich modulieren lässt und wir sind es gewohnt uns in dieser Lage auszudrücken. Verschiedene Emotionen und die damit einher gehenden unterschiedlichen Klangfarben unserer Stimme sind uns in dem Rahmen vertraut, in dem wir gewohnt sind, diese im Alltag zu zeigen. Unsere deutsche Sprache ist dabei aber lange nicht so ausladend wie zum Beispiel die italienische. Wir benutzen einen viel kleineren Umfang unserer Stimme, schimpfen, johlen, zetern und kieksen weniger als unsere südeuropäischen Nachbarn.

Was wir nicht kennen, können wir nicht

Auch die Weichheit oder Durchschlagskraft unserer Alltagsstimme hat meiner Meinung nach, viel mit den klanglichen Aspekten unserer Singstimme zu tun. Sind wir gewohnt uns im Alltag stimmlich eher bedeckt zu halten, werden wir das beim Singen vermutlich auch tun. Haben wir viel mit Kindern zu tun, z.B. als LehrerInnen und ErzieherInnen, so treten häufig gerade die hellen, durchdringend-schrillen Frequenzen hervor, die auch in Kinderstimmen vorkommen. Arbeiten wir draußen oder sind glühender Fußballfan, so sind wir es vielleicht gewohnt zu rufen und das Singen mit eher rufendem Klangcharakter ist uns vertraut und gibt uns Sicherheit. Wenn wir es nicht gewohnt sind, einen Säugling in den Schlaf zu singen, werden uns weiche, zerbrechliche Stimmklänge in unserer eigenen Stimme vermutlich fremd und von keinem besonderen Wert vorkommen.

Hoch singen ist gefährlich

Das Singen in höherer Lage ist in diesem Zusammenhang eine spezielle Angelegenheit, denn wir benutzen z.B. als Frau die Töne oberhalb von a‘ (zusätzlich natürlich abhängig von der Höhe unserer Sprechstimme) im Alltag sehr selten. Wenn ich meine höhenängstlichen Schüler darauf aufmerksam mache, sind diese meist erleichtert. Woher sollen sie wissen, wie man der Stimme hohe Töne entlockt, wenn sie es im Alltag nie tun? Als Frau seine Stimme so zu erheben, wird je nach Kontext schnell als Hysterie oder Unreife abgetan. Wir exponieren uns mit hohen Tönen ganz besonders und scheuen uns deswegen häufig, diese Stimm-Regionen aufzusuchen.

Vor allem drei Grundemotionen erwähne ich in diesem Zusammenhang immer wieder, um deutlich zu machen, dass hohe Töne eigentlich etwas ganz Normales sind, das wir aber durch unsere Erziehung und auch unsere kulturelle Prägung größtenteils abgelegt haben.

Es sind Jubel, Schmerz und Lust.

Jubel, Schmerz und Lust

Schaut man sich Kinder an, so zeigen diese drei Bereiche völlig offensichtlich, dass jeder Mensch naturgegeben hohe Töne erzeugen kann. Quietschen aus purer Freude über etwas oder sogar aus simpler Lust am Quietschen selbst können schon die Allerkleinsten. An der Tonhöhe des Geschreis meines zweijährigen Sohnes kann ich relativ sicher heraushören, ob er Schmerzen hat, weil er sich verletzt hat, oder schlicht wütend ist. Erwachsene Menschen schreien – abgesehen von einer Geburt – heutzutage jedoch in den allerwenigsten Fällen aus Schmerz. Das Wehklagen aus innerem Schmerz – z.B. dem Verlust eines Angehörigen – ist in unserer Gesellschaft ebenfalls nicht mehr existent. In anderen Kulturen sieht das anders aus.
Lustschreie in den höchsten Tönen erlaubt sich – aus Rücksicht auf die schlafenden Kinder oder Nachbarn oder aus persönlicher Scham – auch längst nicht jeder. Dabei ist es genau das, was es an Energie braucht um hohe Töne – ganz gleich ob Mozart oder Mariah Carey – zu singen und auszukosten.
Das Jubeln ist als emotionaler Ausdruck gesellschaftlich noch am häufigsten präsent. Zumindest in den Jahren, in denen Fußballwelt- oder Europameisterschaften stattfinden, jubelt der ein oder andere und putzt so unbemerkt durch einige der sonst wenig benutzten Resonanzräume.

Voll und ganz klingen ist ein Genuss

In meinen Seminaren, aber auch im Einzelunterricht und sogar von Zeit zu Zeit im Chor, arbeite ich mit Stimmmassagen nach Renate Schulze-Schindler. Das besondere bei diesen Massagen ist, dass derjenige, der massiert wird, während der Massage tönt. Durch Klopfen, Schütteln, Vibrieren, das Spiel mit der Schwerkraft und dem eigenen Körpergewicht nimmt der Massierende Kontakt mit der Stimme des Massierten auf und lockt diese immer mehr, sich zu befreien und völlig ungefiltert zu tönen. Die tiefsten Tiefen werden dabei genauso ausgelotet wie die höchsten Höhen. Wenn ich es schaffe, meine Stimme ganz an die Hände des Massierenden abzugeben, werde ich voll und ganz durchklungen. Gerade die vollkörperlich- klassischen Klänge in der Höhe wirken dabei wie ein „Pfeifenputzer“, der durch alle Resonanzräume fegt und nach der Rückkehr zur Stille häufig noch ein intensives Nachkribbeln hinterlässt. Die Lebendigkeit und Lust beim Tönen in den höchsten Höhen kann ich auch den Menschen, die wie ich hauptsächlich z.B. Pop, Jazz oder Ähnliches singen nur ans Herz legen. Das „Schallern“, wie ich es gerne nenne, öffnet Klangräume, die anders nur schwer zugänglich sind und die das gesamte Klangbild und den eigenen Sound auch in der unteren und mittleren Lage runder, vielfältiger und klangvoller werden lassen.

Weihnachtlicher Jubelgesang

Die meisten von uns haben ein sehr kindlich-freudiges Verhältnis zu Weihnachten. Die Festlichkeit, der Zauber und die durch und durch empfundene Freude ist bei manchen von uns vielleicht etwas verschollen und durch die Sorgen, Nöte und Katastrophen unserer schnellen Welt deutlich gedämpft, aber meistens dringt doch gerade zu Weihnachten, wenn z.B. die alten Weihnachtslieder gesungen werden, ein Funke davon wieder an die Oberfläche. Deswegen ist die weihnachtliche Festzeit genau die richtige Zeit um der stimmlichen „Höhenangst“ etwas entgegen zu setzen.

Denn was gibt es für eine bessere Zeit sich auch als Erwachsener in kindlicher Unbedarftheit zu freuen als die Weihnachtszeit? Wann könnte man besser aus purem, innerem Leuchten heraus seine Freude in die Welt hinaussingen?

Ich jedenfalls möchte, spätestens, wenn am Ende des Weihnachtsgottesdienstes die Orgel mit vollem Register „Oh Du Fröhliche“ schmettert, in den allerhöchsten Tönen jubilieren.

Ich wünsche allen regelmäßigen und unregelmäßigen STIMMSINN-Gedanken-Lesern wundervolle Festtage.

Jauchzet, frohlocket und singt aus ganzem Herzen,

Anna Stijohann