Letzte Blogbeiträge
- Verkörperung 28. Dezember 2024
- Echt sein 24. Oktober 2024
- Stimme und Sinne 2. September 2024
Wer mich kennt, weiß, dass ich mit den Begriffen richtig und falsch auf Kriegsfuß stehe. Das habe ich gefühlt in jedem zweiten meiner Blogartikel erwähnt. Heute morgen habe ich mich endlich mal wieder aufgerafft und bin Tanzen gegangen. Sprich, ich habe meinen Laptop eingepackt und bin ins STIMMSINN gefahren, wo ich viel Platz zum Bewegen habe und habe dort an einer Nia*-Zoomstunde teilgenommen. Und es tat so gut und hat mir bezüglich meines „Richtig und Falsch“ – Themas nochmal richtig Futter gegeben. Aber eins nach dem anderen.
Mein Sohn lernt gerade Schreiben und Lesen. Er ist in der ersten Klasse und wie viele Kinder in Deutschland lernt er es mit der Methode „Schreib wie Du es hörst!“.
Sprich, schon sehr früh fangen die Kinder an ganze Sätze zu schreiben, sogar kleine Geschichten. Mit Wörtern, die sie in ihrem eigenen Sprachwortschatz finden, von denen sie aber keinen blassen Schimmer haben, wie man sie „richtig“ schreibt. Die Eltern sind explizit angehalten, die Kinder so wenig wie möglich beim Schreiben zu korrigieren.
Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von dieser Methode hörte, war ich bestürzt. Oh Gott, dachte ich, wie soll das gehen? Wie soll man da jemals fehlerfrei schreiben lernen? Als die Lehrerin letzten Sommer bei der Einschulung sagt, dass unsere Kinder nach dieser Methode lernen würden, musste ich erstmal tief durchatmen.
Aber dann vor ein paar Wochen hatte ich ein spannendes Erlebnis. Unsere keineswegs zimperliche und gleichzeitig herzensgute Kinderfrau (71 Jahre, wir lieben sie heiß und innig und nennen sie manchmal liebevoll den „General“) sollte mit meinem sechsjährigen Sohn noch eine Homeschoolingaufgabe am Nachmittag machen. Als ich vom Einkaufen wiederkam, saßen die beiden am Schreibtisch und stritten sich lautstark: „Nein, das schreibt man so!!! Guckmal, k-l-e-tt-e-r-n!!! Mit zwei tt. Neee….“ Mein Sohn war den Tränen nah und völlig verwirrt. Er hat insgesamt eine sehr niedrige Frustrationstoleranz und ihn auf Fehler hinzuweisen bringt ihn sofort in Not. Wie ein störrischer Esel bewegt er sich dann weder vor noch zurück.
Ich habe unserer Kinderfrau dann erklärt, dass er in der Schule schreiben darf, wie er mag. Auch schwierige und lange Wörter. Sie war verwundert. Ein spannendes Gespräch entstand.
Ich erzählte ihr von meiner Arbeit und vom spielerischen Singenlernen – was im Endeffekt ja auch nichts anderes ist als Schreibenlernen – übers Experimentieren und Spüren.
In der Blitz-Erkenntnis, dass ich in meiner Arbeit ja ganz genau und sehr bewusst diesen Weg wähle und nicht die dualistische Welt von „richtig oder falsch“, konnte ich zum ersten Mal – nicht nur in meinem Kopf, sondern ganz und gar – verstehen, warum es sinnvoll ist, dass mein Sohn auf diese Weise Schreiben lernt. Und gleichzeitig wurde uns – dem General und mir – klar, wie tief die Strukturen von „richtig oder falsch“ in uns verankert sind. Egal wie offen und neugierig wir durch die Welt gehen, wir sind so sehr geprägt von einer Fehlerkultur, die alles betraft, was nicht der Norm entspricht. Unglaublich.
Mein Sohn schreibt fröhlich schwierige Wörter ohne Angst. Und da wird es interessant. Er tut Dinge, die er eigentlich noch gar nicht kann. Weil ihm niemand gesagt hat, dass er erst lernen muss wie es richtig geht, bevor er es tun darf.
Dieses war der zweite Gedanke, der mir in dem Moment erst wirklich klar wurde. In so vielen Bereichen unserer Welt gibt es das unausgesprochene Gesetz, dass wir Dinge nur tun dürfen, wenn wir sie können. Wir dürfen erst unsere eigenen Geschichten schreiben, wenn wir wissen, wie man die Wörter richtig schreibt. Wir dürfen uns erst ausdrücken – ganz egal mit welchem Medium – wenn wir das Handwerkszeug beherrschen.
Und beim Singen steht uns dieses Gesetz sowas von im Weg!
Vor einiger Zeit schrieb mir eine Dame eine Email mit der Anfrage für Einzelunterricht:
„Insgesamt hatte ich ca. halbes Jahr Gesangsunterricht, (…) kaufte mir selber eine Stimmgabel und traf das A auch schon relativ zuverlässig. Meine Gesagsstunden sahen immer so aus: meine Lehrerin (…) saß am Klavier und wir „erarbeiteten“ uns Töne – ich kam auch schon relativ weit auf der Tonleiter 😉
Nun (…) suche [ich] wieder eine Gesangslehrerin, denn ich möchte das, was ich in einem halben Jahr erreichte, nicht wieder verlieren – es bedeutete auch Mut für mich, da ich weiß, dass ich die Töne idR nicht treffe. Alleine traue ich mich wieder nicht zu singen (…)“
Es bricht mir das Herz, wenn ich sowas lese.
Wir dürfen Dinge tun, die wir (noch) nicht können.
Unbedingt!
Wenn sie uns Freude machen, dann sollten wir das sogar ganz dringend tun!
Wie sehr beschneiden wir uns in unserem Ausdruck, in unserer Kreativität, in unserer Lebensfreude, wenn wir uns immer abhängig davon machen, ob wir etwas richtig machen. Nicht nur verlieren wir unseren ganz eigenen Zugang zur Sache. Wir sind auch immerzu von der Rückmeldung von Außen abhängig, die uns durch eine positive Bewertung die „Tat-Erlaubnis“ gibt. Wir nehmen uns die Chance, ein Gespür dafür zu entwickeln, was uns selber gut tut, was uns weiterbringt, was der nächste Schritt auf unserem Lernweg ist, wo unsere Freude und damit unser stärkster Lernmotor schlechthin liegt.
Und da möchte ich noch einmal auf meine Nia-Tanzstunde von heute früh zurückkommen. Ich habe mein Leben lang getanzt und ich habe mich dabei sehr viel in der „richtig oder falsch“ – Welt (u.a. klassisches Ballett) bewegt. Aber bei Nia gibt es kein richtig oder falsch. Ja, es gibt eine Choreographie. Ja, man versucht als Teilnehmer*in diese Choreographie mitzutanzen. Aber es gibt überhaupt keinen Anspruch, dass man es richtig macht. Um es genauer zu sagen: Es gibt gar keinen Maßstab für das Richtigmachen. Es geht um die Freude am Tun und das Ausloten der Möglichkeiten. Die Kursleiterin gibt viele Impulse in der Stunde. „Spür Deine Vorderseite, wie willst Du Deine Arme bewegen, geh durch die verschiedenen Ebenen – Oben, Unten, Mitte, ich möchte euer Strahlen sehen, kleine oder große Bewegungen, was ist jetzt gerade für Dich richtig?“
Es geht um die Erfahrung. Das Erlebnis. Und das Ausloten der eigenen Möglichkeiten.
Und vielleicht ist das der wesentliche Unterschied zur „Richtig oder Falsch“-Welt, egal in welchem Zusammenhang. Im Vordergrund steht nicht ein Ideal. Ein Ziel. Die eine allgemeingültige Wahrheit.
Es geht um Möglichkeiten, das Dazwischen. Und in allererster Linie darum, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Damit ich mich besser ausdrücken kann. Damit sich mein Vokabular erweitert, damit ich mehr Gespür für das bekomme, was ich da tue und immer feiner wahrnehme, wie die Zusammenhänge sind.
Aber es sind eben meine Zusammenhänge.
Und damit komme ich zurück zum Schreibenlernen meines stolzen Erstklässlers. Er schreibt mit Freude, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er drückt sich aus. Gleichzeitig liest er. Er erkennt Wörter in anderen Zusammenhängen wieder. Sieht auf dem Küchenkalender, dass Mittwoch mit zwei tt geschrieben wird. Er lernt Regeln wie „ein Hund – zwei Hunde“ – ach so, dass wird dann mit d am Ende geschrieben. Sein kreativer Flow und sein Mut Geschichten zu erfinden, wird dadurch keineswegs gebremst.
Und so möchte ich es auch beim Singen lernen mit meinen Schülern handhaben. Jeder darf sich so ausdrücken, wie es seinem jetzigen Lernstand entsprechend geht. Ich als Lehrerin gebe Impulse, lenke die Wahrnehmung, ermutige, lasse Zusammenhänge deutlich werden und ja, bin auch Vorbild.
Damit keine Missverständnisse entstehen. Ich bin keineswegs dafür, jegliche ästhetischen Regeln und Formen sofort abzuschaffen und alle Klangideale über den Haufen zu werfen. Überhaupt nicht. Sie sind wunderbare Spielmöglichkeiten und haben sich in den allermeisten Fällen nicht grundlos entwickelt. Aber sie sind für mich eben auch nur Möglichkeiten. Sie können Ziel, Ansporn und Spiegel für mich sein und ich selber erlebe es immer wieder als lustvoll, mich z.B. mit einem bestimmten Klangideal oder einer Songgattung forschend auseinanderzusetzen. Aber in dem Moment, wo sich dadurch meine Ausdrucksmöglichkeiten nicht erweitern, sondern ich mich eingeschränkt fühle, lasse ich die Regeln früher oder später wieder los. Ganz einfach.
Ich bemühe mich stets darum, dass meine Schüler nicht blind irgendwelchen Regeln folgen, die von außen kommen. Ich biete Erlebnisse an und ermutige sie ihre eigenen Regeln zu finden und vor allem deren Sinnhaftigkeit in der Tiefe zu verstehen. Im Spannungsfeld von „Selber tun“ und „beobachten“ (genau wie beim Schreiben und Lesen) erarbeiten sich die Schüler*innen ihre eigenen Handlungsspielräume und erweitern diese nach und nach. Das ermöglicht ihnen, vom ersten Moment an, wirklich selber etwas zu kreieren. Nicht nur nachzubauen.
Klar, die Bauanleitung für die Lego-Raumstation ist wichtig und es erweitert das eigene Repertoire enorm, dieser Bauanleitung einmal Schritt für Schritt zu folgen. Aber wie erschaffe ich dann etwas völlig Neues? Wenn ich nun nicht die Raumstation sondern eine Unterwasserstation bauen möchte?
Ich persönlich bin jemand, der gerne die Dinge in der Tiefe versteht um dann selber daraus etwas zu erschaffen. Ich mag z.B. Socken stricken. Und ja, die ersten 10 Mal musste ich jedes Mal meine Mutter anrufen und nachfragen, wie das mit der Ferse nochmal ging. Mittlerweile habe ich das Prinzip verstanden und kann Socken nicht nur in Größe 39, sondern auch in Größe 27 oder 43 stricken. Ganz ohne Bauanleitung und wenn gewünscht auch geringelt.
Etwas in der Tiefe zu verstehen und die Fähigkeit selber etwas zu Kreieren hängen dicht zusammen. Und doch ist es möglich und absolut erlaubt, auch kreativ zu sein, wenn man nicht nur nicht weiß, wie es „richtig“ geht, sondern schlicht gar nichts weiß.
Ja. Das ist erlaubt.
Mit jedem Schritt den ich gehe, komme ich ein Stückchen voran.
Mit jedem Tun lerne ich.
Ich tue es, also kann ich es!
Das nährt das eigene Selbstbewusstsein und den Mut für den nächsten Schritt und den nächsten und den nächsten. Die Schritte mögen sich unbeholfen und ungelenk anfühlen. Aber sie zwingen uns, wirklich unseren eigenen Weg zu finden und nach und nach kann unser Tanz geschmeidiger und runder werden.
Das ist einer der Gründe, warum ich so viel mit Improvisation arbeite. Oh nein, Improvisieren kann ich nicht! Klar kannst Du. Weil es kein richtig oder falsch gibt. Weil Du es einfach nur tun musst. Ein Schritt nach dem anderen. Ein Ton nach dem anderen.
Und schon singst Du. Ob Du es kannst oder nicht.
Es kann sich glücklich schätzen, wer Vorbilder hat, an denen er sich orientieren kann und von denen er auf seiner Reise begleitet wird. Und ab und an dürfen diese Vorbilder auch mal anmerken, dass man „die“ mit ie schreibt. Aber wehe darunter leidet die eigene Abenteuerlust. Dann sollte man sich schleunigst andere Reisegefährten suchen.
In diesem Sinne wünsche ich einen fröhlich ungelenken Tag!
Anna
*Nia ist übrigens eine Sportart, die verschiedene Aspekte aus Tanz, Kampfkunst, Tai-Chi, Yoga und Körper-Awareness miteinander verbindet und sehr viel Freude macht. Wenn Du gerne tanzt, solltest Du das unbedingt mal ausprobieren.
Ich habe mich immer schon gern mit mir selber beschäftigt. Als Kind habe ich es genossen allein in meinem Zimmer zu sitzen und in meinen Gedanken spazieren zu gehen. Mir Dinge auszudenken und innere Zusammenhänge zu erforschen. Diese Innenwelten waren für mich schon immer genauso real und vertraut, wie das, was um mich herum stattfand.
Als Teenager merkte ich dann, dass sich innerlich auch Dinge und Angelegenheiten „verknoten“ können. Und dass meine inneren Strukturen direkte Auswirkungen darauf haben, wie ich mit der Außenwelt in Kontakt gehe. Es faszinierte mich, dass ich durch die Aufmerksamkeit nach innen meine Gedanken und Gefühle erforschen und dadurch Dinge in Bewegung bringen konnte.
Irgendwann als Studentin fiel mir das Buch „Der Weg des Künstlers“ in die Hände und ich begann jeden Morgen meine Gedanken zu Papier zu bringen. Vor allem in den herausfordernden Zeiten meines Studentenlebens (so ein Musikstudium bringt einen doch ziemlich oft an die eigenen Grenzen) war mir das Schreiben ein wichtiges Werkzeug um mich innerlich immer wieder zusammenzupuzzlen, mir selbst Mut zuzusprechen, mich auf das Wesentliche zu besinnen und neu auszurichten.
Durch einen Workshop mit dem Titel „Öffne Dein Herz und singe!“ bei Nicole Nagel schlug sich für mich dann erstmals die Brücke zur Stimmarbeit. Die Kombination aus Emotionsarbeit, Körperarbeit und tschechischer Gypsymusik ließ mich sehr eindrücklich spüren, wie direkt diese Aspekte miteinander verknüpft sind. Stimme war nicht mehr nur musikalisches Mittel und Ausdruck meiner Emotionen, sondern wurde auch zum „Kontaktinstrument“ zu mir selbst. Übers Tönen konnte ich meine Emotionen vertiefen. Eintauchen in mein eigenes Unterbewusstsein. Emotionen wurden plötzlich körperlich erlebbar und die wunderbare Musik öffnete mir einen tieferen Zugang zu mir selbst.
Innere Arbeit und Stimmarbeit sind für mich seitdem untrennbar verbunden. Stimmentwicklung ist Persönlichkeitsentwicklung. Und die Beschäftigung mit den eigenen „inneren Baustellen“ bringt auch immer die Stimme voran. Wie oft hatte ich schon das Gefühl, dass ich gerade „stimmlich nicht auf der Höhe“ war. Es lief nicht rund, war mühsam, die Geschmeidigkeit fehlte. Und dann verbrachte ich die ein oder andere Stunde mit meiner wunderbaren Lehrerin (Sängerin, Schauspielerin, Rolferin, Traumatherapeutin) und schwupps, war meine Stimme wieder da. In vielen Stunden redeten wir hauptsächlich, spürten viel nach Innen, erforschten den Körper (und ich heulte eine Menge…) und am Ende war das Singen eine wahre Freude. Wie als wäre der Schleier, der vorher über der Stimme gelegen hatte, weggezogen. Alles konnte wieder in Resonanz gehen. Ich war wieder ganz und das zeigte sich auch in der Stimme.
Auch in meiner Ausbildung zum „natural voice – teacher“ (nach Renate Schulze-Schindler) und in der daraus erwachsenen Arbeitsweise mit meinen Schülern, spielt die Verknüpfung von Körperarbeit, innerer Arbeit und Stimme eine wichtige Rolle. Die Körperarbeit spiegelt unsere inneren Knackpunkte. Über die atemtypischen Körperübungen erleben wir innere Themen wie „Loslassen“, „Freiheit“ oder „Fokussierung“ ganz körperlich auf Muskel-, Faszien- und Gelenkebene. In den atemtypischen Massagen öffnet uns die Stimme den Weg zum Körper. Aus dem „Körper“ wird auf diese Weise nach und nach ein „Körper-Zuhause“.
Der Körper wird zum Gefäß für die inneren Bewegungen und Emotionen, die gefühlt und ausgedrückt werden möchten und für die vorher noch nicht ausreichend innerer Raum zur Verfügung stand. Der innere Fortschritt – das Gefühl immer wieder über sich hinaus zu wachsen und selbstbewusster zu werden – wirkt sich auf die Stimme aus. Die Stimme wiederum bringt die feinsten inneren Strukturen (körperlich und noch viel feiner) in Bewegung und ermöglicht uns den Zugang zu einem zutiefst erfüllenden Gefühl von Lebendigkeit. Alles steht in wechselseitiger Beziehung.
Im Gespräch mit Kolleg*innen ging es schon oft um die Frage: Wieviel Psychologe müssen wir als Gesangslehrer*in eigentlich sein? Inwieweit ist es unsere Aufgabe, unsere Schüler und Kursteilnehmer auch in ihrem inneren Wachstum zu unterstützen? Wie kann das gehen und wo bekomme ich als Gesangspädagoge mein Handwerkszeug her um das auch kompetent tun zu können? Wie können wir als Lehrer*innen einen sicheren Rahmen schaffen, in dem auch innere Themen angesprochen und bearbeitet werden können, ohne dass die Schüler*innen das Gefühl haben „therapiert“ zu werden? Welche Rolle spielt Körperarbeit dabei? Gibt es Stimmbildung ohne innere Arbeit?
Über diese Fragen streiten sich Gesangspädagogen immer wieder. Als Instrumentallehrer ist es etwas einfacher, sich von den inneren Prozessen der eigenen Schüler zu distanzieren. Das Instrument schafft einen gewissen Abstand und es scheint durchaus möglich, Musikunterricht am Instrument zu erteilen, ohne allzu viel innere Arbeit oder Körperarbeit zu tun. (Ob das sinnvoll ist und ob da nicht großes Entwicklungspotenzial verschenkt wird, sei mal dahingestellt.)
In der Arbeit mit der Stimme ist es schwieriger. Beim Singen sind wir das Instrument. Durch und durch. Und wenn unser Instrument verstimmt ist, nicht in Stimmung ist oder sich unfrei fühlt, werden wir auch so klingen. Der Kontakt von Person und Stimme ist ganz direkt. Und deswegen ist für mich persönlich ist ganz klar, dass stimmliche Entfaltung immer auch mit persönlicher Entfaltung einhergehen muss. Nicht alle Kollegen teilen da meine Ansicht. Es gibt durchaus die Ansicht, das innere Wachstum würde schon hinterherkommen, wenn erstmal die Technik läuft.
Und natürlich gibt es zwischen den zwei Extremen: „Ich bin Gesangslehrer*in. Wie Du Dich beim Singen und im Leben fühlst, geht mich nichts an.“ und „Alles Singen kommt von innen. Ich begleite Dich bei dem Prozess, Dir selber nah zu kommen und die Stimme wird folgen.“ mannigfaltige Abstufungen.
Und jeder gute und einfühlsame Lehrer wird auch nicht jeden Schüler gleich behandeln. Der eine hat von allein einen guten Kontakt zu sich selbst und ihm fehlt eigentlich nur das Handwerkszeug, das was innen ist, im Außen hörbar zu machen. Die Andere hat vielleicht gar keinen Zugang zu sich selbst. Ist sich selbst, ihrem Körper und ihrer Stimme fremd und wundert sich, dass es in der Stimme starke Brüche, Anstrengung und Heiserkeit gibt.
Die eine geht permanent über ihre (stimmlichen) Grenzen, der andere traut sich auch im Leben nicht, seine eigene Stimme wirklich zu erheben und sich zu zeigen. Manchmal ist es sinnvoll dann die technischen Möglichkeiten zu erarbeiten sich auszudrücken um überhaupt ein Gespür dafür zu bekommen, wie es sein könnte, sich Gehör zu verschaffen. Und manchmal geht es darum, die eigenen Grenzen ganz allgemein erstmal wahrzunehmen und zu bemerken, dass es nicht nur beim Singen darum geht, die eigenen Ressourcen ökonomischer einzusetzen.
Genau wie es auch auf der stimmtechnischen Seite viele verschiedene Ansätze gibt und ein Gesangslehrer individueller und flexibler unterrichten kann, je vielseitiger sein Werkzeugkoffer bestückt ist, so halte ich es für sinnvoll, wenn wir als Lehrer auch unsere Kenntnisse im Bereich Psychologie und innere Arbeit erweitern. Das ermöglicht uns, unsere Schüler wirklich dort abzuholen, wo sie sind. Und auch als Schüler, als Student, als Lernender macht es Sinn, nicht nur ein Repertoire an Gesangsübungen aufzubauen, sondern auch Handwerkszeug im Umgang mit sich selbst zu erwerben.
So wie mir als Studentin das Schreiben und später die atemtypischen Körperübungen die wichtigsten Tools zur Kontaktaufnahme mit mir selbst geworden sind, sollte jeder, der sich auf die Suche nach seiner eigenen Stimme macht, die Chance haben, auch seine eigenen Werkzeuge zu entdecken. Lehrer, Coaches, Meditation, Kurse, Bücher. Es gibt so viele Möglichkeiten der Inspiration. All diese Anregungen sind für die Stimmarbeit höchst wertvoll und der eigenen Entwicklung ohne Zweifel förderlich.
Schon seit einiger Zeit habe ich bemerkt, dass die Arbeit mit meinen Schülern und Kursteilnehmern immer tiefer geht. Das freut mich sehr, denn ich liebe es, in der Tiefe zu gründeln. Ganz egal in welchem Bereich. Ich genieße es, Räume zu öffnen, in denen Menschen sich selbst wirklich nah kommen und sich dann auch noch so sicher fühlen können, dass sie sich damit in einer Gruppe oder im Unterricht (stimmlich) zeigen können. In diesen Momenten bin ich selber sprachlos und zutiefst dankbar, dass mir offensichtlich dieses Talent geschenkt wurde, einen solchen Rahmen zu geben.
Am Anfang meiner Unterrichtstätigkeit war ich manchmal noch ängstlich. Kann ich das halten? Was soll ich tun oder sagen, wenn Menschen, die 20 Jahre älter sind als ich, plötzlich mit Emotionen konfrontiert werden, die sie sonst nur selten zulassen. Eine meiner Lehrerinnen sagte mir damals: „Mach Dir keine Sorgen. Du öffnest den Raum. Es wird sich nur das zeigen, was Du halten kannst.“ Das hat mir Mut gemacht, diesen Weg weiter zu verfolgen. Eigene Erfahrungen mit tiefgehender innerer Arbeit (u.a. SE (Somatic Experience) und ISP (Integrale Somatische Psychologie)) haben mich ermutigt, dass sich dieser Weg unbedingt lohnt und ich auch meinen Schülern immer mehr Zugang zu sich selbst ermöglichen möchte.
Deswegen habe ich mich Anfang 2020 entschieden eine zusätzliche Ausbildung in ISP zu machen. Im Dezember ist diese Fortbildung nun endlich gestartet und wird sich über ein ganzes Jahr erstrecken. Frei übersetzt bedeutet ISP sowas wie „ganzheitliche, körperorientierte Psychologie“ und schon nach den ersten vier Ausbildungstagen weiß ich: Ich bin da sowas von goldrichtig! Nicht, weil ich umsatteln und nun rein therapeutisch arbeiten möchte. Nein, mein Zuhause ist die Arbeit mit den Stimmen und der Musik und das wird auch so bleiben.
Während der Fortbildung konnte ich feststellen, dass ich bereits intuitiv in ganz vielen Aspekten so mit den Menschen arbeite. Nun zusätzlich auch die wissenschaftlichen Hintergründe zu kennen und weitere Handlungsmöglichkeiten zu bekommen, fühlt sich wunderbar an.
Im Wesentlichen geht es im ISP um Emotionsarbeit. Unter Emotion verstehen wir dabei all das, was wir innerlich wahrnehmen, wenn wir mit der Welt in Kontakt gehen. Es sind alle Arten von inneren, körperlich wahrnehmbaren Bewegungen, die ausgelöst werden, weil wir bestimmte Dinge erleben. Es ist das, was die Welt mit uns macht.
Diese Emotionen wahrzunehmen, wirklich zu durchfühlen und nach und nach unsere Kapazität zu erweitern, diese auszuhalten und damit umzugehen, darum geht es. Ob es sich dabei um Emotionen handelt, die jetzt gerade mit der Situation, die wir erleben, zusammenhängen oder alte, nicht vollständig gefühlte Emotionen sind, die immer wieder Auswirkungen auf unser Leben haben, spielt dabei keine Rolle. Wir arbeiten immer im Jetzt. In diesem Moment. Und wir arbeiten mit dem, was sich allein durch unsere nach innen und auf den Körper gelenkte Aufmerksamkeit zeigt.
Vieles im ISP erinnert mich an die „natural voice“ – Arbeit, aber eben von ganz anderer Seite betrachtet. In den vergangenen Wochen konnte ich schon sehr beglückend mit meinen Schülern auf diese Weise arbeiten. Alle Arten von „Singängsten“ sind natürlich das naheliegendste, aber auch in der interpretatorischen Arbeit mit konkreten Songs und auch bei aktuellem Stress, der dem eigenen Singgenuss im Wege steht, konnte ich die ISP-Ideen anwenden. Wunderbar!
Und am wunderbarsten ist es, dass die Stimmen so klar zeigen, wann wir mit uns selbst verbunden sind. Das war für mich in der Fortbildung fast befremdlich ?. Alle möglichen Therapeuten (Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Heilpraktiker und Osteopathen) und Coaches sind Teilnehmer der Fortbildung. Und nie ging es ums Singen. Dabei erlebe ich es so eindrucksvoll mit meinen Schülern. Wenn wir uns selbst nah sind, ist das Singen schön. Klingt die Stimme schön. Oder besser gesagt: Es ist einfach völlig egal, wie es klingt. Es spielt keine Rolle. Die Stimme klingt, wie sie klingt und das ist wunderschön.
Wenn wir uns selbst nah sind und uns wirklich zeigen, können wir unsere Zuhörer berühren. Ganz egal, ob wir Profisänger sind und eine schwere Arie singen oder Anfänger und unser liebstes Weihnachtslied vortragen. Es geht um den Kontakt mit unserem inneren Wesenskern. Wenn wir dort mit der Stimme andocken können, macht das glücklich. Alle Beteiligten.
Nun soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass es in meinem Unterricht oder in meinen Kursen immer nur ernst und tief zugeht und wir permanent Probleme wälzen, Emotionen heraufbeschwören oder weinen. Wir suchen auch nicht permanent nach Problemlösungen und analysieren uns selbst. Überhaupt nicht. Das werden alle meine Schüler*innen bestätigen. Ich arbeite sehr spielerisch. Im Spiel zeigt sich der Mensch. Wir lachen viel. Vor allem auch über uns selbst. Manchmal lachen und weinen wir gleichzeitig. Aber alles in allem gibt es immer genug Raum für Dinge, die durchfühlt und gesehen werden möchten. Und ganz selten arbeiten wir nur im Kopf. Immer gehört das Verkörpern des Erlebten dazu, steht sogar mehr im Fokus als das rationale Verstehen. Das ist mir ganz wichtig.
Als ich im Januar 2020 meinen Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ herausgebracht habe, war mir klar, dass es in diesem Kurs nicht nur um reine Stimmübungen gehen sollte. Dafür gibt es meinen Youtubekanal und überhaupt gibt es da genug Material von großartigen Kolleg*innen. Ich habe mir gewünscht, die Menschen wirklich auf die Reise zu ihrer eigenen Stimme mitzunehmen. Und dazu gehört für mich eben die Verbindung von Körperarbeit, Stimmarbeit und innerer Arbeit. Dazu kommt noch das Anknüpfen an unsere eigene innere Musik, unsere eigenen Rhythmen und unseren eigenen inneren Klang. So ergaben sich schnell die drei Themenbereiche:
1. Atem-, Stimm- und Körperarbeit
2. Musik in mir
3. Kopfgekreisel.
Alle drei Bereiche greifen ineinander und bedingen sich gegenseitig.
Das ist für mich – auch wenn schon damals 2008, als ich meine Examensarbeit mit eben diesem Titel „Stimme ist mehr…“ geschrieben habe, mein Professor mich vor dem Begriff warnte, weil er einfach zu abgegriffen ist – wirklich ganzheitliche Stimmbildung. Stimmbildung die alle Ebenen menschlichen Seins einbezieht. Die den Menschen mithilfe aller und auf allen Ebenen bildet. Die tief geht und Freude macht und die insgesamt sehr viel mehr ist, als die Summe der Einzelteile.
In diesem Sinne wünsche ich Dir viel Neugier auf das eigene Innenleben!
Anna
P.S. Mein Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ startet wieder im September.
Die Frage, was der Mensch eigentlich wirklich braucht, treibt mich um. Klar, ich bin Musikerin. Künstlerin. Es ist unser Job, uns mit den Dingen zu befassen, die über das, was man kaufen kann, hinausgehen. Es ist unsere Aufgabe, die menschlichen Bedürfnisse aufzudecken, die unter der Oberfläche liegen. Dafür ist Kunst da. Wir Künstler*innen öffnen und halten Räume, die andere Menschen alleine meist gar nicht sehen oder zumindest nicht allein betreten können. Wir ermöglichen unseren Konzertbesuchern, den Hörern unserer Musik, aber auch denen, mit denen wir musikpädagogisch arbeiten, jetzt hier und in diesem Augenblick mit ihren eigenen inneren Welten in Kontakt zu treten.
Im Jahr 2018 hatte ich mir einen Kalender mit weisen Zitaten zugelegt. Jeden Tag ein Sprüchlein. Die meisten habe ich längst vergessen, aber ein Zitat des bildenden Künstlers François Morellet begleitet mich seit dem 18.Juni 2018 quasi täglich.
„Kunstwerke sind Picknickplätze, wo man das verzehrt, was man selber mitgebracht hat.“
Musikstücke, Konzerte, Theateraufführungen, Chorproben, Gesangstunden sind solche Picknickplätze, wo wir die Gelegenheit haben, uns selber zu spüren. Uns berühren zu lassen, unsere Seele zu nähren und aufzutanken. Musik und Klang öffnen Welten, die uns in unserem echten, blanken Menschsein, zum Vorschein bringen. Eine Melodie bringt uns in Verbindung mit einer Sehnsucht, die wir nicht in Worte fassen können. Ein Lied kann uns – wie ein guter Freund – Spiegel sein und uns Trost, Mut oder ein herzhaftes Lachen schenken.
All das sind Dinge, die für uns als menschliche Wesen überlebenswichtig sind. Und das meine ich ganz wortwörtlich.
Ich kann mir mein Leben weder bei amazon bestellen noch im h&m auf der Fußgängerzone kaufen. Lebendigkeit passiert in mir und im Zusammentreffen mit anderen menschlichen Wesen. Ohne Freude, Zusammengehörigkeitsgefühl und Kontakt ist mein Leben sinnlos oder zumindest – wenn es nur vorübergehend ist – extrem fade.
Klar, Kunst aus der Konserve ist besser als nichts. Sich zuhause Musik anzuhören, sich auf Youtube ein aufgezeichnetes Livekonzert oder einen guten Film anzuschauen, ist schon viel Wert. Und es überbrückt eine Weile, wenn alles andere gerade nicht möglich ist. Aber es ist nicht das gleiche. Keine Zoomprobe der Welt kann den gemeinsamen Klang einer Chorprobe, geschweige denn eines Konzertes, ersetzen.
Nach den Entbehrungen und Kompromissen der letzten Monate sind die Menschen hungrig. Sehr hungrig. Hungrig nach Berührung, hungrig nach Austausch, hungrig nach echter Begegnung. Ich erlebe das aktuell täglich in meinem Unterricht.
Da ist Silke*, die als Lehrerin in der Schulleitung tätig ist und sich wirklich den A… abarbeitet. Durch die neuen Maßnahmen ist ihr vorerst alles gestrichen, was sie sonst zum Auftanken nutzt. Essen gehen mit Freunden, Konzerte und die Proben mit ihrem Frauenquartett.
Oder Ulrike*, mit der ich seit 3 Jahren vorwiegend evangelische Kirchenlieder singe und die mir in der letzten Stunde sagte: „Unseren Kirchenchor gibt es nicht mehr so richtig. In der Kirche sitzen wir mit drei Meter Abstand und alle mit Maske und singen darf man eh nicht… da geh ich gar nicht mehr hin. Zum Glück kann ich noch zu Dir kommen.“
Oder Monika* (alle Namen geändert), die mit schweren Vorerkrankungen in Frührente ist und deren ein und alles eigentlich die Proben ihrer Amateur-Musicalgruppe (natürlich mit Hygienekonzept) sind. „Wie gut, dass Du da bist, Anna.“
Diese Geschichten berühren mich sehr und mir stand in den vergangenen Wochen mehr als einmal das Wasser in den Augen. Und als dann auch noch die Nachricht kam, dass nun wieder alles geschlossen wird, war meine erste spontane Reaktion: „Ich kann den Laden nicht zumachen. Das geht gar nicht.“
Und ich hatte sofort die Worte einer lieben Kollegin aus dem Kreis der natural voice – teacher im Ohr, die ich Ende September für einen Austausch getroffen hatte: „Ja klar haben wir eine Verantwortung in Bezug auf Corona und natürlich ist es wichtig, dass wir uns an die Maßnahmen halten und nicht einfach alles machen wie zuvor. Aber wir haben auch eine Verantwortung für unsere Arbeit. Eine Verantwortung, dass unsere Arbeit, die Menschen erreicht, die sie jetzt – ganz besonders jetzt – brauchen.“
Und ich kenne viele wunderbare Kollegen und Kolleginnen (Musiker*innen, Musikpädagog*innen, Chorleiter*innen u.v.m.), die sich dessen voll und ganz bewusst sind. Und die dieser Verantwortung jetzt gerade – nicht nur weil das ihr Job ist und sie damit normalerweise ihren Lebensunterhalt verdienen würden und sie sich derzeit existentiell bedroht fühlen – sehr gerne nachkommen würden.
Menschen brauchen mehr als einen sicheren Job und genügend Klopapier. Was hilft es uns, wenn „die Wirtschaft“ geschützt wird und die Menschen langsam aber sicher innerlich vor die Hunde gehen?
Auch wenn ich als unterrichtende Künstlerin in nicht unwesentlichem Ausmaß finanziell betroffen bin und mir auch das ein oder andere Mal der Popo auf Grundeis geht – ich scheiße auf die Frage, ob Kunst nun systemrelevant ist oder nicht. Ein System, das vor allem darauf aufbaut, dass wir Menschen fleißig Dinge kaufen, die wir eigentlich gar nicht brauchen, kann mir mal den Buckel runterrutschen.
Was für mich zählt, ist der Mensch und die Menschenrelevanz. Und dazu gehört völlig ohne Frage die Rücksichtnahme in der aktuellen Situation. Aber ich finde es ist dringendst an der Zeit, dass wir uns fragen, was wir als Menschen (z.B. für unsere Gesundheit auf allen Ebenen – geistig, körperlich, seelisch) denn wirklich brauchen. Und gerade weil es so vielen da draußen schwer fällt, das überhaupt zu spüren, brauchen wir die Künste und die Künstler, die uns Wegweiser sind und den Finger in die Wunde legen und uns helfen, uns selber wieder zu spüren.
Vor zwei Wochen – als ich noch keine blasse Ahnung hatte, dass wir auf einen neuen Lockdown zusteuern – habe ich mir abends den Film „The Blues Brothers“ angeschaut. Abgesehen davon, dass ich die Musik abgöttisch liebe und es einfach toll war, am kinderfreien Abend mal wieder einen Film zu schauen, fand ich es ungeheuer spannend zu spüren, wie die Coronasituation der vergangenen Monate mich ganz anders auf das Filmgeschehen blicken lies.
Menschen, die sich die Hand geben, sich in den Armen liegen… Ich hätte nie gedacht, dass sich das in mir mal seltsam anfühlen könnte. Und am allermeisten hat mich die Konzertsituation gegen Ende berührt. „Everybody needs somebody to love“.
Menschen – viele Menschen – die wie gebannt auf die Bühne blicken, sich mitreißen lassen und irgendwann völlig ausflippen. Tanzen, Lachen, Singen. Miteinander begeistert sind. In der Stimmung dieses gemeinsamen Erlebnisses baden.
Am liebsten wollte ich aufspringen und mitmachen. Ganz egal ob auf der Bühne oder im Publikum. Und ich konnte es geradezu körperlich spüren, wie sehr das alles gerade fehlt. Nicht nur meinen Schülern. Und mir. Sondern auch allen anderen da draußen.
Nicht miteinander ausgelassen und gemeinsam begeistert sein können. Ganz egal ob im Konzert, im eigenen Chor, beim Tanzen, auf einer Feier oder im Fußballstadion. Ich konnte spüren, wie kraftvoll das alles und wie tief das menschliche Bedürfnis danach ist.
Die Musik und diesen großartigen Film als Katalysator zu nutzen, um diese Sehnsucht zu spüren und den Schmerz zu erlauben – das war unglaublich befreiend. Ganz ohne Jammerei, Schuldzuweisungen und Hadern mit der Situation. Einfach nur hinspüren, sich dem stellen und die Lücke und den Schmerz wahrnehmen und ein bisschen weinen…
Ich bin davon überzeugt, dass viele viele Menschen weniger Angst haben müssten, weniger aggressiv oder nörgelig wären, wenn wir diesem Schmerz mal ins Auge schauen würden.
Und unter der Traurigkeit liegt die Lebendigkeit. Zu spüren, wie stark sie ist, tut so gut.
Ich kann es euch (allen Schüler*innen, Chorsänger*innen, allen Künstlerkolleg*innen und überhaupt allen Menschen) nur empfehlen. Stellt euch dem Vermissen. Erlaubt die Traurigkeit.
Traurigkeit darüber, dass wir gerade in unseren elementaren menschlichen Bedürfnissen eingeschränkt sind. Traurigkeit darüber, dass wir gerade nicht ins Theater gehen können. Keine Konzerte besuchen und nicht zur wöchentlichen Chorprobe gehen können.
Spürt den körperlichen Schmerz, nehmt die Situation an, wie sie ist, ohne zu hadern. Und dann spürt die Kraft, die darunter liegt und nutzt sie, um das Beste draus zu machen. Um zu lernen, was es jetzt gerade zu lernen gibt. Euch zu erinnern, was euch wichtig ist und was ihr jetzt gerade wirklich, wirklich braucht. Eure menschlichste, verletztlichste Seite zu spüren. Und wenn ihr mögt, lasst euch von den Künsten – Musik, Malerei, Tanz, was auch immer – an die Hand nehmen. Schmeißt euch eure Lieblingsmusik rein und tanzt und feiert.
Sucht euch eure Picknickplätze. Sucht euch die Menschen, die Künstler*innen, die Lehrer*innen, die auch helfen können, das Jetzt-und-Hier und euch selber (wieder) zu spüren und lasst euch von ihnen inspirieren.
Meine geschätzten Kolleg*innen und ich setzen alles daran, auch in der aktuellen Situation, wo immer es irgend möglich scheint, Räume zu öffnen und Orte der (Selbst-)begegnung zu schaffen, die uns mit unserer Lebendigkeit rückverbinden und uns nähren. Wirklich nähren.
Wie die kleine Maus Frederik, die den ganzen Sommer über Farben und Geschichten gesammelt hat, von denen dann alle Mäuse im Winter zehren.
Dafür sind wir Künstler da. Dafür ist die Kunst da. Für die Menschen. Fürs Mensch-Sein. Und darum geht es. Gerade jetzt!
Alles Liebe wünscht,
Anna Stijohann
Als ich 2016 meinen ersten Blogbeitrag veröffentlichte, hätte ich jedem einen Vogel gezeigt, der behauptet hätte, dass Mitte 2020 drei Viertel meiner Arbeit online bzw. über indirekten digitalen Kontakt mit meinen Schülern stattfinden würde. Einzel- und Gruppenunterricht über ZOOM, ein Onlinekurs und ein YouTube-Kanal, der u.a. von Hochschulprofessoren in Zeiten virtuellen Fachdidaktikunterrichts als besonders vorbildlich empfohlen wird – das letzte halbe Jahr war eine ziemliche Achterbahnfahrt – wunderschön, total ätzend, herausfordernd, leichter als gedacht, überraschend – und diese Erfahrungen möchte ich mit euch teilen.
Anfang 2016 veröffentlichte ich meine allerersten Blogbeiträge. Ich hatte das dringende Bedürfnis meine Gedanken und Erfahrungen rund um meine Arbeit mit mehr Menschen zu teilen, als nur mit denjenigen, denen ich regelmäßig von Angesicht zu Angesicht begegnete. Die Rückmeldungen kamen prompt und plötzlich hatte mein pädagogisches Wirken eine neue Dimension. Menschen, denen ich nie zuvor begegnet war, schrieben mir Emails, dass sie meine Ideen für ihren Unterricht oder für ihr eigenes Singen benutzten. Das war der Beginn meiner „Fernwirkungs“-Arbeit.
Nun war ich „lesbar“. Immer und überall. Bis ich mit meinem Youtube-Kanal auch „sichtbar“ werden sollte, dauerte es aber noch eine ganze Weile. Zu schwierig erschien es mir Gesangstutorials und Übungsvideos zu gestalten, die für jeden sinnvoll und gleichzeitig nicht völlig oberflächlich daher kamen.
Doch dann begegnete mir das Onlineprogramm „Sing with freedom“ von Per Bristow. In vier einfachen Lektionen geht es um einen mühelosen Zugang zur Stimme und das auf eine Art und Weise, bei der man absolut nichts falsch machen kann, weil es im Wesentlichen um die Schulung der Selbstwahrnehmung geht. Mir wurde klar, dass das genau die Art und Weise ist, wie ich sowieso schon unterrichte und so startete ich im Dezember 2018 den ersten STIMMSINN-Adventskalender. Noch nicht öffentlich für alle, sondern nur mit vorheriger Anmeldung, konnte man in 24 kleinen Übungsvideos meine Lieblingsstimmbildungsübungen kennenlernen.
Die Resonanz war umwerfend. Von überall her kamen Emails mit Rückmeldungen und die Links für die „Türchen“ wurden an den Freund, die Kollegin, den Bruder in Übersee oder sogar den ganzen Chor weitergeleitet. Die Erkenntnis:
Singen lernen ohne direkten Kontakt. Es funktioniert!
Jede Woche veröffentlichte ich von da an eines meiner Übungsvideos auf YouTube. Mittlerweile haben knapp 650 Menschen meinen Kanal abonniert und manche Videos wurden über 2000mal angeschaut. Regelmäßig bekomme ich Rückmeldungen wie diese hier:
„(…) welch wunderbare Übungen Du präsentierst, ich habe mir fast alle schon angesehen. Endlich jemand, der meine Lücke füllt. Vor vielen Jahren hatte ich mal Gesangsunterricht, so lustig wie in Deinen Lektionen war da nichts. Ich habe dann drei Jahrzehnte nicht mehr gesungen und vermisse es nun und es klappt nichts mehr so, wie ich es gern hätte. Ich versuchte noch einmal Gesangsunterricht und brach es ab, es gab mir nicht, was ich suchte. Hier habe ich ganz viel gefunden. Sehr nachvollziehbar, ich kann mich spüren dabei. Herzlichen Dank dafür, ich werde immer wieder reinschauen.“
„(…) ich möchte dir nur zurückmelden, dass ich deine Videos dankbar anschaue und sehr froh bin, die Möglichkeit zu haben, meine erst vor kurzem entdeckte Singstimme damit vorsichtig wachsen zu lassen, um im Chor nicht so völlig naiv aufzufallen.
Vielen lieben Dank!“
Ende 2019 dann die Entscheidung. Ich werde einen eigenen Onlinekurs herausbringen. Ich möchte die Menschen kennenlernen, die meine Videos anschauen. Ich möchte mit ihnen interagieren und ihnen die Möglichkeit geben, sich mit mir auszutauschen. Ich möchte der Welt mein Wissen nicht mehr ausschließlich gratis zur Verfügung stellen, sondern mich wirklich intensiv engangieren und dafür dann auch bezahlt werden.
Die positiven Rückmeldungen bestärkten mich, dass meine Art des Unterrichtens auch über die Distanz wunderbar funktioniert und ergänzt durch den Austausch mit mir und anderen gleichgesinnten Teilnehmer*innen sollte daraus ein 3-monatiger Onlinekurs werden. Wie das gehen könnte, klärte sich nach und nach.
Ich hatte in anderem Kontext erste Begegnungen über ZOOM, mein Mann (Webentwickler) hatte andere Kunden für die er digitale Produkte aufsetzte und ich schaute mir mit großer Begeisterung freie Videos im Internet zum Thema „Onlinekurse aufbauen“ an. Ich hatte Feuer gefangen und dann ging alles ziemlich schnell. Die Leidenschaft meiner Kindheit – für andere Menschen Bastelanleitungen zu entwerfen und zu verkaufen (damals 2 Mark im Monatsabo ;-)) – flammte wieder auf und so erstellte ich meinen Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ und konnte ihn im Rahmen des STIMMSINN-Adventskalenders 2019 vorstellen und bewerben. Hui, wie aufregend! Im Januar 2020 startete ich mit den ersten elf Teilnehmerinnen (aus ganz Deutschland, Österreich und Italien) auf eine Reise zu ihrer eigenen Stimme und für mich selbst auf zu unbekannten Ufern.
Mitten in der ersten Runde von „Stimme ist mehr…“ veränderte sich plötzlich alles. Das Coronavirus tauchte auf und das komplette gesellschaftliche Leben wurde plötzlich eingefroren. Ich erinnere mich noch sehr gut an die neunte Kurslektion zum Thema “Stille“. Wie passend, wie berührend, wie intensiv. Plötzlich probte keine der Teilnehmerinnen mehr mit ihren Chören, kein Gesangsunterricht, keine Bandproben. Nur der STIMMSINN-Onlinekurs. Plötzlich war der Kontakt über ZOOM wichtig. Essentiell. Die wöchentlichen Treffen für einige von uns die einzige persönliche Begegnung mit anderen Menschen. Das hat mich zutiefst bewegt und meinen Blick auf die Onlinearbeit komplett verändert.
Nachdem ich mir vorher immer wieder Gedanken darüber gemacht hatte, ob und wie es möglich sein könnte, über Onlinearbeit ein wirkliches Gruppengefühl aufzubauen, war es mir plötzlich klar. Es geht um den Kontakt. Und dieser Kontakt entsteht, wenn jeder mit sich selber, mit seinem Wesen, seinen Sehnsüchten und Fragen in Berührung kommt. Die Inhalte des Kurses hatten in Kombination mit der Lockdown-Situation genau das ermöglicht. Ein Begegnungsraum war entstanden. Virtuell und doch ganz klar greif- und spürbar. Gerade in den ersten Wochen der ungewohnten Situation war mir das unendlich wertvoll. Im Gegensatz zu einigen Kolleg*innen, die völlig ihrer Lebensgrundlage beraubt schienen, konnte ich weiterhin auf meine, mir ganz eigene Art, sinnstiftend arbeiten. Das hat mir enorm viel Kraft gegeben.
Nach Ostern startete nach einem kostenlosen Online-Schnupperwochenende die zweite Kursrunde von „Stimme ist mehr…“ mit diesmal 18 festen Teilnehmer*innen.
In dieser Situation war das ein Geschenk des Himmels. Auf diese Weise konnte ich mir ein bisschen (auch finanzielle) Luft verschaffen und mich in aller Ruhe an die Gegebenheiten gewöhnen. Meinen Einzelunterricht von jetzt auf gleich auch auf ZOOM oder Skype umzustellen, kam für mich nicht infrage. Ich fühlte mich damit nicht wohl und brauchte Zeit und Raum, auch dafür Wege zu finden, die Begegnung mit den Schülern lebendig und eben auf meine Weise zu gestalten. Alles machen wie vorher, nur eben in zwei getrennten Räumen und über den Bildschirm verbunden, schien mir nicht der richtige Weg und teilweise unmöglich (z.B. körperlicher Kontakt) zu sein. Erst ganz langsam tastete ich mich nach einigen Probestunden an den ZOOM-Unterricht heran und ich muss zugeben, ich war erstmal ziemlich frustriert.
Klar, es braucht auch eine gewisse Eingewöhnungszeit. Sich mit den technischen Möglichkeiten vertraut machen, herausfinden was geht und was nicht usw. Aber im Grunde war es ein Gedanke meiner Lehrerin Renate Schulze-Schindler, der dazu geführt hat, dass sich meine Einstellung zum digitalen Einzelunterricht auch verändern konnte. In einem Gruppentreffen mit meinen natural voice – teacher Kolleg*innen und Renate (verrückt eigentlich, niemals jemals hätte man sie für so eine Aktion noch vor einem Jahr begeistern können) sagte sie die entscheidenen Sätze:
„Wir bewegen uns hier im Grunde in und zwischen drei Räumen. Jeder befindet sich in dem Raum, in dem er gerade ist. Das Wohnzimmer, die Küche, das Arbeitszimmer. Aber jeder ist auch in seinem eigenen Innenraum anwesend. Der Körper, die Gedanken, die Gefühle. Und es gibt einen dritten Raum. Der Raum, der uns alle hier verbindet. Sichtbar auf dem Bildschirm, aber viel wichtiger spürbar für jeden von uns.“
Diese Sichtweise hat mein digitales Unterrichten komplett verändert. Sich diese drei Räume immer wieder bewusst zu machen und ein geschmeidiges Hin und Her zwischen Innen und Außen zu ermöglichen, hat mich sehr beglückt und mich Frieden finden lassen mit der aktuellen Situation. Bereits seit Ende April darf ich meine Privatschüler wieder „in echt“ unterrichten, aber meine Studierenden habe ich in diesem Semester kein einziges Mal wirklich getroffen. Einige meiner Privatschüler waren teilweise nicht vor Ort und haben mich gebeten Zoom-Stunden zu ermöglichen. Und ja, die Online-Stunden kosten mich etwas mehr Kraft. Ich brauche mehr Pausen zwischendurch. Aber beide Medien können mittlerweile gut nebeneinander stehen. Und ergänzen sich in positiver Weise.
Überhaupt komme ich immer mehr zu der Überzeugung, dass die unterschiedlichen Unterrichtsformen sich wunderbar bereichern. So habe ich z.B. Anfang des Semesters meine Studierenden zur (natürlich kostenlosen) Teilnahme an meinem Onlinekurs verpflichtet. Eine interne wöchentliche Videokonferenz hat dafür gesorgt, dass der Kontakt als Gruppe lebendig geblieben ist und die Inhalte des Onlinekurses haben den Einzelunterricht vertieft und ergänzt. Auf meine Frage hin, wie die Studierenden den Kurs erlebt haben und ob sie es für sinnvoll halten, den kommenden Studierendengenerationen auch Zugang zu den Inhalten des Kurses zu geben, kam ein eindeutiges JA! UNBEDINGT!
„Am besten direkt im ersten Semester. Sonst denkt man hinterher immer: Mann, hätte ich das mal vorher gewusst!“ Die unterschiedlichen Aufgaben und Themen des Kurses konnten den Studierenden Input geben, der sonst im normalen Einzelunterricht keinen Platz gehabt hätte.
Die eigene innere Einstellung beim Üben, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, die Schulung der Körperwahrnehmung, allgemeine Hintergründe zum Thema Lernen – diese Inhalte und auch die Tatsache, dass man die Aufgaben machen konnte, wann man wollte und sich dann in der Videokonferenz darüber austauscht, haben definitv einen Mehrwert für das Singen und das sängerische Selbstbewusstsein der jungen Leute gestiftet. Für jeden der sieben Studis war etwas anderes besonders wertvoll, aber alle waren sich einig. Das war eine tolle Möglichkeit!
Wie wunderbar! So eine tolle Rückmeldung. Das ermutigt mich ungemein, weiterhin nach neuen Wegen zu suchen und mutig Dinge auszuprobieren. Wie wohltuend zu wissen, dass die wesentlichen Faktoren meiner Arbeit sich nicht nur im direkten Kontakt, sondern auch auf ganz anderen Wegen zeigen. Klar, eine lebendige Improvisation oder ein klangstarker Chorsatz in der Gruppe lassen sich durch nichts ersetzen. Die Intensität eines Gespräches zwischen Menschen aus ganz Europa, die sich in aller Ruhe alle mit dem gleichen Thema auseinandergesetzt haben und sich anschließend in der sicheren Umgebung ihres jeweiligen eigenen Zuhauses darüber austauschen, aber auch nicht.
Wir können und sollten dringend die Möglichkeiten sehen und nicht die Grenzen. Dann kann Überraschendes und Bereicherndes geschehen. Ganz egal auf welchem Themengebiet.
Allzeit gute Sicht durch die Möglichkeiten-Brille wünscht
Anna Stijohann
P.S. Am 4.9.2020 startet mein Onlinekurs „Stimme ist mehr…“ wieder mit einer neuen Gruppe. Bis zum 29.08. ist die Anmeldung für diesen 12-wöchigen Kurs noch möglich.
Gelegenheit zum unverbindlichen Reinschnuppern bietet sich im Rahmen der STIMMSINN-SommerSummse vom 20.-23.08.2020. Dafür könnt ihr euch ab sofort kostenlos anmelden.
Meine große Leidenschaft ist die Körperarbeit. Dass Körper und Stimme zusammengehören, ist den meisten Menschen bekannt, aber wie und in welchem Maße dies geschieht – das sieht und erlebt jeder ganz anders.
Singen ist eine körperliche Angelegenheit. Für den einen, weil die Stimmgebung durch eine Kooperation von Atem und Stimmmuskulatur geschieht. Für den nächsten, weil der Körper die Stimme unterstützt und für den Dritten, weil der Körper als Resonanzkörper für die, durch die Stimmuskulatur erzeugten, Töne dient. Ich gehe noch weiter. Stimme und Körper sind nicht zu trennen. Und damit meine ich nicht nur den Teil des Körpers, der oberhalb des Bauchnabels liegt, sondern den ganzen Körper. Den ganzen Körper mit all seinen Knochen, Muskeln, Faszien, Organen, Flüssigkeiten, Räumen, Häuten und Zellen. Der gesamte Körper ist das Instrument.
In meiner Welt ist der Körper nicht nur das Werkzeug, das uns das Singen ermöglicht. Den wir benutzen „um zu“ singen, der uns unterstützt, der das Singen ergänzt. In meiner Singwelt geht es darum, die Stimme wirklich zu „verkörpern“, den eigenen Körper zu bewohnen und sich dort zuhause zu fühlen. Der englische Begriff Embodiment (ungefähr zu übersetzen mit „Verkörperung“) ist in den vergangenen Jahren ganz langsam immer mehr in den Fokus der Öffenlichkeit gerückt. Aber was bedeutet das eigentlich? Und was sind die Auswirkungen dessen auf unser Singen und unsere Tätigkeit als Gesangspädagogen?
Embodiment ist das erlebte Wissen darum, dass Körper, Geist und Psyche nicht voneinander getrennt existieren. Sie stehen in gegenseitiger Wechselwirkung und in der Arbeit mit der Stimme berühren und durchdringen sie sich permanent. Diese Wechselwirkungen zu spüren, sie immer tiefer zu erforschen und sich ihrer mehr und mehr bewusst zu werden, ist ein ganz wichtiger Aspekt meiner Arbeit. Stimme ist ein Phänomen, das ohne Embodiment gar nicht zustande käme.
Phonation ist ein körperlicher Vorgang. Muskulatur und Gewebe unserer Stimmlippen werden durch die Atemluft zum Schwingen gebracht. Die dadurch entstehenden Vibrationen werden durch unsern Resonanz-Körper verstärkt und gelangen schließlich als Klang an das Ohr unseres Gegenübers. Und damit kommt schon der zweite Aspekt der Stimmgebung ins Spiel: Stimme ist Kommunikations- und Kontaktmittel. Diese Funktion der Stimme ist nicht von der muskulären Aktion zu trennen. Wir singen, sprechen und lachen um mit unserer Umwelt in Kontakt zu kommen, Informationen auszutauschen und uns zu verbinden.
Stimme ist Ausdruck unserer Geisteshaltung und die einmalige Möglichkeit unsere Gedanken und Gefühle mit der Welt zu teilen. Unser emotionales Innenleben wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Stimme. Etwas verschlägt uns die Sprache, die Stimme versagt, weil ein Gefühl uns übermannt oder wir juchzen, johlen und jubeln, weil uns etwas über die Maßen freut. Ebenso beinflusst jedes Gefühl unsere Körperhaltung und die Funktionen unseres ganzen Körpersystems. Das autonome Nervensystem reagiert völlig selbstständig und ohne unser Zutun auf alles, was wir erleben. Es steuert nicht nur das Maß an Reaktionsbereitschaft unserer gesamten Muskulatur, sondern auch unser Bedürfnis zu kommunizieren. Stimme ist gelebtes Embodiment.
Wie wirken sich diese Erkenntnisse nun auf meine Arbeit als Gesangspädagogin aus? Am deutlichsten wird es mir, wenn ich Kolleg*innen begegne, die sich im weiten Feld der „Stimmbildung“ tummeln. Auch ich würde mich hier verorten, denn meine Hauptaufgabe ist es in der Regel, den Menschen (wieder) einen Zugang zu ihren vielfältigen stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen und ihnen zu helfen, ihr Instrument besser kennen zu lernen. Und doch stehe ich manchmal völlig verwirrt da, wenn Kollegen und Kolleginnen von ihrer stimmbildernerischen Arbeit berichten oder bei Kongressen darüber gefachsimpelt wird. Stimmbildung ist in den allermeisten Fällen die Beschäftigung mit der Funktion der Stimme, das Kennen- und Beherrschenlernen der beteiligten Muskeln und Räume, sowie das Erforschen und die Optimierung des Schwingungsverhaltens (vgl. Anna wird syng:TRAINER).
Ja, aber wenn das Stimmbildung ist, was mache ich denn dann eigentlich?
Wie schon oben erwähnt, ist es mir ein Anliegen, dass wir unsere Stimme wirklich verkörpern. Die Fähigkeiten zu erwerben, die wir auf dem Weg dahin brauchen, ist meine Art der Stimmbildung. Natürlich gehört die Arbeit mit der Stimme an sich dazu, aber sie macht doch nur einen kleinen Teil der Arbeit aus. Dass Stimme mühelos passiert, mit der Zeit immer mehr Klangfarbenvielfalt entsteht und wir in der Lage sind, die technischen Herausforderungen musikalischer Literatur zu meistern, ist ohne Zweifel wichtig. Eine bewegliche, frei schwingende Stimme lässt unser sängerisches Selbstbewusstsein wachsen und gibt uns Sicherheit.
Und doch wünsche ich mir, dass wir das Singen nicht nur beherrschen, nicht nur können, sondern, dass wir mit unserm ganzen Sein involviert sind. Dazu gehört, dass wir nicht nur Dinge erfüllen können, sondern im Singen wirklichen Genuss und Freude erleben. Dass wir in der Lage sind, uns durch das Singen ehrlich und authentisch auszudrücken. Das was innen ist, möchten wir im Außen zum Klingen zu bringen. Diese Verbindung von innen und außen, die uns als Kind selbstverständlich war, gilt es wieder zu entdecken. Das ist für mich ein zweiter wichtiger Teil von Stimmbildung.
Bevor wir wussten, was beim Singen und Tönen richtig oder falsch war, lief unsere Stimme von alleine mühelos. Ich staune immer wieder, wie meine Kinder innerhalb von 10 Sekunden rauhe, dunkle Klänge, durchdringendes Schreien und hellste Glocktöne bis in die vierte Oktave, abwechseln können. Die Muskeln wissen was zu tun ist, sind frei von Über- oder Unterspannung und das unmittelbare Erleben des kindlichen Ausdrucks ist für jeden ersichtlich vom Scheitel bis zur Sohle spürbar. Mit dem Erwachsenwerden und der Entdeckung des zivilisierten Verhaltens, verschwindet diese unmittelbare Verbindung zu unserer Stimme. Ist es nicht sinnvoll, diese wieder zu beleben? Wenn wir an unser Ausdrucks- und Kommunikationsbedürfnis anknüpfen, erledigen sich die allermeisten stimmlichen Probleme und Herausforderungen von selbst.
Ist das nicht Stimmbildung?
Als wichtigste Säule meiner Art der Stimmbildung zeigt sich die Körperarbeit. Unser Körper hat alles erlebt, was wir erlebt haben. Dort sind alle Emotionen gespeichert. Unser Körper ist wie er ist, weil wir erlebt haben, was wir erlebt haben. Die Verknüpfungen unseres Gehirns und die feinen und groben Strukturen unseres Körpers gehen direkt miteinander einher. Wenn man uns als Kind gesagt hat, wir sollten nicht so laut sein, weiß unser Körper darum und wird es weitestgehend vermeiden, sich durch laute oder hohe Töne, bemerkbar zu machen. Die rein kognitive und evtl. noch emotionale Betrachtung dieser inneren Prägung kann helfen ein wenig Klarheit zu schaffen, aber wenn wir nicht lernen eine neue Verkörperung für die neue innere Einstellung „ich darf meine Stimme erheben“ zu finden, wird sich immer wieder ein Widerspruch zwischen unserem Körpergefühl und unserer Absicht etwas zu tun auftun und uns am freien und stimmigen Singen hindern.
Deswegen ist für mich der wichtigste Aspekt der Körperarbeit die Wahrnehmungsschulung. Wenn wir nicht nur unsere inneren Muster, sondern auch unsere Körpermuster besser kennen, öffnet sich die Tür zu echter Veränderung. Allein durch unsere achtsame Hinwendung kann der Körper auf Selbstregulationsmechanismen zurückgreifen und nach und nach bessere Entscheidungen treffen, welche Körpermuster wir noch brauchen und welche nicht. Löst sich ein Körpermuster auf – z.B. weil wir unserm autonomen Nervensystem erlauben, alte, nicht gründlich durchfühlte Emotionen endlich zu verarbeiten – entstehen neue neuronale Vernetzungen, die es uns ermöglichen automatisierte Reaktionen hinter uns zu lassen und spontan genau so zu reagieren, wie es der Situation angemessen ist.
Um unsern Körper in einen Zustand zu bringen, wo genau dies möglich ist, brauchen wir zuallererst innere Beweglichkeit. BENITA CANTIENI beschreibt diesen inneren Zustand folgendermaßen: „Die anatomisch sinnvolle Haltung mit der höchsten Freiheit für Knochen, Gelenke, Muskeln, Sehen, Bänder, Nerven kann bewusst hergestellt werden. (…) Sie ist die Grundhaltung für alle Emotionen, sie ermöglicht es, alle (…) Stimmungen, Gefühlslagen intensiv und bewusst zu erleben, spontan zuhandeln, und anschließend wieder zurückzufinden in die neutrale Grundhaltung. (…) Ein solcherart aufgerichteter Mensch hat immer Ausstrahlung, Charisma: Es ist ihm eine sinnliche Freude, den eigenen Körper zu bewohnen“ (aus: „Embodiment“ von STORCH, TSCHACHER, CANTIENI, HÜTHER, S.115)
Lernen wir diesen Zustand der Spontaneität immer besser kennen, können wir uns auch für Neues öffnen. Je öfter wir uns in diesen flexibeln Raum begeben, desto sicherer werden wir uns auch in unbekannten Situationen fühlen. Wir werden mutiger darin, uns mit Dingen zu beschäftigen, die uns bis dato fremd waren, weil wir lernen uns in der Unsicherheit sicherer zu bewegen. Das eröffnet uns ganz neue Türen zu Wachstum und Lernen. Dieser innere Zustand ermöglicht es uns Dinge zu erleben und zu erreichen, die nicht vorhersehbar sind. Diese „improvisatorische Grundhaltung“ ist für mich die unmittelbare Voraussetzung für die Stimmentwicklung und natürlich für das Singen und Musizieren im Allgemeinen.
Ganz konkret und greifbar, hat die Idee des Embodiment Auswirkungen auf alles was wir tun. Wenn wir uns unserer Körperlichkeit intensiver bewusst sind, steigert das unser Gefühl von Lebendigkeit. Die ganzkörperliche Wahrnehmung führt zu einer besseren inneren Vernetzung. Klareres Erleben unserer eigenen körperlichen Präsenz ermöglicht uns eine andere Kontaktfähigkeit. Wir können tiefer mitfühlen und miterleben – sowohl mit anderen Menschen, als auch mit uns selbst. Unsere Gefühlswelt wird mehr und mehr zu einer Ganzkörperangelegenheit. Wir können intensivere Emotionen aushalten (sowohl positive als auch negative), weil der ganze Körper als „Gefäß“ dient. Das schafft Tiefe in allem was wir tun. Unser Ausdruck beschränkt sich nicht mehr nur auf Äußerlichkeiten wie Mimik und Gestik, und wird auf diese Weise immer persönlicher. Authentisches Auftreten ist ohne Embodiment nicht denkbar.
Beim Singen sage ich oft: Körperarbeit ist Instrumentenkunde. Unseren Körper besser zu verstehen und intensiver wahrzunehmen, bedeutet auch, unsere Stimme besser zu verstehen und anders darauf zugreifen zu lernen. Der Klang der Stimme, also das Mitschwingen des ganzen Instruments, findet nicht nur in den viel beschriebenen Resonanzräumen statt, sondern im ganzen (!) Körper. Stimmschwingung findet auch im Gewebe statt – in den feinsten Verästelungen unseres Muskel- und Fasziensystems. Diese Sichtweise mag für manche Menschen seltsam und neu sein, aber wenn wir den Zustand unseres Körpers mit dem Material und der Konsistenz eines Instruments vergleichen, leuchtet das mehr als ein. Niemand würde bezweifeln, dass der Klang einer Gitarre nicht nur von der Form des Resonanzkörpers, sondern auch von der Beschaffenheit des verwendeten Holzes und darüber hinaus von der Raumtemperatur und der Luftfeuchtigkeit abhängt.
Unser Menschsein, die Tatsache, dass alles mit allem zusammenhängt, dass unser Geist, unsere Gefühle und unser Körper nicht nur verbunden sind, sondern sich ununterbrochen wechselseitig beeinflussen, beeinflusst die Beschaffenheit unseres Instruments Stimme. In jedem Moment, jeden Tag.
Für alle, die sich am liebsten konkret körperlich damit beschäftigen möchten, kann ich nur auf meine absolute Lieblingsübung den Taucheranzug ( und weitere Varianten davon) verweisen. Beim Arbeiten mit dieser äußeren Faszienhülle bekommt jeder – egal ob Profi oder Anfänger – einen ersten kleinen Eindruck davon, was es bedeutet, den ganzen Körper als Gefäß für den Klang zu erleben.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass es für mich keine Stimmentwicklung ohne Persönlichkeitsentwicklung geben kann. Keine äußere Singhaltung ohne innere Singhaltung. Keinen stimmigen Klang ohne ein stimmiges Körpererleben.
Dieser Lernweg ist sicher nicht der schnellste und bequemste. Der Eine kommt schnell voran, der andere langsamer. Diese Reise erfordert viel Mut und Entschlossenheit und ganz sicher kann es nicht schaden, sich eine erfahrene Reiseleitung und gleichgesinnte Weggefährten zu suchen.
Aber es lohnt sich, denn wir können auf so vielen Ebenen profitieren. Sich mit seiner Stimme zu beschäftigen bedeutet auch, sich immer klarer darüber zu werden, was es eigentlich heißt, in dieser Welt seine Stimme zu erheben. Wenn wir auf bekannten Pfaden bleiben, wird sich keine Veränderung einstellen. Unser volles Potential – ganz gleich ob stimmlich oder einfach als unverwechselbares menschliches Wesen – werden wir nur entfalten, wenn wir uns in unserer ganzen Vielschichtigkeit wahrnehmen lernen. Wachsen ist nur möglich, wenn wir bereit sind für Veränderung. Stimmbildung ist Embodiment.
Reisefieber und Abenteuerlust auf dem Weg zur ganz eigenen Stimme wünscht
Anna Stijohann
Ich gebe es zu. Ich habe auf diese kollektive Entschleunigung gewartet. Seit ungefähr zwei Jahren bin ich aktiv damit beschäftigt mein Leben zu verlangsamen und die Dinge, die ich tue in Ruhe und ohne Stress zu tun. Das ermöglicht mir immer mehr herauszufinden, was mir wirklich wichtig ist und mit was ich meine Zeit verbringen möchte. Ich glaube, diese Krise ist eine riesige Chance für uns alle. Nichts wird mehr so sein wie vorher und ich für meinen Teil möchte die Situation jetzt für weise und nachhaltige Entscheidungen und Weichenstellungen nutzen.
Wir Freiberufler sind hart getroffen in der aktuellen Situation. Ich sehe wie Angebote und Tutorials für Onlinekurse in den vergangenen zwei Wochen aus dem Boden schießen (meinen gibt es ja schon seit Januar ;-). Jeder Gesangspädagoge, Musiklehrer, Coach und Trainer möchte sofort auf Skype- oder Zoomunterricht umsteigen und alle Probleme sollen am Besten auf der Stelle gelöst werden. Natürlich handeln einige von uns aus der Not heraus. Finanzielle Rücklagen haben die wenigsten Kreativen und natürlich müssen Lösungen gefunden werden, wie wir weiter arbeiten können. Und ich finde es ganz großartig, auf was für innovative Ideen die Menschen kommen. Trotzdem scheint mir die ein oder andere Aktion übers Knie gebrochen zu. Ein Schnellschuss aus Angst den Anschluss zu verlieren. Nicht so gut aufgestellt zu sein, die Kontrolle zu verlieren. Eine Chance zu verpassen.
Auch in mir gibt es einen Teil, der da gerne mitmachen möchte. Schnelle Sicherheit suchen in unsicheren Zeiten. Aber es gibt auch einen ganz anderen Teil in mir. Den, der sagt: Halt. Stopp. Warte. Wo willst Du hin? Warum die Eile? Setz Dich doch erstmal in Ruhe hin und atme. Halt inne. Was suchst Du da im Dschungel der Möglichkeiten? Wo bist Du in all dem? Was ist Deine Motivation? Ist es die Angst? Wovor hast Du Angst? Welches tieferliegende Bedürfnis verbirgt sich hinter dem Wunsch schnell die Lösung für alle Probleme zu finden?
Improvisation ist ja ein wichtiger Teil meiner Arbeit und jetzt gerade scheint es mir, als würden alle wie wild durcheinander singen, dudeln und tönen. Jeder macht sich bemerkbar, um bloß gehört zu werden. Alle tönen gleichzeitig. Dabei gäbe es soviel Potential für echte Begegnung, Beziehung, Kontaktaufnahme. Wer Erfahrung mit Improvisation hat, weiß, dass Musik im Moment nur entstehen kann, wenn wir beginnen zu lauschen. Nach innen – was möchte gesagt werden? Nach außen – wo ist mein Platz, worauf möchte ich mich beziehen? Dazwischen – wo verbinden sich innen und außen, wo ist das Kontinuum, dass kein Innen und Außen kennt?
Ist dieser Aktionismus – vielleicht bin ich ja auch die Einzige, die das so wahrnimmt? – nicht auch wieder Ausdruck unserer Gewohnheit, das Unbekannte nicht auszuhalten? Versteht mich nicht falsch. Ich bin kein Freund davon, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken und in Angst zu erstarren. Überhaupt nicht. Die Frage ist nur, ob es nicht sinnvoll wäre, kurz mal nach innen zu lauschen. Der Raum des Nicht-Wissens spielt in meiner Arbeit eine große Rolle und immer, ja wirklich immer, ist das Aushalten, das wirkliche Erleben des Ungewissen der Schlüssel zur Kreativität, zur echten Potentialentfaltung und zu tiefergehender Arbeit.
Natürlich lösen sich nicht sofort alle Fragen in Luft auf, nur weil wir uns erlauben, ins Ungewisse hinein zu lauschen. Es bleibt ein Suchen und sich Vortasten. Aber es ist wichtig, dass wir uns dafür Raum geben. Dass wir uns Luft verschaffen und nicht einfach wie wild losrennen und auf allen Baustellen gleichzeitig werkeln. Besonnenheit scheint mir gerade eine wichtige Qualität. Und Akzeptanz. Nur wenn wir aus tiefstem Herzen die Situation annehmen, uns wirklich darauf einlassen, können wir nach vorne schauen und dann losgehen mit dem was ist.
Wenn wir jetzt die Chance nutzen nach innen zu lauschen, kann daraus ganz Neues entstehen. Wenn wir alles machen wie bisher, nur auf anderen Plattformen, in anderen Medien, wird alles bleiben wie es war. Klar, das ist jedem selber überlassen. Wer bisher zufrieden war, möchte ja eigentlich gar nichts verändern. Aber lasst uns doch mal hinterfragen, was jetzt möglich ist. Lasst uns nicht einfach den Unterricht auf online umstellen. Lasst uns schauen, worin das Geschenk liegt. Wir müssen und können neue Lösungen finden. Die aktuellen Einschränkungen bieten soviel Potential.
Keine Zoomkonferenz ersetzt einen direkten 1-zu-1-Unterricht. Technische Herausforderungen müssen gemeistert und neue Arbeitstechniken gefunden werden. Schüler sind jetzt mehr auf ihre eigene Wahrnehmung angewiesen und mehr in ihrer Eigenverantwortung gefordert. Das Verhältnis von Lehrer und Schüler verändert sich. Lernen verändert sich. Das ist großartig! Lass uns diese und viele andere Dinge nicht übergehen, sondern ganz bewusst wahrnehmen und wertschätzen. Dann ist Lernen und Entwicklung auf verschiedenen Ebenen möglich. Und davon wird dann auch unser Unterricht und unser Leben darüber hinaus in Zukunft profitieren.
Und ich möchte auch alle Kollegen und auch Schüler dazu ermutigen, sich jetzt auf ihre eigenen, wirklichen Bedürfnisse zu besinnen und diese auch zu kommunizieren. Was brauche ich jetzt? Brauche ich eine kleine Abwechslung im Alltag? Brauche ich emotionale Begleitung? Stimmliche Beratung? Konkrete Übungen? Was für Umstände brauche ich, um mich gut und sicher zu fühlen und das, was ich tue, als sinnvoll und bereichernd zu erleben?
Und für alle Kollegen: Was ist das, was ich jetzt zu geben habe? Was macht mich und meinen Unterricht aus? Wo kann ich Räume schaffen, die meinen Schülern wirklich dienlich sind? Lasst uns da mutig sein und auch mal über den Tellerrand des bisher Bekannten hinaus denken.
Ich selber merke auf jeden Fall, dass ich Zeit brauche. Zeit brauche mich zu besinnen und dann dorthin zu lauschen, wo wirkliche Antworten herkommen. In meiner Arbeit und in meinem Leben ist es schon lange und immer wieder Thema, die Dinge nicht auf der Oberfläche abzuhandeln. Erlebnisse, die mich und auch meine Schüler und Kursteilnehmer auf tieferen Ebenen berühren, werden immer wichtiger. Solche Erlebnisse eröffnen uns einen inneren Zugang zu dem Teil in uns, der unerschütterlich ist.
Durch keine Krankheit, keine Krise, keine Ängste werden wir an diesem Ort verunsichert. Hier sind wir ganz wir selber und dort schlummert unser wahres Potential. Von diesem anderen Ort aus zu handeln fühlt sich so anders an. Von diesem Ort aus zu singen, klingt so anders. Von diesem Ort aus seine Stimme in der Welt zu erheben, ist mutig und mühelos zugleich. Konkurrenz spielt keine Rolle mehr und es gibt keine verpassten Gelegenheiten.
Dieses Handeln ist das, was die Welt jetzt gerade braucht. Sind wir innerlich mit unserer Essenz verbunden, ist respektvolles, menschliches Handeln keine Frage. Neue innovative Ideen können daraus erwachsen und jeder Einzelne kann durch seine Einzigartigkeit die Welt bereichern.
Alles hat seine Zeit, wenn wir in unserm eigenen Tempo voranschreiten. Die Welt legt gerade eine Vollbremsung hin und jeder von uns hat jetzt die Chance sich zu fragen, in welchem Tempo und wohin wir eigentlich unterwegs sind.
Nutzen wir den Moment um innezuhalten. Jetzt.
Alles Liebe wünscht
Anna Stijohann
Jeder Sänger möchte besser werden. Klar. Wir möchten mehr Freiheit gewinnen um uns auszudrücken, mehr Umfang, einen ausgewogeneren Klang, mehr Tragfähigkeit entwickeln usw. Aber woher nehmen wir die Motivation für unseren Drang zu lernen und uns zu verbessern? Folgen wir wirklich einem eigenen inneren Bedürfnis oder messen wir uns am Außen? Möchten wir unser eigenes Potential entfalten und es zu unserer eigenen Freude nutzen oder denken wir, wir müssten uns optimieren um unsern eigenen Ansprüchen oder denen der anderen gerecht zu werden?
Seit einiger Zeit biete ich einen Onlinekurs an. Neben spielerischen Körper- und Stimmübungen geht es in diesem Kurs auch immer wieder um die eigene innere Einstellung zu unserer Stimme, zu unserem Singen und auch zum Üben. Im Gespräch mit einer Teilnehmerin kam das Thema auf den Begriff „Selbstoptimierungswahn“. Aufhänger für den Austausch war eine kleine, leichte Übung, die in den Teilnehmern vor allem Freude und Neugier ausgelöst hatte. Als nun die Frage kam, wie denn jetzt konkret die eigene Stimme davon profitieren könnte, sagte ich soetwas wie: „Du kannst das dann zum Singen benutzen. Du wendest es auf ein Stück oder eine Phrase an und dann schaust Du, was mit Deinem Singen passiert.“
Eine andere Teilnehmerin widersprach dem vehement. „Das hat mir so große Freude gemacht. Ich möchte das gar nicht „benutzen“. Ich möchte das gar nicht als „Übung sehen“. Das, was ich da erlebt habe, ist mir viel zu wichtig, als dass ich es nutzen wollen würde. Das fällt für mich unter „Selbstoptimierungwahn“.“ Zugegeben, diese Teilnehmerin ist keine Sängerin und ist nicht darauf angewiesen, dass man sich manchmal einfach durch die Anwendung von Handwerkszeug in einen anderen Zustand bringen muss, weil man z.B. ein Konzert hat. Aber ihr Einwand hat in mir noch lange nachgewirkt.
In vielen verschiedenen Zusammenhängen begegnet es mir, dass Menschen meinen, sie müssten sich selbst verbessern. Unsere ganze Welt suggeriert uns das. Wir sollen schöner, schlanker, selbstbewusster, erleuchteter oder erfolgreicher werden. Überall tun sich Möglichkeiten auf, wie wir an uns selber arbeiten können und dabei stellt sich mir vor allem eine Frage. Warum tun wir das?
Ja, es ist sicher erstrebenswert, an sich zu arbeiten. Natürlich macht es Sinn, zu Üben um freier zu singen. Aber was ist meine Motivation dahinter?
Für mich gibt es zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Nämlich erstens: Ich tue das, weil ich mich unzulänglich fühle. Weil ich finde, ich müsste etwas an mir verbessern. Die Grundstimmung dieser Motivation ist immer der Mangel. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, an sich arbeiten zu müssen, kann ein starker Antrieb sein. Aber in den seltensten Fällen kommen wir jemals auf ein Level, das uns zufriedenstellt. Wir werden – solange Mangel unser Grundgefühl ist – immer etwas finden, was noch verbessert werden sollte. Werden immer noch etwas finden, mit dem wir nicht zufrieden sind, werden immer einen Kollegen finden, der die Dinge noch besser kann. An dieser Stelle halte ich den Begriff Selbstoptimierungswahn für sehr passend.
Und was ist die andere Antwort? Der Motor für unser Lernen ist der Wunsch nach freiem Ausdruck, nach Freiheit im Allgemeinen und vor allem die Freude am Tun. Dieser Aspekt ist in unserer Gesellschaft bisher noch kaum akzeptiert und viel zu selten erlauben wir uns, diese Art der Motivation als unsere Triebfeder zu nutzen. Wenn wir unserer inneren Freude folgen, sind wir in einem ganz anderen Zustand, als wenn wir uns mangelhaft fühlen. Wir brauchen uns nicht permanent selbst kritisieren.
Natürlich hat jeder von uns ungenutztes Potential. Aber wenn wir der Freude und unserer persönlichen Neugier folgen, werden wir uns nicht bestrafen, sondern mutig und motivert vorangehen. Das ist für mich eine völlig andere Spur.
Und dann machen wir eine Übung auch aus ganz anderen Gründen, als wenn wir uns vor allem auf die Lösung eines Problems konzentrieren. Wir forschen, wir erleben, wir experimentieren offen mit unserer Stimme. Und ich finde es dann mehr als legitim, den Brückenschlag zwischen einer spielerischen Übung und einer „ernsthaften“ Singsituation zu versuchen. Vielleicht hat mir die Übung oder die Improvisation einfach unglaublich viel Freude bereitet. Freude, die mir bisher beim Singen fern ist. Vielleicht bin ich einfach gerne in diesem Zustand der spielerisch-leichten Stimmbenutzung. Und mein innerster Wunsch ist es, diese Freiheit, dieses Glück auch beim Singen von Literatur zu empfinden. Dann sehe ich das Ganze ganz und gar nicht als Selbstoptimierungswahn.
Jeder von uns möchte sein Potential entfalten. Jeder sehnt sich danach, sich in seiner vollen Größe zu zeigen. Die Frage ist immer, ob ich das tun möchte, weil ich mich eigentlich mangelhaft und klein fühle oder weil ich eine Begeisterung für etwas empfinde. Weil die Welt das von mir erwartet oder weil ich diese Größe in mir schon erahne und ich es kaum erwarten kann, das was in mir ist, nach Außen zu bringen.
Ist das nicht reine Gedankenspielerei? Ja, vielleicht. Aber in mir und in vielen Menschen, mit denen ich arbeite, macht das definitiv einen großen Unterschied.
Der ein oder andere wird jetzt fragen: „Wie kann das denn in der Praxis aussehen? „Ich kann doch nicht immer nur meiner inneren Freude folgen? Wo führt das denn hin? Wenn ich etwas nicht kann, muss ich das doch üben? Wenn mein Lehrer oder mein Chorleiter mir sagt, ich solle das beim nächsten Mal endlich auswendig können, muss ich doch diszipliniert sein und an mir arbeiten? Oder?
Ja und nein. Die Neurowissenschaft weiß längst, dass wir schneller, effektiver und nachhaltiger lernen, wenn wir eine innere Motivation haben. Kinder lernen bevor sie in die Schule kommen fast nur so. Und ich möchte sagen, es funktioniert.
Und auf jeden Fall kommt es auf einen Versuch an. Natürlich ertappe ich mich selbst auch immer wieder dabei, dass ich bei mir oder meinen Schülern oder Studenten ein Problem erkenne und es am liebsten sofort „beseitigen“ möchte. Der Stimmschluss ist nicht gut, der Atem schiebt, die Töne sind intonatorisch nicht sauber. Klar. Das kennt jeder Gesangspädagoge und jeder Chorleiter. Und es ist ganz sicher gut und wichtig, die Probleme zu erkennen und eine Lösung im Hinterkopf zu haben. Aber ich kann aus Erfahrung sagen, die Lösung des Problems wird nur auf fruchtbaren Boden fallen, wenn wir an ein inneres Bedürfnis des Lernenden anknüpfen können.
Wenn wir dem Schüler durch eine Übung zeigen können, wie leicht sich singen anfühlen kann (und dazu kann z.B. auch ein verbesserter Stimmschluss gehören), dann wird er in seine Freude und Neugier gelockt. Dann wird er im besten Fall beginnen, sich selber weiter auf die Suche zu machen. Und manchmal führt diese Suche ganz und gar nicht zu dem Ziel, das wir als nächstes anvisiert haben, sondern ganz woanders hin. Auch wenn mich das im Unterrichten immer wieder einen kurzen Moment irritiert, habe ich doch über die Zeit gelernt, wie sehr es sich lohnt. Und ich glaube ganz fest daran, dass sich nur auf diesem Wege wirklich das stimmliche, musikalische und menschliche Potential eines Sängers entfalten kann.
Als ich vor ein paar Tagen mit einem befreundeten Pianist darüber sprach und ihm erklärte, wie mein Unterrichten funktioniert und warum ich glaube, dass es ein Umdenken in der Gesangs-, Instrumental-, Musik-, und allgemeinen Pädagogik geben muss, brachte er noch einen ganz wichtigen weiteren Gedanken an. Er sagte: „Aber, dann musst Du den Leuten ja erlauben Fehler zu machen. Das will keine Hochschule. Das will kein Profi.“
Ja, genau! Genau das ist es. Das versuchen die meisten von uns mit allen Mitteln zu vermeiden. Da hat der Kollege wahre Worte gesprochen.
Solange wir uns im Mangeldenken befinden, sind Fehler gefährlich. Fehler gefährden unser wackliges Selbstbewusstsein und verdeutlichen uns ein weiteres Mal, dass wir mangelhaft und unzureichend sind. Aber wenn wir uns nicht gestatten „Fehler zu machen“ oder nennen wir es mal „unerwartete und zunächst augenscheinlich nicht zielführende Ereignisse“ zuzulassen, werden wir uns nicht wirklich weiterentwickeln. Wir werden vielleicht besser im Vermeiden von Fehlern, aber wir werden nicht unser ganzes Potential ausschöpfen.
Erst wenn wir aus dem Mangeldenken aussteigen und nicht mehr aus einem Selbstoptimierungswahn heraus beginnen zu üben und voranzugehen, sondern aus Begeisterung, Neugier und Freude, können wir jede Erfahrung nutzen und uns von unserer Entdeckerlust leiten lassen. Und dann werden wir lernen. Es geht gar nicht anders.
Erst wenn wir von einem echten, großen (oder auch kleinen) inneren Bedürnis angetrieben werden, geschieht wirklich Wachstum. Wachstum ist etwas anderes als Optimierung. Etwas ganz anderes.
Ich wünsche eine Zeit voll freudiger unvorhergesehener Ereignisse
Anna Stijohann
Nach der letzten Körperklangstunde kam eine meiner Schülerinnen, die noch eher am Anfang ihrer Stimmreise steht, zu mir und sagte, dass sie selten so intensive Stille erlebt hätte. Die Stille am Ende der Abschlussimprovisation habe sie als „viel tiefer“ erlebt als „normale“ Stille. Das klänge vielleicht seltsam, aber ihr sei richtig bewusst geworden, wie viele unterschiedliche Qualitäten von Stille es gibt.
Wie ist es, wenn es still ist? Die meisten von uns würden Stille vor allem als die Abwesenheit von Geräuschen beschreiben. Kein Lärm, kein Singen, keine Schritte, kein Martinshorn, keine Gespräche. Und dennoch stimme ich meiner Schülerin voll und ganz zu. Stille kann so unterschiedlich sein. Verlegene Stille ist anders als einvernehmliche Stille. Stille nach einem Knall ist anders als Stille zwischen gelegentlichen sanften Geräuschen. Stille in der Stadt an einem Sonntagmorgen ist von anderer Qualität als Stille im Wald auf dem Land.
Ich, die ich mitten in Köln lebe und arbeite, sehne mich häufig nach äußerer Stille. So gerne ich meine Arbeit mit Menschen und Stimmen mache, so bin ich auch immer wieder froh, wenn ich zwischen den Stunden oder in der Mittagspause kurz allein und ohne Geräusche sein kann. Mein Gehirn, mein Nervensystem und mein Körper können verschnaufen und ich lerne, dieses kostbare Auftanken immer mehr wertzuschätzen. Die äußere Stille stoppt den permanenten Input und gibt mir kurze Momente des Innehaltens. So kann Raum entstehen für innere Stille, die die unbedingte Vorraussetzung für frohes, erfülltes und kreatives menschliches Sein ist.
Oft kommt es mir vor, als hätte ich in mir ein immer und immer dudelndes Radio. Gedanken, Eindrücke, Wort- und Gesprächsfetzen, Musik, Geräusche. Das alles tobt in meinem Kopf herum. Das ist manchmal anstrengend, aber oft auch ganz wunderbar. Ideen sprudeln, Gedanken springen, Themen kreisen, neue Verknüpfungen entstehen. Das genieße ich sehr. Und trotzdem sehne ich mich, besonders, wenn auch noch äußerer Lärm dazukommt, nach innerer Stille. Seit noch nicht gar zu langer Zeit gelingt es mir dann, mich ganz bewusst hinzusetzen und der Stille Raum zu geben. Denn eines ist sicher. Die Stille ist immer da.
Hinter allen Geräuschen, ob innerlich oder äußerlich, befindet sich immer Stille. Ich stelle es mir manchmal vor wie eine weiße Leinwand, auf der das bunte Leben tobt, die aber trotzdem hinter allem ist. Und in fast jedem Moment ist es möglich einen klitzekleinen Blick auf das Weiß des Hintergrundes zu erhaschen. Habe ich erstmal einen kleinen Zugang zur Stille gewonnen, so kann sie sich immer mehr ausbreiten und ihre wohltuende Wirkung entfalten. Denn Stille ist nährend, wie ein innerer Reset-Knopf. Aus der bewusst erlebten Stille kann dann wieder etwas entstehen. Neue Gedanken, die vielleicht einen ganz anderen Geschmack haben, als wir es gewohnt sind. Eine neue Sicht auf die Dinge des Lebens und auch neue Klänge und Töne.
Dass Pausen genauso zur Musik gehören, ist wohl jedem klar. Aber wie ist es mit der Stille am Anfang und am Ende eines Musikstücks? Im Alltag ertappe ich mich regelmäßig, dass ich z.B. in einer Chorprobe in ein Stück hinein“huddel“. Nee, das war nicht gut, gleich nochmal und los. Im nachhinein ärgere ich mich dann, weil ich genau weiß, dass es sinnvoll ist, sich erstmal zu sammeln – ich mich und die Chorsänger sich und wir uns miteinander. In der Stille ist die Konzentration gebündelt und gleichzeitig sind alle Möglichkeiten offen. Eine wunderbare Voraussetzung, damit Musik entstehen kann und auch, damit wirklich nachhaltiges Lernen passieren kann.
Sicher ist nichts dagegen einzuwenden, auch mal mit dem Flow zu gehen und z.B. im Groove einige Dinge wieder und wieder zu wiederholen. Aber wenn in einer Chorprobe oder auch im Einzelunterricht oder in meinen Kursen Raum für Stille ist, können nochmal ganz andere Dinge passieren. Ein intensives Erlebnis – sei es im Miteinander, in der Musik, in der Verbindung Körper und Stimme oder auch Ich und meine Stimme – wird durch die nachfolgende Stille deutlich und bekommt so die Aufmerksamkeit, die ein wichtiger Moment eben verdient. Im Einzelunterricht mal etwas unkommentiert und in Stille im Raum stehen zu lassen, wenn auf Schüler- und auf Lehrerseite klar ist, dass wirklich etwas in Bewegung gekommen ist, ist eine der schwersten Übungen und hat gerade deswegen eine enorme Kraft.
Leider gelingt mir das nicht immer. Zunehmend öfter zwar, aber auch das ist aus Lehrersicht, ein Lernprozess. Allzu häufig quatsche ich schon in den letzten Ton einer Übung hinein, kommentiere das Gehörte oder frage nach dem, was der Schüler erlebt hat, bevor er sein Erleben überhaupt in Ruhe abschließen konnte. Schade. Aber da bin ich sicher nicht die Einzige. Stille hat eben auch ganz viel damit zu tun, den Dingen wirklich ihren Raum zu geben. Geduld zu haben und nicht durch die Zeit zu huschen, aus Angst, man könnte vielleicht nicht alles schaffen.
Stille Momente auszuhalten ist für uns alle eine Herausforderung. Oft sprechen wir aus Verlegenheit, wo es eigentlich gar nichts zu sagen gibt. Häufig haben wir nicht das Vertrauen, die entstehende Unsicherheit zuzulassen und abzuwarten, was daraus entstehen kann. Ich versuche immer mehr, Stille als eigene Qualität zu anzuerkennen. Es geht nicht um das „Fehlen von etwas“, sondern um das, was die Stille an sich mitbringt. Stille als eine Chance zu Offenheit und Neuem. Stille als notwendige Voraussetzung für inneres Sortieren und für den Ablauf von Selbstorganisationsprozessen. Stille als Zugang zu Sammlung und Wahrnehmung im Innen und Außen. Stille als Möglichkeit der Beziehungsvertiefung. Zu sich, zum Schüler, zum Publikum, zur Musik.
Meine Studenten an der Universität Koblenz brauchen für ihre Abschlussprüfung jeweils ein unbegleitetes Volkslied. Daran mit ihnen zu arbeiten bereitet mir immer große Freude. Wenn wir ganz allein singen, ohne Begleitung, nur der Sänger, die Zuhörer und der Raum, spielt Stille eine große Rolle und kann das Gesungene völlig verändern. Ich kann mir am Ende jeder Phrase soviel Zeit lassen, wie das Lied es braucht. In diesen Pausen kann ich ganz bewusst in die Stille lauschen. Wann kommt wirklich der Impuls aus meinem Inneren weiterzusingen? Oft sind die Studenten überrascht, wie lang die Pausen sein dürfen, wieviel Genuss in der Stille steckt und wie sehr die Intensität eines Musikstückes von der bewusst erlebten Stille profitiert.
Davon abgesehen organisiert sich, wenn ich mir selbst so
viel Zeit gebe wie es braucht, auch die Atmung mühelos und organisch.
Im Laufe des Stückes kann auf diese Weise wirklich eine Dynamik entstehen.
Die Musik und die Stimme können Fahrt aufnehmen oder in Wellen kommen
und gehen und zwar ganz aus sich selbst heraus. So entstehen
Gänsehautmomente.
Ich lege meinen Studenten außerdem meist ans Herz,
das Lied und die Stille an verschiedenen Orten auszuprobieren. Im
Badezimmer, in einem Parkhaus, in einer Kirche, in freier Natur. Mit
allerhöchster Konzentration und großer Neugier auf das Nichts zwischen
den Tönen. Weil Stille überall anders klingt und das Lied und die Stimme
sich dann immer wieder von einer anderen Seite zeigen.
Manchmal braucht es ganz wenig, um wirklich ins intensive musikalische Erleben zu kommen. Manchmal sogar gar nichts.
Stille Momente im bunten Herbst wünscht
Anna Stijohann
Neulich fragte mich eine Kollegin, was eigentlich
meinen Unterricht und meine Arbeit mit Menschen und Stimmen von anderen
unterscheide. Darüber musste ich ein wenig nachdenken. Was ist mir
wichtig? Was sollen die Menschen mitnehmen, wenn sie aus meinem
Unterricht und meinen Kursen herausgehen?
Natürlich gibt es da viele
Aspekte. Aber vor allem Eines hat sich bei meinen Überlegungen
herauskristallisiert. Ich möchte, dass die Menschen tiefer gehen und
Genuss erleben. Beim Singen, Tönen, Atmen, Bewegen, Musizieren und
Mensch sein.
Klar, als Lehrer wünscht man sich vieles für seine Schüler. Dass die Stimme es leicht hat, dass das Singen immer stimmiger wird, dass Stimme und Körper immer mehr zueinander finden oder dass Klangfarben und musikalische „Manöver“ möglich werden, die vorher noch nicht drin waren. All das sind Dinge, die als Wünsche und Ziele in meiner Arbeit vorkommen. Egal ob jemand Anfänger, fortgeschritten oder Profisänger ist, für mich geht es immer um die persönliche Weiterentwicklung. Ausgehend vom Jetzt suchen wir gemeinsam etwas Neues, etwas Spannendes, Überraschendes. Und so tun wir vor allem eins. Tiefer graben. Immer wieder.
Tiefer gehen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Im großen Zusammenhang geht es meiner Meinung nach darum erfüllt zu sein, von dem was man tut. Im Singen, wie im Leben. Wir möchten gesehen werden, uns zeigen, berühren und berührt werden. Wir sind immer auf der Suche. Und es ist schön, einen Lehrer oder musikalischen Begleiter zu haben, der diesen Weg mitgeht. Jeder Mensch, jeder Sänger – ob er es zugibt oder nicht – sehnt sich danach. Jeder? Vielleicht nicht. Mancher Sänger möchte einfach nur ein bisschen „singen“. Oder ein bisschen „schöner singen“. Oder ein bisschen „lauter singen“. Das ist absolut legitim, aber mir macht es am allermeisten Spaß, wenn meine Schüler ihre innere Forschungslust entdecken.
Dabei ist es völlig unerheblich, auf welchem Level jemand gerade arbeitet. Es gibt Anfänger, die neugierig und offen jedes Stimm- und Körpererlebnis wie ein Weltereignis feiern und es gibt Profis, die zwar sagen, dass sie sich verändern möchten, aber eigentlich viel zu große Angst haben, etwas wirklich Neues zu wagen. Nein – ich sage das nochmal – das kann man sicher niemandem verübeln, aber je tiefer ich grabe, desto tiefer wird auch mein Erleben. Desto mehr Genuss stellt sich ein, desto intensiver gehe ich in Kontakt mit mir selbst, mit meiner Stimme, mit meinen Mitmusikern. Intensität bringt immer einen höheren Wert mit sich. Für den, der es tut und für den, der das Glück hat, zuzuhören oder zuzuschauen.
Ich war schon immer auf der Suche nach der Intensität. Vielleicht liegt es daran, dass mich nie jemand für besonders begabt oder talentiert gehalten hat, aber genau deswegen hatte ich immer ein großes inneres Bedürfnis, wirklich aus mir selbst heraus zu singen und zu klingen. Ich wollte keine Tricks damit es endlich „funktioniert“ (na gut, ich geb’s zu, ab und an schon ;-)), sondern ich wollte das, was ich tue, wirklich durchdringen. Zu meinem Eigenen machen. Mit meiner eigenen Stimme singen, genau hinspüren und nicht nur oberflächlich wissen, was ich tue, sondern durch und durch erleben und genießen. Das war und ist sicher nicht der leichteste und schnellste Weg zum Sängerglück, aber für mich persönlich der einzig mögliche.
Auf meiner Reise haben mich stets diejenigen Lehrer und Künstler fasziniert, die ihren ganz eigenen Zugang zu dem, was sie tun, gefunden haben. Egal ob es um emotionale Tiefe ging, intensives Körpererleben, musikalische Detailarbeit oder die Leidenschaften eines Anatomiefreaks – ich wollte nie einfach nur schön singen. Und ich hoffe sehr, dass ich meine Schüler und Studenten und auch die Menschen in den Chören mit denen ich regelmäßig oder unregelmäßig arbeite, ein bisschen mit meiner Begeisterung anstecken kann. Da halte ich es mit dem Singen, wie mit einem guten Essen. Es kann so viel mehr sein, als nur Mittel zum Zweck.
Wie kann Lernen, das tiefer geht, nun beim Singen und allgemeiner in der Arbeit mit der Stimme konkret aussehen? In jedem Fall bedeutet es, sich selbst und sein Instrument immer besser und genauer kennen zu lernen. Das Schulen der Eigenwahrnehmung (Propriozeption und Interozeption) durch Körperarbeit ist für mich elementar. Es gilt genau hinzuspüren in Muskeln, Knochen und Faszien, Resonanz bewusst zu erleben und Vibrationen wahrzunehmen. Darüber hinaus ist es wichtig immer wieder zu schauen: Was macht das mit mir? Wo und auf welche Weise berührt mich etwas, wo sind Widerstände, wo kommt etwas ins Fließen?
Auch die Verknüpfung von rationalem Wissen und praktischem Tun schafft Tiefe und Verständnis. Das kann auf körperlich-funktionaler, aber z.B. auch auf musikalischer Ebene sein. Rhythmus körperlich zu erleben (z.B. wie fühlt sich eine Synkope körperlich an?) ist nur ein Beispiel dafür. Stimmliche Tiefen auszuloten kann auch bedeuten, sich mit Klängen auseinander zu setzen, die uns erstmal fremd sind. Tierische Laute, brummen, summen, quietschen und krächzen sprengen allzu enge stimmliche Grenzen und öffnen auch für die „schöne Stimme“ neue Türen.
Auch für die Interpretation von Stücken, können Schüler hier profitieren. Muss es immer schön sein? Was erzählt mir ein Lied wirklich? Wo gibt es ganz persönliche Berührungspunkte? Wo bin ich berührt, wo scheue ich mich, wo erlaube ich mir echten Genuss? Sich einen Song wirklich zueigen zu machen, ermöglicht nicht nur tiefere Einsichten in die Musik an sich, sondern manchmal auch in die eigenen menschlichen Tiefen und Abgründe. Im Zusammenklang mit anderen, z.B. im Chor oder im Ensemble, ist es sinnvoll Akkorde und Klänge wirklich auszukosten und ästhetisch zu durchdringen. Wo bin ich, wo sind die anderen, in welcher Beziehung stehen unsere Stimmen?
Um das persönliche Verständnis auf möglichst vielen Ebenen zu vertiefen, halte ich eine Kombination aus Einzelarbeit mit einem Lehrer und Gruppenarbeit ideal. Im Einzelunterricht kann der Lehrer ganz auf meine Bedürfnisse eingehen. Mir Mut machen, wenn mir das Neue noch zu fremd ist und mich bestärken, dass ich auf dem richtige Weg bin. In der Gruppe kann ich von Anderen lernen, mich im Schutz der Gruppe aufgehoben fühlen und Klänge und Musik erleben, die allein nicht möglich sind. Hinzu kommt darüber hinaus natürlich noch das eigene Forschen im stillen Kämmerlein oder im Alltag.
Insgesamt möchte ich betonen, dass jeder Suchende die Zusammenhänge, die ihn interessieren und die individuellen Wege zum Ziel selber herausfinden muss. Tiefe kann man sich nicht abschauen, nicht erlernen. Nur entdecken. Neulich kam eine Schülerin, die noch relativ am Anfang steht, in meinen Unterricht und verkündete mir, dass sie fortan nur vierzehntägig statt wöchentlich kommen wolle. Sie bräuchte mehr Zeit um das Gelernte und Erlebte zu integrieren. Ja! Genau! Super! Da jubelt mein Forscherherz 🙂
Zeit spielt auf dem Weg zu stimmlicher Tiefe und tiefgreifendem Verständnis eine wesentliche Rolle. Ich merke, dass ich in meinen Kursen immer langsamer werde. Immer weniger Inhalte „schaffe“. Manchmal nur die Hälfte dessen, was ich mir zurechtgelegt hatte. Wenn es so kommt, liegt das meist daran, dass die Gruppe wirklich Lust hatte, sich auf die Übungen einzulassen und intensiv zu spüren, zu schmecken und zu erleben. Früher hatte ich dann manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, dass die Menschen dann vielleicht „nicht genug mitnehmen“, aber mittlerweile sehe und erlebe ich es anders. Sich die Zeit und den Raum für die Dinge zu nehmen, die sie wirklich brauchen, ermöglicht ganz andere Einsichten. Auch der Kontakt untereinander bekommen eine andere Qualität. Erkenntnisse und Lernerfolge speichern sich innerlich ganz anders ab. Das Gespräch bei der gemeinsamen Tasse Tee bringt manches Mal Überraschendes und Wertvolles ans Licht. Auch wenn die Zeit dafür „von der Unterrichtszeit abgeht“.
Tiefe entsteht nach meiner Erfahrung im Wesentlichen auf zwei Arten. Zum einen gibt es die Aha-Erlebnisse. Ist der Raum und die Zeit da, können sich (z.B. durch die bipolare Atemarbeit) überraschende Momente ergeben, in denen der Schüler etwas so einprägsames erlebt, dass hinterher nichts mehr sein wird wie früher. So ging es mir z.B. bei meinem ersten Kurs mit Renate Schulze-Schindler. „Ach krass. Das bin ich. So klingt meine Stimme. Das ist das, wonach ich immer gesucht habe…“ Manchmal sind diese Wendepunkte groß und gewichtig, manchmal klein und subtil, dadurch aber nicht unbedingt weniger bedeutsam.
Manchmal ist es aber auch der Alltag, das achtsame Üben und das Immer-und-immer-wieder-Tun, das neue Tiefen und Einsichten ermöglicht. Wenn ich Tag für Tag das Gleiche tue (z.B. die gleichen Übungen) und es schaffe, immer wieder neugierig zu bleiben, kristallisiert sich eine immer klarere Form dessen was ich tue, heraus. Mit diesem „Anfängergeist“ kann ich die gleiche Situation immer wieder aus einer neuen Perspektive sehen und erleben. Das bringt Genuss schon beim Tun, aber auch immer wieder eine neue Tiefe in dem, was ich übe.
Ob ich offen für Neues bin und bleiben kann, ist vor allem eine Einstellungssache. Kann ich auch bei der hundertsten Vorstellung des gleichen Stücks noch die kleinen Veränderungen wahrnehmen? Kann ich immer wieder Überraschendes sehen? Das ist ein bisschen wie eine Brille mit einer speziellen Vergrößerung. Manchmal kann es da helfen, sich selbst jedes Mal wieder eine neue Aufgabe zu stellen. Eine Forschungsfrage, an der ich mich dann entlanghangeln kann und die mir hilft, wach zu bleiben. Eine Perspektive, aus der ich noch nie geschaut habe. Eine Erfahrungsebene, die mir sonst vielleicht gar nicht bewusst ist.
Insgesamt braucht das Graben in der Tiefe immer eine gute Portion Mut. Niemals weiß ich, was ich dort vorfinde. Gefällt es mir? Macht es mir Angst? Erschüttert es mein bisheriges (sängerisches) Welt- und Selbstbild? Aber ohne den Mut zur Verletzlichkeit bleiben wir immer unter unseren eigentlichen Möglichkeiten. Ja, wir sehnen uns nach Echtheit und danach unseren eigenen Weg zu gehen, egal was die anderen denken oder sagen. Aber damit ist auch immer das Risiko verbunden, dass wir abgelehnt oder belächelt werden. Der Spagat zwischen dem „Eigenen“ und dem „Dazugehören“ ist nicht immer leicht. Es braucht viel Vertrauen und ein starkes inneres Gefühl von Sicherheit um sich zu trauen, die eigenen Grenzen zu erweitern und sein volles Potential auszuschöpfen.
Aber je tiefer wir graben, desto mehr von uns selbst zeigt sich. Je feiner wir unsere Stimme und unseren Körper wahrnehmen, desto mehr von uns kann ins Schwingen kommen. Je mehr wir werden, wer wir eigentlich sind, je mehr wir uns erlauben so zu klingen wie wir eben klingen, desto größer zeigt sich unsere innere Stärke und auch unsere stimmliche Ausdruckskraft.
Genussvolle Spatenstiche Richtung Innenwelt wünscht,
Anna
P.S. Eine Möglichkeit mit der eigenen Stimme in die Tiefe zu gehen, ist die STIMMSINN-Jahresgruppe. Im letzten Jahr durfte ich zum ersten Mal vier Menschen über insgesamt 11 Monate begleiten und ich fand es ganz wunderbar! Einzelunterricht und Gruppenworkshops, viele verschiedene Themen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln – alle Höhen und Tiefen der STIMMSINN-Palette. Ab Januar 2020 startet ein neue Jahresgruppe. Es gibt noch 2 freie Plätze!
Im Februar und März diesen Jahres habe ich eine umfangreiche Fortbildung bei Prof. Kenneth Posey (UDK Berlin) absolviert und diese mit dem Zertifikat als syng:TRAINER abgeschlossen. Von meinen Erfahrungen mit der syng:TRAINING Methode während der Weiterbildung und den Erlebnissen mit Schülern in den darauf folgenden Wochen möchte ich in diesem Blog-Artikel berichten.
Vor etwa zehn Jahren lernte ich Kenneth Posey auf einer Profimasterclass-Woche in Berlin kennen. Da ich noch andere Verpflichtungen in der Uni hatte, stieß ich erst am zweiten Tag des Workshops hinzu und hatte damit die Aufteilung der Solo- und Ensemblestücke für die geplante Abschlussshow verpasst bzw. hatte nur einen kleinen Part zugewiesen bekommen. Als kleine „Entschädigung“ bot Prof. Posey mir an, in seinem Unterricht zu hospitieren und so seine Arbeit mit den Kollegen zu erleben. Der von Ken angestrebte Klang der Stimmen hatte wenig mit dem gängigen „leicht quäkigen“ Musicalsound zu tun, mit dem ich nie so richtig warm geworden war. Die Menschen klangen wie Menschen. Das gefiel mir und so bin ich nach langem hin und her und verschiedenen Begegnungen mit Kenneth schließlich in seinem Programm syng:TRAINING gelandet.
Das von Kenneth Posey über Jahre entwickelte syng:TRAINING ist ein funktionales Stimmbildungskonzept. Sehr spezifische Klänge dienen der Aktivierung bestimmter Muskelaktivitäten und Resonanzräume und fördern gleichzeitig eine Genauigkeit bei der Atemführung: jeder Klang hat eine ganz eigene Zusammensetzung von Muskeln, Raum und Atem. Ziel ist die verbesserte Koordination und Kräftigung der Stimmmuskulatur, die nicht ausschließlich, aber doch schwerpunktmäßig auf die stimmlichen Anforderungen im Musical- und Popgesang ausgerichtet ist. Hier geht es – anders als im klassischen Gesang – nicht darum einen perfekt ausbalancierten Klang, der sich durch alle Lagen hindurch einheitlich und verbunden zeigt, zu finden, sondern eine breite, flexible Palette an sehr unterschiedlich gearteten, gesund erzeugten Klängen und Stimmnutzungen zur Verfügung zu haben und sich durch diese auszudrücken (vgl. Singen ist Singen).
Es gibt im syng:TRAINING fünf sogenannten „Basisvokale“. Diese werden nur in sehr eingegrenzten Bereichen des Stimmumfangs geübt. So wird die ideale Ansprache der jeweiligen Muskulatur, des zugehörigen Resonanzraumes und der passenden Atemführung gewährleistet. Nach dem Erlernen und Verfeinern der Basisvokale (Isolation) werden diese gegenübergestellt und in verschiedenen Übungsfolgen abgewechselt. So entsteht eine Alternation zwischen verschiedenen Stimmmuskelnutzungen, Resonanzräumen und Atemführungen. Das Wechseltraining wird dann erweitert, bis zwischen drei oder mehr Basisklängen auf einem immer größer werdenden Stimmumfang (auch registerübergreifend) im Wechsel trainiert wird (Integration). Im Anschluss an dieses allgemeine Training folgt ein nutzungsspezifisches Stimmtraining mit zusätzlichen Übungen, welche die jeweilige Stimmnutzung (z.B. Belting, Mix usw.) aufbauen und unterstützen.
Der Dreh- und Angelpunkt des syng:TRAININGs sind die Basisklänge. Dabei handelt es sich nicht um Vokale, die auf genau diese Weise auch im „richtigen Singen“ verwendet werden, sondern, wie oben beschrieben, um Übungsklänge. Das Erlernen dieser Basisklänge hat mich sehr herausgefordert. Vor allem das Basis [i:] konnte ich zu Beginn der Fortbildung weder selber herstellen noch konnte ich genau hören, wie es klingen soll. Das hat mich ziemlich verwirrt und gestresst. Die Sichtweise des syng:TRAINING ist so anders, als mein eigenes sängerisches Weltbild, dass es mir zunächst sehr schwer gefallen ist, an irgendetwas anzuknüpfen, was mir bekannt war.
Irgendwann hat es dann doch geklappt mit dem Basis
[i:]
und ich hatte das große Glück, dass meine Schüler experimentierfreudig genug waren, um mit mir auf die Reise zu gehen, auch wenn ich selber noch nicht sicher war, wohin es geht (vgl. Singenlernen ist nicht linear). Meine Sichtweise bisher war vor allem ganzkörperlich geprägt, mit einer soliden funktionalen Basis. Da kenne ich mich aus, da kann ich meine Schüler mitnehmen und anleiten. Nun kamen neue Begriffe, Ziele und Aufgaben hinzu, die mir nicht in jeder Hinsicht mit meinen sonstigen Aktivitäten kompatibel erschienen und die mir teilweise noch bis zum heutigen Tag leicht unklar sind.
Als gestandener Gesangspädagoge ist es immer gefährlich etwas Neues zu lernen (vgl. Über den Tellerrand). Denn jedes Mal muss ich auch mein bisheriges Wirken hinterfragen und werde auf Dinge gestoßen, die ich (noch) nicht beherrsche. So ging es mir in diesem Falle auch. Die funktionale Denkweise ist mir nicht fremd, aber z.B. die bewusste Registerunterscheidung habe ich eigentlich immer vermieden, um nicht dort eine Trennung zu schaffen, wo diese vielleicht gar nicht notwendig ist (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?). Im syng:TRAINING ist aber eben diese elementar, denn es geht um das ständige Hin- und Herwechseln zwischen Resonanzräumen, Registern, Atemführungen – vorne, hinten, unten, oben, brustig, kopfig, fließender Atem, zurückgehaltener Atem – um stimmliche und körperliche Flexibilität zu fördern. Die Trennung beim Üben ist also – das leuchtet mir ein und ich habe es ja auch selber deutlich erlebt – wichtig, um die Wahrnehmung für gesunde Stimmnutzungen zu schärfen. (vgl. Und wo singst Du so?)
Dennoch grüble und forsche ich immer noch täglich, wo es unabdingbar und sinnvoll ist, wo es Dinge erleichtert und wo ich vielleicht doch für mich persönlich einen anderen Weg finden muss bzw. kann.
Neben der Verwirrung durch Neues und Unbekanntes, konnte ich mir aber in mancher Hinsicht mehr Überblick verschaffen. Wenn es um ganz bestimmte Klänge geht, ist es sehr hilfreich, deren genaue Muskelaktivitäten, Raumnutzungen und den Atembedarf zu kennen. Grundsätze wie: Je „fetter ein Klang, desto zurückgehaltener muss der Atem sein“ oder „Beltklänge gehören nur in die Lage oberhalb der Sprechlage, ansonsten ist ein Brustmix ökonomischer“ helfen mir beim Unterrichten sehr. So kann ich einigen Schülern auf ganz neue Weise einen Zugang zu bestimmten Klängen verschaffen. Jeder Mensch lernt anders und – das ist mir durch die syng:TRAINING Fortbildung einmal mehr klar geworden – manche Dinge, die mir helfen, helfen jemand anderem nicht und umgekehrt. Da ist es gut einmal in eine andere Haut zu schlüpfen, andere Worte, einen anderen Fokus zu probieren und so seinen Horizont zu erweitern. Manche Klänge und Stimmphänomene, die sich für mich vor allem aus dem Moment heraus und durch intensive Körper- oder Emotionsarbeit ergeben, kann ich nun konkreter beschreiben und einem Schüler somit auf eine weitere Weise „servieren“.
Insgesamt habe ich mich bemüht, immer dort anzuknüpfen, wo ich auf Vertrautes zurückgreifen kann (vgl. In Ähnlichkeiten denken). Nur so sehe ich eine Chance, das syng:TRAINING Programm wirklich zu meinem eigenen zu machen und ich bin davon überzeugt, dass ich es nur dann wirklich gut unterrichten und weitergeben kann. Dabei haben sich einige Punkte als gut geeignet herausgestellt. Die Arbeit mit den Gesangsformanten (GF) (vgl. Das magische Knistern) spielt auch im syng:TRAINING eine zentrale Rolle. Die optimalen Klangeigenschaften eines Basisklangs werden u.a. durch Formanttuning erreicht. Wird das im Klang hörbar, was ich in meinem Unterricht meist schlicht „das Knistern“ nenne (Obertöne im Bereich von rund 3000 HZ), wissen wir, dass die Basisklänge an der richtigen „Stelle sitzen“.
Der Effekt der Selbstorganisation durch die GF wurde zwar nicht direkt angesprochen, aber ich bin mir sicher, dass die Arbeit mit den Basisklängen auch aus diesem Grund so wirkungsvoll ist.
Was mir außerdem am syng:TRAINING gut gefällt, ist die Tatsache, dass der Stimme durch das Training alle Bausteine angeboten werden, die dafür sorgen, dass man sich hinterher beim Singen um nichts mehr sorgen muss. Die Stimme organisiert und koordiniert sich von selbst. Die Klänge und vor allem das abwechselnde Üben der Klänge sind sehr dynamisch und erinnern mich stark an meine Erfahrungen mit verschiedenen Faszienübungen (vgl. Klangkörper). Nicht nur auf stimmlicher Ebene, sondern auch in Bezug auf die Muskulatur des Ansatzrohres und auch des Atems, geht es ums Dehnen, Kneten, Zugreifen, Spannen und Lösen. Da kam mir manches Mal der Gedanke, dass die syng:TRAINING Übungen auch deshalb so gut greifen, weil es sich um Faszientraining für viele verschiedene an der Stimmgebung beteiligte Elemente handelt. Diesen Zusammenhängen werde ich in jedem Fall weiter nach-forschen und nach-spüren.
Eine leichte Gefahr sehe ich darin, dass besonders ehrgeizige Schüler möglicherweise „zu aktiv“ üben. Diesem Fehler bin ich in den ersten Wochen meiner Fortbildung definitiv aufgesessen. Ich wollte die Klänge unbedingt richtig machen und habe manches Mal manipulierend eingegriffen, wo weniger mehr gewesen wäre (vgl. Kontakt). Ein Grund dafür war möglicherweise, dass die Sprache im Kurs für meinen Geschmack teilweise etwas „zu konkret“ war. (vgl. Wie sag ich’s meinem Schüler?). Solange ich noch kein klares Körpergefühl für manche Dinge hatte und mich vor allem an den verbalen Anweisungen (jede Methode hat ja ihre ganz eigene Sprache, ihre Vokabeln und ihre sprachliche Grundstimmung, in die man sich erstmal einfühlen muss) entlanggehangelt habe, hat das bei mir beim selbstständigen Üben manches Mal zu Überspannungen geführt. In der eins zu eins Arbeit mit Kenneth Posey war das jedoch keineswegs der Fall. In den Momenten, in denen ich unterrichtet wurde, hat sich stets alles leicht und total richtig angefühlt. Durch seine ein- und mitfühlende Anleitung konnte ich dann manche Worte und Anweisungen in Körpergefühl oder andere Wahrnehmungen übersetzen und somit tiefer und nachhaltiger verstehen.
Was mir persönlich im syng:TRAINING fehlt, ist der ganzkörperliche Aspekt. Die körperliche Unterstützung des Singens wird zwar durch das spezielle Design der Klänge und der Übungen immer wieder geübt, meine Auffassung von körperlichem Singen geht jedoch weit darüber hinaus. Für mich ist der gesamte Körper vom Scheitel bis zur Fußsohle mit all seinen Muskeln, Knochen, Faszien, Organen, Nerven, Zellen, Zwischenräumen und vor allem auch durch die Beziehung all dieser Teile untereinander, am Vorgang des Singens beteiligt (vgl. Klangkörper). Meine, im Wesentlichen durch die natural voice – Arbeit gewonnenen, Erfahrungen bzgl. des Atems reichen ebenfalls über die konkrete „Atemsteuerung“ hinaus. Atem ist in meiner Welt nicht nur die fürs Singen unerlässliche Antriebskraft, ohne die keine Tongebung möglich wäre, sondern berührt viel tiefer alle unsere menschlichen Ebenen – körperlich, emotional, energetisch, spirituell.(vgl. Sehnsucht nach der sängerischen Freiheit)
Als ganzheitlich-körperlich arbeitende Lehrerin kann und werde ich in jedem Falle Wege suchen und finden das syng:TRAINING Konzept durch diese Aspekte zu ergänzen und so noch umfassender machen.
Die syng:TRAINING Übungen eignen sich im Grunde für jeden, der Lust hat, sich intensiv mit der Funktionsweise seiner Stimme auseinander zu setzen. Wer Lust an einem klaren Übungsprogramm mit überschaubaren Grundsätzen hat, ist hier genau richtig. Wie bei einem „Balletttraining“ wird der Stimmapparat bis ins Detail auf die anstehenden Aufgaben (Das Tanzen! :-)) vorbereitet. Der klare Ablauf sorgt für Sicherheit und wenn die Basisklänge einmal klar sind, kann in relativ kurzer Zeit sehr effektiv geübt werden.(vgl. Übungen machen den Meister)
Besonders geeignet ist das syng:TRAINING für Menschen, die sich speziell im Bereich Musical und Pop (vor allem Belting, aber auch Mix) stimmlich weiterentwickeln möchten. Der durch das Grundlagentraining entstehende Stimmklang ist jedoch erstmal nicht genregebunden und ich persönlich konnte neben dem Belten vor allem in der Höhe sehr profitieren.
Ganz sicher wird meine STIMMSINN-Arbeit durch einige Aspekte des syng:TRAINING bereichert. Besonders die konkrete Arbeit mit den Resonanzräumen im Kopf war für mein eigenes Singen, aber auch in der bisherigen Arbeit mit meinen Schülern und Studenten in den vergangenen zwei Monaten sehr erkenntnisreich. Vor allem das Ausloten der hinteren Räume macht mir viel Freude und erweitert meine eigene Klangpalette und die meiner Schüler enorm. Auch im Chor habe ich durch das erlebende Herumprobieren mit diesen Räumen der ein oder anderen Stimme mehr Spielraum ermöglichen können. Insgesamt kann ich sagen, dass sich meine Hörwahrnehmung in Bezug auf die Stimm- und Resonanznutzung verfeinert hat. Mein Bestreben, Stimmbildung vor allem erlebend und nicht manipulierend anzubieten, wird durch das syng:TRAINING herausgefordert, aber ich bin sehr positiv, dass auch das möglich ist. Das nötige „richtig und falsch“ in Bezug auf die Basisklänge kann ich gut akzeptieren, weil es sich eben auf bestimmte Übungsklänge bezieht. Das Singen bleibt nach wie vor eine höchst individuelle Angelegenheit.
Wie sich alles weiterentwickelt, wird die Zeit zeigen. Ich bin und bleibe neugierig, wie und wohin sich STIMMSINN und syng:TRAINING in der Zukunft weiter entwickeln.
Ich wünsche viel Wissens- und Singdrang – mit oder ohne syng:TRAINING 🙂
Anna Stijohann